„Wir halten das verbindlich fest“
Kirchenrechtliche Grenzen stehen der praktizierten Ökumene oftmals im Weg. In Münster-Nienberge probten das Bistum Münster und die westfälische Landeskirche eine neue Form der Zusammenarbeit auf lokaler Ebene: „ökumenisch-kooperative Gemeinden“. Über das Ergebnis berichtet der Journalist Thomas Krüger.
Die Skulptur „Begegnung“ des Bildhauers Hubert Teschlade steht seit 1985 vor dem evangelischen Lydia-Zentrum im westfälischen Nienberge. Die Bronze-Plastik des inzwischen verstorbenen Künstlers gehört der katholischen und der evangelischen Kirchengemeinde gemeinsam. Sie ist Symbol der jahrzehntelangen engen Zusammenarbeit der Christen in dem Stadtteil von Münster mit rund 7 000 Einwohnern, davon etwa 4 000 Katholiken und 1 000 Protestanten.
Geistliche und Gemeindeglieder beider Konfessionen hatten vor mehr als 40 Jahren die ökumenische Tradition begründet. 2002 schlossen die damals noch selbstständigen Gemeinden St. Sebastian (katholisch) und Lydia (evangelisch) eine erste „Ökumenische Vereinbarung“ ab. Seither sind beide in größeren Strukturen aufgegangen: Die Katholiken gehören zur Pfarrei Liebfrauen-Überwasser in Münster, die Protestanten zur evangelischen Kirchengemeinde Havixbeck (Kreis Coesfeld). Wegen dieser Veränderungen wurde die Vereinbarung 2019 grundlegend neugefasst. „Wir wollen nicht mehr getrennt tun, was gemeinsam getan werden kann“, heißt es darin.
Als das alte Lydia-Gemeindezentrum 2022 aus finanziellen Gründen abgerissen werden musste, rückten die Konfessionen in einer „ökumenischen Wohngemeinschaft“ noch enger zusammen. Die Evangelischen zogen für fast drei Jahre mit in die St.-Sebastian-Kirche ein, bis ihr kleiner, moderner Gottesdienstraum im neuen Lydia-Zentrum fertiggestellt war.
Vertiefte Gemeinschaft
Als das Bistum Münster und die Evangelische Kirche von Westfalen Standorte für ihr Pilotprojekt „Zusammen-Wachsen – Ökumenisch-Kooperative Gemeinden“ suchten, stand Nienberge oben auf der Liste. Entstanden ist das Vorhaben aus dem Aufruf von Bistum und Landeskirche „Gemeinsam Zukunft gestalten“ von 2017. Darin erklärten die Kirchen den Willen, ihre Gemeinschaft zu vertiefen und Zusammenarbeit auch auf Ebene der lokalen Pastoralentwicklung zu intensivieren.
In der Projektskizze von 2022 formulierten der damalige Ökumene-Referent des Bistums, Michael Kappes, und sein evangelisches Pendant Albrecht Philipps, Ökumene solle als durchgehende Perspektive in den pastoralen Arbeitsfeldern entwickelt und in Formen kooperativer, arbeitsteiliger und stellvertretender Zusammenarbeit konkretisiert werden. Als Ziele wurden unter anderem benannt: wechselseitige Bereicherung durch die unterschiedlichen Traditionen, Neues und Innovatives entwickeln, Synergie- und Entlastungseffekte und ein Praxisleitfaden für ökumenisch-kooperative Gemeinden.
Begeisterter Start
Am 13. Dezember 2022 stellten Philipps und Kappes in Nienberge das Projekt vor. „Wir sind begeistert gestartet“, erinnert sich Pfarrer Oliver Kösters von der Evangelischen Kirchengemeinde Havixbeck-Nienberge. Eben weil man schon so lange ökumenisch unterwegs sei, habe man gerne ja gesagt. Zwei Tage später sorgte das Bistum mit der Pressemeldung zum Projektstart für Aufsehen: „Deutschlandweit erste ökumenisch-kooperative Gemeinde in Münster“ lautete die Überschrift – Gemeinde stand tatsächlich im Singular.
Die Schlagzeile wurde medial aufgegriffen und erzeugte ein Missverständnis, in Nienberge würden katholische und evangelische Gemeinde fusionieren. Die unpräzise Formulierung brachte beachtliche Aufmerksamkeit. Aber zugleich weckte sie große Erwartungen, erinnern sich Kösters und der Leitende Pfarrer der Pfarrei Liebfrauen-Überwasser, André Sühling. Beide Gemeinden würden natürlich eigenständig bleiben, stellte Kösters gegenüber katholisch.de Grenzen des Machbaren klar, aber die Zusammenarbeit solle verbindlicher werden.
