Zeitenwende auf Evangelisch
Offiziell der Öffentlichkeit präsentiert wird die neue EKD-Friedensdenkschrift erst auf der Synodaltagung in Dresden. Doch schon jetzt ist klar, dass die nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine ausgerufene Zeitenwende in der Politik auch in der evangelischen Friedensethik angekommen ist und die Diskussionen prägen wird.
Bereits auf dem diesjährigen Johannisempfang im Juni in Berlin hatte die EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs Einblick in die Arbeit an der Denkschrift gewährt: „Die Situation hat sich für uns in Europa empfindlich verändert“, sagte sie damals. „Der in den 1990ern von Vielen für erledigt gehaltene Gedanke der Abschreckung ist als Option eben gerade nicht erledigt – wenn (…) sie zur Verhinderung von Gewalt und damit zur Friedensförderung beiträgt. Das bleibt friedensethisch festzuhalten: Es geht um den gerechten Frieden. Gerechter Friede, der dem Schutz vor Gewalt als elementarstem Schutz des Lebens einen Vorrang einräumt. Dieser Vorrang ist eine entscheidende Weiterentwicklung zur Friedensdenkschrift von 2007.“
Vor 18 Jahren hatten die Autoren und Autorinnen der damaligen Denkschrift auch unter dem Eindruck zunehmender Terrorangriffe nach dem 11. September 2001 und des vor allem von den USA ausgerufenen Kriegs gegen den Terror das Leitbild des „Gerechten Friedens“ entwickelt. Es adaptierte das Konzept eines „gerechten Krieges“, grenzte sich aber gleichzeitig von dessen Grundsatz ab, dass man den Krieg vorbereiten müsse, wenn man den Frieden wolle. Stattdessen lautete die Forderung: „Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten.“ Gerechter Friede umfasste der damaligen Denkschrift zufolge vier Dimensionen: Schutz vor Gewalt, Förderung der Freiheit, Abbau von Not und Anerkennung kultureller Verschiedenheit.
Relatives Prä
Diese vier Dimensionen bleiben im Prinzip mit leichten Veränderungen auch in der neuen Denkschrift erhalten und bedeutsam. Aber, so Fehrs auf dem Johannisempfang: „Die Erfahrungen der letzten knapp zwei Jahrzehnte haben zu ebendieser grundlegenden These geführt, dass der Schutz vor Gewalt unabdingbare Voraussetzung für umfassende Friedensprozesse ist – und damit ein relatives Prä gewinnt gegenüber den anderen drei Dimensionen, die für einen konsolidierten Frieden unverzichtbar bleiben: nämlich Freiheit zu fördern, Ungleichheiten abzubauen und in friedensfördernder Weise mit Pluralität umzugehen.“ Eine Wende, auch in ihrer eigenen Biografie, darauf verwies Fehrs schon im Juni. „Mich schmerzt es, das auszusprechen, denn auch ich habe im Bonner Hofgarten und 1983 auf dem Kirchentag in Hannover damals ‚Frieden schaffen ohne Waffen‘ gerufen – wie wohl etliche hier“, sagt Fehrs.
In den Stuhlreihen damals saß auch der evangelische Militärbischof Bernhard Felmberg. In der Podcast-Reihe „Frieden neu denken“, die die EKD bereits vor Veröffentlichung der Denkschrift online gestellt hat, sagte Felmberg nun zu Fehrs’ Erinnerung an die Demos: „Mich hat man da nicht gesehen.“ Er sei in West-Berlin aufgewachsen und gemeinsam mit Freunden mit Amerikafahnen in die Schule gegangen. Ein Minderheitenvotum, klar, das aber zu Diskussionen geführt habe. „Mir war klar, dass Freiheit zu verteidigen auch etwas kostet.“ Nie wieder Krieg, das sei unbestritten und zutiefst seine Überzeugung. Doch die Freiheit und Demokratie müssten verteidigt werden.
