Wie die Bremer Stadtmusikanten
Das evangelische Medium „chrismon“ erreicht jeden Monat über eine Million Leserinnen und Leser, online und als gedrucktes Magazin. Jetzt veranstaltete diese ganz besondere Zeitschrift in Frankfurt am Main zum 25-jährigen Jubiläum einen „Zuversichtskongress“. Eindrücke von einem „behinderten Kunstwerk“ von zeitzeichen-Redakteur Philipp Gessler.
Die erste Rede des Kongresses setzte den Ton: Stephan Grünewald, Psychologe und Gründer des „Rheingold“-Instituts in Köln, sprach unter dem Titel „Wir Krisenakrobaten“ zum Thema: „Wie eine verunsicherte Gesellschaft wieder Zuversicht fassen kann“. Damit waren sie umrissen, die beiden Pole des „Zuversichtskongresses“, zu dem das evangelische Magazin „chrismon“ anlässlich des 25. Jahrestags seiner Gründung am Freitag in die Evangelische Akademie auf dem Römerberg in Frankfurt am Main eingeladen hatte: Einerseits multiple, sich überlappende Krisen, die mit den Stichworten „Corona, Krieg, Klimawandel, Wirtschaftsflaute, Rechtsextremismus“ grob umschrieben werden können. Andererseits Zeichen des Wandels und der Hoffnung oder Zuversicht, die auch da sind, aber mühsamer gesucht werden müssen. „Chrismon“ ist auf Papier und im Netz mit seinen über 1,4 Millionen Leserinnen und Lesern das Magazin, das sich seit einem Vierteljahrhundert müht, in all den Krisen immer wieder die kleinen Geschichten der Hoffnung aufzuzeigen.
Das ist nicht einfach, da oft die Grundstimmung der Gesellschaft einer zuversichtlicheren Weltsicht im Wege steht, wie Grünewald in seiner „Keynote Speech“ erklärte: Derzeit herrsche in großen Teilen der Bevölkerung Deutschlands das Gefühl vor, dass die heutigen Krisen unbehandelbar und unverfügbar seien, man also kaum etwas dagegen machen könne. Dies verstärke bei vielen Menschen die Neigung, sich ins Private zurückzuziehen, „vom Auenland in den Schneckenbau“, wie der Psychologe es formulierte. Man pflege angesichts der Dauerkrise die eigene „Wohlfühloase“, in der dann auch, allerdings rein persönlich, durchaus Zuversicht herrsche. So antworteten bei Umfragen 83 Prozent der Menschen, dass sie für ihr eigenes, privates Leben durchaus Zuversicht empfänden – aber in Sachen Politik täten dies nur etwa 23 Prozent der Befragten.
Im Schneckenhaus
Das Problem sei nun, dass auch das private Schneckenhaus bedroht zu sein scheine oder unter Stress stehe, etwa durch eine schlechte Kita-Versorgung, Schwierigkeiten bei der Bahn und zu hohe Mieten, um nur einige der größeren oder kleineren, jedenfalls nervigen Probleme des Alltags zu nennen. Ein Gefühl der „Alltagssabotage“ mache sich derzeit breit, so Grünewald. So gebe es zwar Energie zur Veränderung, aber die werde derzeit nicht abgerufen, sondern verdichte sich eher in einer „gestauten Bewegungsenergie“. Denn was könne man als Einzelner schon machen? Bedenklich sei auch, dass immer mehr Menschen dazu neigten, die in ihrem Bekanntenkreis auszusortieren, die ihre Wohlfühloase störten. Es finde nur noch selten ein Dialog zwischen den verschiedenen Blasen oder „Silos“, so Grünewalds Formulierung, statt. Dieser Kontaktabbruch und diese Kränkung könne dazu führen, dass unter den Aussortierten die Tendenz zunehme, sich in ihren Haltungen der neuen geistigen „Heimat“ anzugleichen, um nicht auch noch die zu verlieren – der Name „AfD“ fiel in Grünewalds Vortrag hier zwar nicht, aber es war klar, was der Sozialpsychologe mit der „neuen Heimat“ meinte.
Nötig sei in dieser Lage, so Grünewald, die in der Gesellschaft dann doch weiter vorhandene Sehnsucht nach Verbundenheit aufzunehmen und die „Entzweiung“ zu überwinden, ja die „gestaute Bewegungsenergie“ in ein gemeinsames Tun zu kanalisieren – und zwar durch das Gefühl: Gemeinsam können wir etwas bewegen! Hier könne die Politik durchaus wichtige Impulse setzen. Ein Beispiel Grünewalds: Als vor drei Jahren wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und einem drohenden Gasboykott durch Putin dringend Gas gespart werden mussten, ging tatsächlich eine gesellschaftliche Bewegung durch das Land, die es am Ende ermöglichte, dass innerhalb kürzester Zeit etwa 20 Prozent der Energie in Deutschland eingespart werden konnte. Mehr Verbundenheit und eine bessere Grundstimmung also durch Solidarität und Engagement.
