Jürgen Habermas hat sich kürzlich in einem kurzen, aber prägnanten Text erneut zur Religion geäußert. Wahrscheinlich wäre der Text an seinem Ursprungsort, der Festschrift zum 65. Geburtstag des Religionsphilosophen Thomas M. Schmidt, verborgen geblieben, wenn nicht die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihm seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Wobei bereits der Titel des FAZ-Artikels (€) dessen Intention deutlich macht „Habermas warnt vor Verflachung der christlichen Glaubensgehalte“. Habermas wird also in die Reihe der Warner eingerückt, die auf protestantischer Seite befürchten, dass die Evangelische Kirche „Gott vergessen“ habe, wie es zum Beispiel vor Jahresfrist der Nürnberger Theologe Ralf Frisch in der Welt formulierte.
Nun ist der Artikel von Habermas in der Tat dadurch bemerkenswert, dass er in pointierter Form wiederholt, was Habermas schon an anderer Stelle mehrfach gesagt hat. Eine gewisse Altersradikalität hat offensichtlich dem Philosophen die Hand gelenkt. Eine große inhaltliche Überraschung ist der Artikel nicht. Nicht was Habermas sagt, ist das Neue, sondern wie er es sagt. Die eigentliche Überraschung war, dass Habermas in seiner berühmten Paulskirchenrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 2001 die Religion in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte.
Man konnte damals nicht einmal sagen, Habermas habe die Religion wiederentdeckt, den die Religion spielte bis dahin im Denken von Habermas allenfalls eine marginale Rolle. Die damalige Pointe bestand darin, das er der Religion einen quasi nicht säkularisierbaren Gehalt zuschrieb, der nur in der Form von Religion tradierbar sei. Diesen Gedanken hat er dann in seinem monumentalen zweibändigen Alterswerk Auch eine Geschichte der Philosophie weitergeführt (vergleiche dazu Klaas Huizing, zeitzeichen 5/2020). Das Werk hätte ohne Weiteres auch den Titel tragen können „Auch eine Geschichte der Theologie“, denn Habermas rekonstruiert dort den Verlauf der abendländischen Geistesgeschichte als einen permanenten (und durchaus streitbaren) Dialog zwischen Philosophie und Theologie.
Elementar verschiedene Diskurse
All dies widerruft Habermas in seinem neuen Beitrag nicht. Aber er spitzt seine bisherige Sicht auf eine pointierte Weise zu. Zunächst warnt er vor einer Vermischung von Philosophie und Theologie. Beide sind für Habermas elementar verschiedene Diskurse, die zwar miteinander im Dialog stehen, aber sich eben nur als voneinander klar unterschiedene Diskurse gegenseitig etwas zu sagen haben. Erst ihre Unterscheidung macht Philosophie und Theologie überhaupt dialogfähig.
Was aber hat nun der Philosoph der Theologie aktuell zu sagen? Habermas warnt eindringlich vor einer bestimmten Überlebensstrategie von Theologie und Kirche, um in einer religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft bestehen zu können. Eine solche Strategie verspricht der Religion umso mehr Erfolg, „je weniger sie am dogmatischen Kern einer monotheistischen Erlösungsreligion festhält und das heißt: je klarer sie sich von einer Jenseitsorientierung und dem expliziten göttlichen Erlösungsversprechen verabschiedet“. Eine solche Theologie kommt ohne Transzendenzversprechen aus, ermöglicht aber gleichwohl religiöse Erfahrung - getreu einem Motto von Ernst Bloch: „Wer lebt, der hofft. Und wo Hoffnung ist, da sei auch Religion.“ Für Habermas ist dies eine merkwürdige Form von Religion, eine Religion der verloren gegangenen Inhalte gewissermaßen, der er selbst keine Überzeugungskraft zuzusprechen vermag. Eine Religion ohne Transzendenzbezug und klare Inhalte ist für Habermas keine Religion.
Die Thesen von Habermas gewinnen dadurch noch an Profil, dass sich relativ zeitnah der an der Universität Münster lehrende katholische Praktische Theologe Christian Bauer mit dem Heidelberger Gräzisten Jonas Grethlein in einem Podcast über dasselbe Thema unterhält. Grethlein plädiert dabei angesichts der wachsenden Ungewissheiten für eine Stärkung des Hoffnungshorizontes von uns Menschen. Durchaus auch mit Bezug auf Ernst Bloch. Grethlein sieht einen solchen Hoffnungshorizont im Christentum mit seinen starken Bildern und Geschichten. Dabei muss nicht jedes einzelne Bild, jede einzelne Geschichte „geglaubt“ werden, wenn man in diesen Hoffnungshorizont eintritt. Grethlein nimmt mit dieser Sicht gleichsam eine Mittelstellung ein zwischen der von Habermas kritisierten Schwundform von Religion und der von Habermas favorisierten Form einer klar an Transzendenz und Glaubensinhalten Religion ein.
Religiöse Erfahrung entkoppelt
Die beiden kurzen „Einwürfe“ eines Philosophen und eines Philologen rückt die theologische Diskussion innerhalb des deutschsprachigen Protestantismus noch einmal in ein neues Licht - ein Licht, dass die Konturen der Debatte und der dort vorgenommenen Positionierungen schärfer zu zeichnen vermag. In der Debatte um die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung 6 der EKD standen sich im Grunde zwei Gruppen gegenüber: auf der einen Seite die „Traditionalisten“, auf der anderen Seite die Anhänger der Säkularisierungs- und Individualisierungstheorie. Die Traditionalisten folgten dabei eher einem materialen Religionsbegriff, die andere Seite eher einem funktionalen Religionsbegriff. Der materiale Religionsbegriff geht davon aus, dass sich eine Religion über bestimmte Glaubensinhalte und Riten konstituiert. Der funktionale Religionsbegriff entkoppelt religiöse Erfahrung von bestimmten Inhalten und versteht Religion als reinen Vollzug einer bestimmten Erfahrung - eben einer „religiöse Erfahrung“. Solche religiösen Erfahrungen können dann auch im Fußball-Stadion oder in einem Museum gemacht werden.
Nun hat der funktionale Religionsbegriff - und da hat Habermas etwas Richtiges gesehen - im deutschsprachigen Protestantismus in den letzten dreißig Jahren eine Karriere sondergleichen erlebt. Das wird vor allem in der Disziplin der Praktischen Theologie deutlich. In den wissenschaftlichen Qualifikationsschriften, also den Dissertationen und Habilitationen (und in ihnen kann man wissenschaftliche Trends erkennen), dominierte eindeutig ein funktionaler Religionsbegriff. Als Präzeptor dafür kann mein verstorbener Kollege und Freund Wilhelm Gräb gelten, der über viele Jahre an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrte und eine ganze Generation Praktischer TheologInnen prägte.
Und bei Wilhelm Gräb kann man auch sehr schön die Motive für diese Präferenz erkennen. Man möchte sich von einer dogmatisch versteinerten Form eines Christentums absetzen und sich den konkreten Lebenswelten der Menschen zuwenden. Deshalb plädiert Gräb für eine „Entsubstanzialisierung“ der theologischen Grundbegriffe wie Sünde, Erlösung, Gnade, et cetera. Ihr Inhalt wird nicht mehr an Dogma und Katechismus gebunden, sondern die Erfahrung von „Sünde“ und „Gnade“ ist überall dort zu finden, wo in den konkreten Lebenswelten knechtende Bindungen oder Befreiungserfahrungen anzutreffen sind. Mit einem solchen Verständnis von „Religion“ versuchte man nicht zuletzt der schleichenden Erosion der Kirchenmitgliedschaft entgegenzuwirken.
Gegenprogramm zur Entsubstanzialisierung
Nun ist unverkennbar, dass Jürgen Habermas gerade ein solches Verständnis von Religion und Theologie letztlich für aporetisch hält. Seine These von der prinzipiellen Nicht-Säkularisierbarkeit theologischer und religiöser Begriffe ist im Grunde das direkte Gegenprogramm zum Gräb‘schen Programm der Entsubstanzialisierung.
Bekommen deshalb die Traditionalisten durch Habermas recht? So einfach ist es nicht. In seiner berühmten Frankfurter Rede führt Habermas nämlich einen zentralen Gedanken ein, den einer - wenn man so sagen will - Pflicht des Übersetzens, des Dolmetschens. Habermas sieht durchaus, dass zentrale theologische Begriffe wie Sünde und Gnade sperrig und quer zur Empfindungs- und Sprachwelt unserer Gegenwart stehen.
Und an dieser Stelle wird es für mich als Praktischen Theologen spannend. Ich selbst bin skeptisch gegenüber einem funktionalen Religionsbegriff und habe immer einem materialen Religionsbegriff den Vorzug gegeben. In der Pflicht des Dolmetschens, wie Habermas dies fordert, lassen sich die Motive für einen funktionalen Religionsbegriff, die als Motive ja nicht unberechtigt sind, aufnehmen, ohne dass sie in ein Programm der Entsubstanzialisierung ausmünden müssen.
Notwendige Verflüssigungen
Ich verstehe mich insofern als „Traditionalist“, indem ich - wie Habermas und Grethlein - an den zentralen Begriff, Symbolen und Narrationen der christlichen Überlieferung festhalten möchte. Aber dieses „Festhalten“ geht nicht ohne Kunst des Dolmetschens. Diese Begriffe, Symbole und Narrationen müssen in die heutigen Lebenswelten hinein verflüssigt werden (das ist das berechtigte Motiv der funktionalen Sichtweise), ohne sie dabei in ihrem Kerngehalt aufzulösen (das ist das berechtigte Motiv, an das Habermas erinnert).
Das betrifft nicht nur die Predigt, sondern die Gesamtheit der kirchlichen Praxis und insbesondere auch Seelsorge und Unterricht. Ich spreche deshalb gerne von den „drei Welten“, in denen Pfarrerinnen und Pfarrer heute zu Hause sein müssen: die Welt der überlieferten Tradition, die Welt unserer kulturellen und politischen Gegenwart und die Welt ihrer eigenen Subjektivität und der damit verbunden Erfahrungen. Die Kunst des Dolmetschens wäre die ständige Reise durch diese drei Welten. Das ist eine hohe Kunst. Und wie bei jeder hohen Kunst drohen auch Abstürze. Davon kann man dann in der Presse lesen.
Das Gelingen dieser Kunst geschieht dort - und das geschieht eben nicht selten, wenn auch weniger öffentlichkeitswirksam -, wo Menschen in der Begegnung mit der biblischen Tradition diese Tradition als lebensdienlich für ihr individuelles Leben erfahren. Und das geschieht nicht ohne die Kunst des Dolmetschens, die im pfarramtlichen Alltag für Pfarrerinnen und Pfarrer auch den Mut zu dieser Kunst erfordert. Aber - wie wir spätestens seit Franz Overbeck wissen - gibt es keine Theologie ohne Verwegenheit. Die notwendige Kunst des Dolmetschens ist immer auch die Kunst der Verwegenheit.
Albrecht Grözinger
Dr. Albrecht Grözinger ist Professor em. für Praktische Theologie an der Universität Basel.