Annexion ignoriert
Felmberg beklagt in dem Podcast eine „Friedensbesoffenheit“ in den 1990er-Jahren und kritisiert eine „friedensethische Hybris“, entstanden auch aus der Erfahrung einer friedlichen Wiedervereinigung, an der „wir als Protestanten stark beteiligt waren“. Dabei habe es schon damals weiterhin Kriege gegeben, Verwerfungen auf dem Balkan und einen offen aggressiver agierenden russischen Präsidenten Wladimir Putin. Aber weil Russland die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht habe, hätten viele Menschen auch in der Kirche an diesem Punkt die rosa Brille aufgehabt.
Auch Kirsten Fehrs ist in der ersten Folge des Podcasts zu Gast. Die vergangenen zwei Jahre hätten deutlich gemacht, dass der Schutz des Lebens mit einer grundpazifistischen Haltung im Sinne von „Keine Waffen“ nicht funktionieren kann. Es komme darauf an, die Dimensionen des gerechten Friedens in einer guten Abwägung zu halten. 2007 sei sehr präzise nachgedacht worden. „Da schaue ich immer noch mit großem Respekt drauf“.
Felmberg lobte die Denkschrift von 2007 ebenfalls, verwies aber darauf, dass damals den internationalen Organisationen und Prozessen, wie etwa den Vereinten Nationen, noch viel zugetraut worden sei bei der Durchsetzung des internationalen Rechts. Dies sei heute anders. 2019, bei der „Friedenssynode“ genannten Tagung in Dresden, sei man noch weiter gegangen und habe gedacht, dass man durch richtiges Reden und Verhandlungen alles lösen könne. Das sei verwunderlich, da man die Entwicklung 2014, die Annexion der Krim, ignoriert habe.
Hybrider Krieg
Insofern sei er froh, dass nun wieder angeknüpft werde an 2007, wobei die neue Friedensdenkschrift den Optimismus mit Blick auf das internationale Rechtssystem nicht mehr teile. Fehrs ergänzte, nun würden sicherheits- und friedenspolitische Aspekte nicht mehr gegeneinander aufgerechnet. Sie müssten vielmehr miteinander gedacht werden. Und wenn dem Schutz des Lebens nun Vorrang eingeräumt werde, müsse man fragen, was das konkret bedeute.
In der Tat dürfte die neue EKD-Denkschrift sich mit all den Themen beschäftigen, die derzeit mehr oder minder strittig behandelt werden, auch unter Protestant:innen. Waffenexporte etwa, oder die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht und damit zusammenhängend die der Kriegsdienstverweigerung. Oder ist eine Dienstpflicht der bessere Weg? Sollen Frauen künftig auch zur Bundeswehr müssen? Und was ist mit der Abschreckung durch Atomwaffen? Ethisch eigentlich ein No-Go, aber doch notwendig?
Doch auch neue Fragen stehen im Raum. Denn die Art, Krieg zu führen, hat sich im Unterschied zu den Debatten der 1980er-Jahre geändert. Der Einsatz von Drohnen stellt die Frage der Verantwortung und Schuld für die Resultate eines konkreten Einsatzes, vor allem wenn Künstliche Intelligenz mit ins Spiel kommt. Die Denkschrift wird sich auch der so genannten hybriden Kriegsführung widmen, also etwa den verdeckten Angriffen auf Infrastruktur, aber auch Desinformationen und die Verwirrung und Polarisierung der Debatten durch den Einsatz von Trollen in den sozialen Medien.
Welche Rolle spielt der Pazifismus?
Friederike Krippner, Direktorin der Evangelischen Akademie zu Berlin, berichtet in einer anderen Folge des Podcasts aus der Arbeit als Co-Autorin der Denkschrift. „Ich erlebe Frieden als eines der umstrittensten Themen in der evangelischen Kirche“, sagt sie. Die Diskussion werde bei dem Thema sehr schnell sehr emotional, auch weil hier die pazifistische Tradition – nicht nur, aber vor allem in den ostdeutschen Landeskirchen beheimatet – auf diejenigen trifft, für die höhere Investitionen in den Verteidigungshaushalt nichts Unprotestantisches sind. Dennoch in ein Gespräch miteinander zu kommen, wie es etwa bei Akademieveranstaltungen immer wieder der Fall sei, sei mühselig, aber die „einzige Chance“.