Lokaler Motor des Projekts war der seit langem bestehende Ökumenische Arbeitskreis (ÖAK) mit rund zehn Mitgliedern, darunter Kösters und der katholische Diakon Reinhard Kemper als die Seelsorger am Ort. Die ersten Monate widmete der ÖAK einer Bestandsaufnahme der ökumenischen Praxis. Die Liste wurde lang – vieles wird hier teils seit Jahrzehnten selbstverständlich gelebt: zum Beispiel ökumenische Gottesdienste bei besonderen Anlässen wie zum Neujahrsempfang, Weltgebetstag, Taizé-Gottesdienste oder eine ökumenische Bibelwoche. Freitags laden beide Gemeinden zum Marktgebet in Nienberge ein, und im katholischen Pfarrzentrum St. Sebastian ist die offene Jugendarbeit ebenso zuhause wie das Ökumenische Sozialbüro. Auch der Seniorenkreis wird ökumenisch verantwortet.
Das Pilotprojekt motivierte zu weiteren Aktivitäten wie dem Aufbau einer ökumenischen Kinder- und Familienkirche, Gesprächsaktionen zur Ökumene auf dem Wochenmarkt, einem Erntedankgottesdienst oder der gemeinsamen personellen Unterstützung eines Stadtteilfestes.
Doch nach und nach wuchsen bei den Aktiven Zweifel, ob das Vorgehen zielführend ist: „Einfach nur immer mehr und neue Projekte initiieren, das wollten wir nicht. Das wäre für uns nicht pilothaft gewesen“, erklärt der ÖAK rückblickend. Gerade weil die Ökumene in Nienberge ohnehin gut lief, stellte sich die Sinnfrage.
„Pilotprojekt heißt: Wir gehen über Grenzen, betreten Neuland, tun etwas, was es zuvor nicht gab“, postuliert Kösters. Hier bekamen die Nienberger die kirchenrechtlichen Grenzen zu spüren, im Blick auf das gemeinsame Abendmahl, die Taufe, das Amtsverständnis. „Nach einem Jahr kam die Ernüchterung“, sagt Sühling. Die Gemeinden vermissten in dieser Lage Begleitung durch ihre Kirchenleitungen. Wohin diese mit dem Projekt wollten, blieb vor Ort unklar. „Der Satz ‚zeigt doch mal, was bei euch gelingt‘, war für uns zu wenig“, so die beiden Pfarrer.
In die interne Debatte hinein traf im April 2024 die Anfrage der zeitzeichen: „Was ist das Besondere am Pilotprojekt?“ Ökumenische Gemeindepartnerschaften existieren etliche; auch sind „Wohngemeinschaften“, wenn eine Kirche saniert oder abgegeben wird, keine Seltenheit mehr. Was also ist das „Extra“? Durch die Anfrage bestärkt, wandte sich der ÖAK an Bistum und Landeskirche mit der Bitte um Klarstellung.
Die neue Ökumene-Referentin des Bistums, Aurica Jax, und Landeskirchenrat Philipps setzten sich für mehr Klarheit ein. Beim jährlichen Treffen des Bischöflichen Generalvikariats und des westfälischen Landeskirchenamtes im Mai brachten sie den Wunsch des ÖAK vor, im Rahmen des Pilotprojekts neue Wege zu erproben – stellvertretend für die jeweils andere Konfession die Taufe zu spenden, Beerdigungen zu halten und sich gegenseitig zu Eucharistie und Abendmahl einzuladen. Dieses Anliegen wurde aber zurückgewiesen, wie die zeitzeichen erfuhren. Auch die Frage nach alternativen Erwartungen an und Visionen für das Projekt blieb demnach unbeantwortet.
Demgegenüber unterstützte die Ökumene-Kommission des Bistums die Gemeinden. Das beratende Gremium, dem auch die katholische Theologieprofessorin Dorothea Sattler angehört, ermutigte zum „Betreten von Neuland“. In einem ausgewählten Feld und einem „mit den Kirchenleitungen abgesprochenen Aktionsradius“ sollten „innovative Schritte“ unternommen werden. Zu einem konkreten Auftrag war die Kommission allerdings nicht befugt und so blieb trotz dieser Ermutigung die Frustration in Nienberge bestehen.
