Der Tod nimmt in unserer Gesellschaft eine eigentümlich ambivalente Existenz ein. Zum einen ist er medial fast allgegenwärtig präsent und zum anderen wird er aus dem Bewusstsein verdrängt und privatisiert durch Institutionalisierung des Sterbens in Krankenhäusern, Hospizen oder Pflegeheimen, die zu fehlenden sinnlichen Erfahrungen, zu Sprachlosigkeit und Ohnmacht im Umgang mit Sterben und Tod führt. Sterbe- und Trauerbegleitung gehören zu den Kernaufgaben von Kirche, auch wenn sie längst nicht mehr allein auf dem Markt der Anbietenden agiert. Ulrike Wagner-Rau setzt sich mit dem Umfeld des Todes aus subjektiver Perspektive auseinander, wie sie in autobiografischen literarischen Darstellungen Sterbender und Trauernder kunstvoll artikuliert wird.
In feinfühligen Analysen arbeitet Wagner-Rau heraus, wie Menschen angesichts des Todes um Worte und das Leben ringen und darin zahlreiche Spannungen hervortreten: Zwischen Entfremdung und Nähe zu anderen Menschen, zwischen geschriebenen Worten und Sprachlosigkeit, zwischen Ohnmacht und Kampf, zwischen Schönheit und Verfall – zwischen Leben und Tod. Das Buch ist eine Einladung gegen das Verstummen und die Verdrängung der Endlichkeit und legt eine Vielfalt der Erfahrungen offen, die letztlich auch dazu ermutigen, einen eigenen Weg im Umgang mit der Sterblichkeit zu finden. Berührende Einblicke in die Autobiografien machen Lust auf eine weiterführende Lektüre und eröffnen einen mal schonungslosen, mal zärtlich anmutenden Blick auf die Diversität des Lebens, von der auch das Abschiednehmen und Trauern nicht ausgenommen ist. Von besonderer Intensität ist die Aufarbeitung religiöser Spuren, die sich als verdichtete Deutungen mit Transzendenzbezug auffinden lassen. Während kritische Rationalität gegenüber dem Religiösen dominiert und nur selten explizite religiöse Motive auftauchen, ist fast durchweg eine Sehnsucht nach einem Mehr zu spüren, nach Trost und Sinn, nach etwas, das weitergeht. In Todesnähe kommen Fragen nach dem Wesentlichen, dem Sinn des Lebens aber auch die schmerzliche Kontingenz des Daseins in den Blick. Menschen wüten gegen Gott, sie ringen mit dem Unabänderlichen, bringen Glaubensabbrüche zur Sprache, sie suchen Trost und Hoffnung, finden Sinnoasen und erfinden Rituale, und symbolisieren so das Vielgestaltige des Religiösen.
In einer theologischen Suchbewegung fragt Wagner-Rau nach dem, was ein christlicher Beitrag zur gegenwärtigen Sterbe- und Trauerkultur sein kann, und findet in den sich wandelnden Bildwelten, Texten und Praktiken eine Antwort. Durch Kreativität und Imagination werden Räume geschaffen, die zur Kommunikation und produktiven Auseinandersetzung mit Tod und Sterben und dem sich der Erkenntnis entziehenden Lebensjenseitigen anregen und darin das Unfassbare und Unverfügbare des Lebens erkennen lassen. Es geht also auch in der Begleitung von Sterbenden und Trauernden weniger um eine dauerhafte Herstellung von Sicherheit und Halt, sondern um die Erschließung von Möglichkeitsräumen, die Erfahrungen mit dem Religiösen, fragile Konstruktionen von Sinn, religiöse Suchbewegungen und die Artikulation von Gefühlen erlauben. Ulrike Wagner-Rau ermutigt Akteur:innen kirchlicher Praxis zu Freiheit und einer kreativen Hermeneutik, die christlichen Glauben in Vielstimmigkeit gegenwärtig lebendig werden lässt, und dabei zugleich im respektvollen Dialog den Wandel in den individuellen Glaubensvorstellungen und Lebensdeutungen anzuerkennen und produktiv aufzugreifen. Mehr noch aber geht es um aufmerksames Zuhören, ein Aushalten des Schmerzes angesichts der Endlichkeit und der offenen Fragen und darum, der Ambivalenz des Lebens Raum zu geben. Zahlreiche konkrete Anregungen für die kirchliche Praxis runden das Buch ab. Sie fordern eindrücklich dazu auf, die Begleitung und die Gestaltung des Lebensendes nicht als Selbstverständlichkeit zu betrachten, sondern der bleibend relevanten Thematik trotz schwindender Ressourcen Priorität zuzuordnen.
Annette Haußmann
Dr. Annette Haußmann ist Professorin für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Seelsorgetheorie an der Universität Heidelberg.