"Besseres als den Tod"
Das schöne, märchenhafte Bild, das Grünewald für eine solche Bewegung fand, war das der Bremer Stadtmusikanten: Auch sie sind in Perspektivlosigkeit gelähmt, beschließen aber, einer vagen Vision eines besseren Lebens in Bremen zu folgen und gemeinsam aufzubrechen („Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“). Wie Menschen, die „behinderte Kunstwerke“ seien, gleichen die vier Tiere ihre jeweiligen Schwächen durch Solidarität aus, bestehen gemeinsam als scheinbares Monster eine große Gefahr durch böse Räuber und finden ihr Glück – obwohl sie, und das ist die Pointe, in Bremen nie ankommen. Die Bewegung und die Gemeinsamkeit sind also der Schlüssel, nicht unbedingt das vollständige Erreichen des einst anvisierten Ziels.
Was das Ganze mit „chrismon“ zu tun hat? Die Co-Chefredakteurin Ursula Ott nannte das von ihr und Claudia Keller geleitete evangelische Magazin in Anlehnung an Grünewald ebenfalls ein „behindertes Kunstwerk“ – und im „Zuversichtskongress“ spiegelte sich tatsächlich einen halben Tag und ganzen Abend lang, was „chrismon“ ausmacht: eben die Suche nach Geschichten, die neben der Beschreibung der oft krisenhaften Wirklichkeit auch Mut machen und Zuversicht schenken können. So berichtete etwa der TV-Journalist Willi Weitzel, wie er seit Jahren durch Reisen in die Süden der Welt und Reportagen über seine Erlebnisse helfen will, Kinder und Jugendliche aus Elend und Kinderarbeit zu befreien. Manchmal mit Erfolg, manchmal ohne. Es gab auf dem Kongress acht verschiedene Workshops, in denen es um die Themen ging wie „Humor hilft – wie wir die Pointe im Alltag finden“, geleitet vom Kinderpsychiater, Bestsellerautor und „chrismon“-Herausgeber Jakob Hein. Ein anderer Workshop, „Atelier“ genannt, hatte das Thema „Frohe Botschaft – wie der Glaube uns Zuversicht geben kann“.
Wichtig auch: Weltweit wird im Journalismus seit rund anderthalb Jahrzehnten diskutiert und erprobt, wie eine positive, Zuversicht vermittelnde Berichterstattung trotz aller Krisen funktionieren könnte, ohne dass der Journalismus unkritisch wird, dem Aktivismus verfällt oder einfach nur Hurra-Meldungen verbreitet. So ist eine Strömung des „Konstruktiven Journalismus“ entstanden. Sie beruht auf dem Konzept einer Berichterstattung, die auch Lösungen für Probleme vorstellt, anstatt nur Nachrichten von Krisen, Schwierigkeiten oder Konflikten zu schildern, was natürlich aber weiterhin im Journalismus vorkommen muss. Ohne dass dies schon vor 25 Jahren so benannt worden wäre, betreibt „chrismon“ seit vielen Jahren zum großen Teil diese Art des „Konstruktiven Journalismus“.
Das evangelische Magazin kann sich das leisten, weil es von Seiten der Evangelischen Kirche in Deutschland als ein Mittel der Verkündigung der Frohen Botschaft betrachtet und stark subventioniert wird. „Chrismon“ liegt nach Wunsch kostenlos großen anderen Medien etwa der „Zeit“ bei (als ein so genanntes „Supplement“). Das spart Vertriebskosten, auch wenn „Zeit“ und Co. etwas dafür verlangen, dass sie die evangelische Zeitschrift beilegen. So ist es „chrismon“ gelungen, eine Millionenauflage zu erzielen, was wiederum hohe Anzeigeneinnahmen ermöglicht. Die Zeitschrift bleibt dennoch für die EKD und ihr Unternehmen des „Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik“ (GEP) als Verleger von „chrismon“ ein wohl kalkuliertes Minusgeschäft. Für die Frohe Botschaft eben.
So gesehen, spiegelte der „Zuversichtskongress“ den ganz besonderen Charakter von „chrismon“ sehr gut wider: Bei allem guten Essen, bei all der wunderbaren Musik und manchen humorigen Beiträgen, ja sogar Cocktails, die gegen Ende des Abends zu genießen waren – typischer Weise gab es als Teil des Programms auch eine Andacht, die die GEP-Direktorin und Pfarrerin Stefanie Schardien leitete. Dabei betete das Publikum dieses außergewöhnlichen Kongresses, und das fasste ihn ganz gut zusammen, ein paar Zeilen nach dem Psalm 62: „Hoffet auf ihn allezeit, liebe Leute, schüttet euer Herz vor ihm aus; Gott ist unsere Zuversicht.“
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.