Frustration in Nienberge
Dem bis Ende 2024 befristeten Projekt drohte ein Abschluss ohne Ergebnis. Doch das (falsche) Signal, es sei gescheitert, wollte man in Nienberge um der gewachsenen Kooperation willen und wegen der negativen Außenwirkung für die Ökumene insgesamt vermeiden. Ein Strategietreffen der Fachleute aus Bistum und Landeskirche mit Kösters und Diakon Kemper leitete im August einen Perspektivwechsel ein. Pfarrer Christian Hohmann, Catholica-Referent im oikos-Institut für Mission und Ökumene der westfälischen Kirche, erklärte dabei, für ihn bestehe das Pilothafte darin, dass es den Gemeinden miteinander gelungen sei, die Bereiche der gemeindlichen und pastoralen Arbeit verbindlich ökumenisch aufzustellen. Somit sei Ökumene als durchgehende Perspektive im Alltag etabliert worden. Das könne andere Kirchengemeinden zu einem ähnlichen Weg ermutigen.
Diese neue Sicht und besonders die Entschlossenheit des ÖAK ebneten den Weg zu einer dreimonatigen Verlängerung des Projekts. In dieser Zeit gelang es den Nienbergern, das Vorhaben zu einem substanziellen Abschluss zu bringen. In dem bilanzierenden Dokument „Auf dem Weg…“ legen beide Gemeinden auf theologischer Grundlage dar, was sie als Neuausrichtung durch das Projekt empfinden, beschreiben den Weg mit Grenz-Erfahrungen und Frustrationen, aber auch Motivationen. Die allermeisten Menschen in den Gemeinden wollten mehr Gemeinschaft, auch gemeinsam Eucharistie und Abendmahl feiern, heißt es in dem online veröffentlichten Papier (siehe auch https://www.evk-havixbeck.de/wp-content/uploads/2025/08/Abschlusspapier-Oekumeneprojekt.pdf). Es brauche Fortschritte – „über menschengemachte Grenzen hinaus“. Die Teilnahme am Projekt werten die Gemeinden als „Vertiefung der Ökumene“ und Klärung von Grenzen und Herausforderungen. Eine entscheidende Rolle spiele, wie Hauptamtliche Ökumene leben und Menschen dazu ermutigen. „Mehr Ökumene“ müsse aber auch durch die Leitungsgremien gewollt sein. Und, fügt Kösters hinzu, „es geht nicht um immer Neues, es geht um Qualität, Verbindlichkeit und Vision!“ Die Christen in Nienberge rufen andere Gemeinden dazu auf, sich ebenfalls auf den Weg zu machen – auch wenn das Feld wohl oft nicht so gut bestellt ist wie hier. Er sei dann wahrscheinlich mühsamer, aber: „Letztlich ist Ökumene immer ein Weg.“
An übergeordnete kirchliche Ebenen appellieren die Nienberger, der Ökumene auch bei den weitreichenden strukturellen Veränderungen in den Kirchen Rechnung zu tragen: „Was bedeutet Ökumene eigentlich für die Kooperation in Pastoralen Räumen?“, fragt André Sühling. Ein „Wir-Gefühl“ könne auf große Distanzen in „Kooperationsräumen“ nur schwer entstehen, meint Oliver Kösters. Bevor man sich von einem Standort verabschiede, müsse geprüft werden, ob es eine ökumenische Lösung für kirchliche Präsenz vor Ort gebe.
Neben dem Papier „Auf dem Weg“ legte der ÖAK die „Vereinbarung ‚Ökumenisch-kooperative Gemeinden‘ in Nienberge“ vor. Die formellen Beschlüsse über die Vereinbarung wurden in beiden Gemeinden bis Oktober erwartet. Darin werden die Dimensionen der Zusammenarbeit – kooperativ, arbeitsteilig, stellvertretend – beschrieben und konkrete Handlungsfelder von der pastoralen Arbeit über Gottesdienste, Gebäude, Personal und Öffentlichkeitsarbeit bis zum Gemeindeleben benannt. „Wir halten das möglichst verbindlich fest, auch neue Amtsträger sollen an die Vereinbarung gebunden sein“, erklärt Kösters.
Die Reaktionen aus den Kirchenämtern waren positiv. Aurica Jax vom Bistum bezeichnete beide Abschlusstexte als „sehr wertvoll“, Albrecht Philipps und Christian Hohmann von der Landeskirche nannten sie „zukunftsweisend“. Generalvikariat und Landeskirchenamt dankten und sprachen beim diesjährigen Treffen im Juni den Gemeinden „für ihr kreatives Herangehen Anerkennung aus“. In Nienberge wird man solche Worte an Taten messen. Bei einem überregionalen „Tag der ökumenisch Engagierten“ am 24. Januar 2026 sollen die Erkenntnisse aus dem Projekt diskutiert und ausgewertet werden.