Hier habe die Kirche als Verständigungsort eine wichtige Aufgabe, sagte Kirsten Fehrs. Denn Diskussion über Krieg und Frieden sei wichtig. „Manchmal habe ich den Eindruck, dass dieser Diskurs zu wenig geführt wird, auch weil es um so viel geht.“ Aber die oft zu einfache Einteilung in „naive Pazifisten“ und „Kriegstreiber“ müsse überwunden werden.
Damit steht aber nun die Frage im Raum, welche Rolle der Pazifismus in der neuen Denkschrift spielt. Eine rein individuelle Haltung? Oder doch ein politischer Grundsatz, für den Kirche eintreten sollte? Friedrich Kramer, Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und EKD-Friedensbeauftragter, hat den Pazifismus auch nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine öffentlich vertreten und zum Beispiel Waffenlieferungen an das angegriffene Land abgelehnt. Dies hat ihm viel Kritik eingebracht. In der erwähnten Podcast-Reihe verweist er darauf, dass zwar weiterhin das Primat der Gewaltlosigkeit der gesellschaftliche Konsens „bis in die EKD hinein“ bleibe. „Aber das Aber ist größer geworden.“
"Abrüstung ist möglich"
Kramer ist einer der drei Vorsitzenden der so genannten Friedenswerkstatt mit rund 60 Mitgliedern, die in einem zweijährigen Konsultationsprozess Impulse für die Denkschrift erarbeitete und zulieferte. Anders als die anderen beiden Vorsitzenden, Friederike Krippner und Reiner Anselm, Professor für Systematische Theologie und Ethik in München, war Kramer aber nicht Teil des Autorenteams. Warum nicht, wird möglicherweise auf dem Synodaltreffen in Dresden geklärt, auf dem Kramer die Denkschrift kommentieren wird. Im Podcast blieb er zurückhaltend und sagte: „Mir ist wichtig, dass wir nicht nur in den Zukunftsszenarien nur Bedrohung und Krieg sehen. Wir haben das doch erlebt: Abrüstung ist möglich.“
Auf zeitzeichen.net stieß Hans-Jochen Luhmann, früherer Referent beim Kirchentag und ehemaliges Mitglied mehrerer Kammern der EKD, vor wenigen Wochen ins selbe Horn und beschrieb seine Erfahrung der vergangenen 30 Jahre mit kriegerischer Gewalt in der Mitte Europas. „Die letzten Jahre des Kalten Kriegs hatten zu einer klug gestalteten Sicherheitsordnung in Europa geführt. (…) Zentral waren (…) weitreichende Rüstungskontrollvereinbarungen, die Transparenz brachten und dadurch zu Kooperation und Vertrauen führten.“ Aufgabe der Kirche sei, für das Nicht-Selbstverständliche zu werben: die Beziehungspflege unter Feinden, mit dem Ziel der Kooperation. „Schutz vor Gewalt“ höre sich anders, gegenteilig an. „Es klingt nach einer unilateralen Option, die ohne aktive Partnerschaft erreichbar wäre.“ Den Begriff kritisiert er als eine „illusionäre Formel“ und meint: „Wirklichen Schutz vor (militärischer) Gewalt gewährt nur die Kriegsverhütung.“ Die sei zwar bislang, auf Dauer, regelmäßig gescheitert. Doch das müsse nicht so weitergehen. Luhmann: „Wer dem Schutz vor Gewalt strategisch Priorität geben will, muss dem Bewusstseinswandel den Weg bereiten, der den Krieg als politische Option abschafft.“
Es könnte also spannend werden ab dem 10. November. Denn die Denkschrift dürfte differenziert und dennoch profiliert genug sein, um der friedensethischen Debatte auf allen kirchlichen Ebenen und der Gewissensschärfung des Einzelnen neue Nahrung zu geben. Auch Friedrich Kramer, der EKD-Friedensbeauftragte, hofft auf Reaktionen. Er sieht die Denkschrift nicht als abschließendes Votum, sondern als „Doppelpunkt“, mit dem die Diskussionen und Gespräche beginnen sollen.
Information
Die erwähnte Podcastreihe ist zu finden auf der Website www.ekd.de/neue-podcast-reihe-frieden-denken-91782.htm.
Stephan Kosch
Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen".