Gänsehaut unterm Affenfell

Zur Phänomenologie des Haut- und Härchenaufstandes
Foto: Privat

Vorspiel: Piloerektion - Piloerektion lautet der bildstarke medizinische Fachbegriff für Gänsehautgelegentlich auch Piloarrektion genanntalso ein unwillkürlicher kollektiver Haut- und Härchenaufstand, genau dann, wenn sich kleine Haarmuskeln (lat. Musculi arrectores pilorum) gleichzeitig in der Haut zusammenziehen. Dadurch stellen sich die sehr feinen Haare gleichzeitig auf und die Haut bekommt, wie ChatGPT so einfühlend sagt, eine „hügelige“ Struktur – erinnernd an die Haut einer gerupften Gans.[1]

Der physiologische Ablauf lässt sich in drei Phasen gliedern: 1. Reiz: einerseits Kälte (Zugluft oder Frost), andererseits Emotionen (Angst, affektives Betroffensein etwa durch Kunst, namentlich Musik) 2. Nervensystem: Das vegetative Nervensystem (Sympathikus, vegetare, lat: in Bewegung setzen, beleben) aktiviert kollektiv die Haarmuskeln.3. Reaktion: Die Härchen richten sich auf und die Haut wirkt nicht glatt, sondern wie eine raue, hügelige Landschaft

Die evolutionsbiologische Bedeutung dieses Phänomens lässt sich knapp so beschreiben: Bei Tieren (etwa Katzen, Hunde, Igel, Vögel) dient das Aufstellen der Haare/Federn/Stacheln einerseits als Wärmeschutz, denn das Luftpolster zwischen Haaren/Federn/Stacheln hält schön warm; andererseits firmiert der Härchen/Feder/Stachelaufstand als Imponierverhalten, das dem eigenen Schutz gegen Angreifer dient: Das entsprechende Tier wirkt für potentielle Feinde markant größer. An Körperpartien ohne Haarbewuchs wie den Fußsohlen kann keine Gänsehaut auftreten. Streng genommen gibt es also keine Ganzkörpergänsehaut. Zwar ist beim Menschen das Funktionsprinzip noch da, aber die Schutzwirkung ist durch unsere eher geringe Körperbehaarung nahezu bedeutungslos. Wohl nicht zufällig tragen viele Menschen im Winter Jacken und Mäntel mit Luftpolster oder sogar mit Daunen gefüllte Polster, um den Wärme-Nachteil gegenüber der Tierwelt auszugleichen. Ästhetische Fragen werden dabei vorübergehend eingeklammert.

Henne, Huhn oder Gans

Auffällig auch das: Einerseits gibt es in weiten Teilen Europas Einigkeit über die Deutung des Gefühls als Gänsehaut: im Englischen Goose flash oder goosebumps, im Schwedischen Gåskött, ähnlich im Norwegischen und Dänischen, im Italienischen sagt man pelle d’oca, aber es gibt auch eine zweite Variante: die Franzosen sprechen von chair de poule und wir Niederländer von kippenvel, also Hühnerhaut, die Spanier sagen ebenfalls Piel de gallina, in Finnland heißt es kananliha, die Schweiz fühlt Hühnerhaut, in Graubünden (Schweiz), Vorarlberg (Österreich) und vom Allgäu bis hin zum Chiemgau sagt man nochmals einschränkend  Hennenhaut. Daran sieht man, wie kompliziert es ist in Europa Einigkeit zu erzielen, wenn man sich noch nicht einmal darüber verständigen kann, wie kollektive Hautaufstände zu deuten sind: als Gänsehaut oder als Hühnerhaut oder spezifischer: Hennenhaut. Der Gefühlskompass kommt nicht zur Ruhe. Die revolutionären Franzosen und die calvinistischen Niederlande und die calvinistische Schweiz fühlen mit den in der Verwertungskette deutlich tiefer eingestuften Hühnern oder Hennen, aber was hat die Finnen und die Spanier und die Österrreicher, Allgäuer und Oberbayern bewogen, sich mit dem Hühnerprekariat zu identifizieren, bitteschön? Die anderen machen es nicht unter einer stolzen Gans. 

Als typische Auslöser für Gänsehaut gelten physikalisch Wind und Kälte und ein jäher Temperaturabfall, emotional sind es: Angst, Ekel, Freude, namentlich auch ästhetisch/religiöse Ergriffenheit etwa beim Besuch bei einem Wasserfall, bei Lost places, in der Oper, oder im Kino, auf Musikfestivals, im Theater, im Museum angesichts großer Malerei. Als liberaler Theologe bin ich sofort bereit, die Gänsehaut als leibliche Antwort auf eine religiöse Grunderfahrung oder genauer: Heiligkeitserfahrung zu deuten, die der große Rudolf Ott als mysterium tremendum et fascinans, als Geheimnis, das gleichzeitig als überwältigend, erschreckend und faszinierend, anziehend empfunden wird. Dazu mehr an anderer Stelle…

Am Wasserfall

Nachspiel: Die Ehrfurcht der Schimpansen - Und dann das. Am frühen Sonntag war ich schlagartig hellwach. Die Grand-Dame der  Primatenforschung, Jane Goodall, die über Jahrzehnte eng mit Schimpansen zusammenlebte, war 2023 (Wiederholung 2025) Gast in der 3sat Produktion Sternstunden der Philosophie und äußerte sich über komplexe Gefühle bei Schimpansen, die lügen können, aber offenbar auch Ehrfurcht empfinden. Eingespielt wird ein kurzer Clip, der zeigt, wie Schimpansen bei einem Wasserfall mit einem Ritual reagieren. „Wenn sich Schimpansen nähern, hören sie dieses tosende Geräusch. Ihre Haare stehen zu Berge, sie bewegen sich ein wenig schneller. Und wenn sie hier ankommen, wiegen sie sich rhythmisch, oft aufrecht, heben große Steine auf und werfen sie vielleicht zehn Minuten lang. Manchmal klettern sie an den Lianen den Bach hoch und schwingen sich in die Gischt und stürzen sich ins Wasser, was sie normalerweise vermeiden. Danach sitzen sie im Bach auf dem Felsen, schauen nach oben und beobachten das Wasser: wie es hinunterfällt und dann wieder verschwindet.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Schauspiel oder dieser Tanz am Wasserfall vielleicht durch Gefühle der Ehrfurcht, des Staunens, ausgelöst wird, die wir empfinden.“[2] Das wir ist hier inklusiv gedacht. Dem Gebaren und dem Aufstand der Haare nach zu urteilen, erleben die Schimpansen eine Heiligkeitserfahrung. Sind (hoch entwickelte) Tiere religiös? Haben hier: Schimpansen religiöse Gefühle? Aus phänomenologischer Perspektive ein vorsichtiges: Ja.

Übrigens: Es gibt bei dem amerikanischen Spielzeughersteller Mattel eine Barbiepuppe Dr. Jane Goodall mit einem Schimpansen. Leider ist sie eine Woche nach dem Tod von Jane Goodall ausverkauft.                                                                                                                                        


 

[1] Der kurze Abriss der naturwissenschaftlichen Erklärung des Phänomens Gänsehaut wurde mit Hilfe von ChatGPT und Google KI erarbeitet. Letzter Aufruf am 8. Oktober 2025.

[2] 3sat: Sternstunde der Philosophie: Jane Goodall im Interview mit Barbara Bleisch; 5.10.2025. Ich zitiere die Untertitel mit leichter Korrektur. Wiederholung von 2023.

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.

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