Die Beschwichtiger sind viele

Was gestern schon nicht stimmte, bleibt auch morgen verkehrt
Foto: privat

Das Leben ist voller Widersprüche. Manchmal kommen sie zum Austrag, ohne dass man sich entziehen könnte. Ich hab Dich gegoogelt, für den Gulag bist Du gar nicht bedeutend genug, war das Letzte, was er schrieb. Eine Gemeinheit, die verletzen sollte, doch in keiner Weise beruhigend. Denn wer es wissen will, was man ja kann, weiß, diese Keule zielt nie auf Wichtigkeit. Sie schlägt mit Willkür zu, auch heute in den besetzten Gebieten der Ukraine.

Der Gulag ist Staatsterror. Historisches Wissen, das Arbeit erfordert, kümmert den alten Schulfreund indes seit je nur wenig. Ihm lag kopfsturzkecke Deutung von Geschichte bereits näher, als wir aufs Gymnasium gingen, er als Mitglied der DKP-treuen Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ). Die hitzigen Diskussionen mit dem frommen Bekehrten, der ich damals war, sind unschwer vorstellbar. Missen möchte ich sie nicht, schon eher das poltrige Internet-Telefonat neulich. Denn seit dem Wegzug aus Deutschlands Corona-Regime, wie er jene Zeit schmäht, lebt er in Georgien.

Eine arglose Frage gab der Rutschpartie ihren Lauf: Ob er die Nähe Putins nicht fürchte? Im Gegenteil! Wir hatten zuvor nur sporadisch Kontakt. Andeutungen eines gemeinsamen Freundes hatte ich überhört. So war ich unvorbereitet. Und die Situation zu Hause, Nazis im Parlament? Die Einzigen, auf die man zählen könne! Seine Suada Spezialoperation Wissen voller Verschwörungstheorien in szenetypischer Stückelung begann, von Juden finanzierter Weltkrieg inklusive – wenn es doch Juden waren, werde man das wohl noch dürfen.

Es folgten ellenlange Mails mit einschlägigen Links. Auf den Anwurf, das Nachverfolgen verböte mir die für solchen Unfug zu knappe Lebenszeit (auch hier erlaube Arbeit fundiertes Wissen), kam dann die Mail mit dem Gulag. Gesagt hatte ich, um da auf keinen Fall zu landen, stiege ich zum Abdrücken bereit auch auf Barrikaden.

Was nun? Ich lasse weiter herzlich grüßen. Besorgt bin ich doch. Unbeschwichtigt stell ich mir vor, er kehrte zurück – ob nun mit Putin oder unseren Parlamentsnazis an der Macht, die jenen ja nicht von ungefähr hofieren. Ich zähle fünfte Kolonnen und denk an das Münchener Abkommen 1938. Appeasement hieß das seinerzeit. Das deutsche Beschwichtigen gefällt mir besser: Neben zart gehauchtem Besänftigen und Beruhigen schwingen Schwinden, Nachlassen sowie zum Schweigen-Bringen, Schweigsam-Werden darin mit. Wortaspekte, die gleichsam Folgen zeigen: nicht länger wichtig sein; Gewicht, Gesicht, Sprache verlieren; unbedeutend werden. Freiheit ist so bereits im Wort selber als Abschussziel markiert – und der Gulag ein Kurzreim darauf.

Ich wünschte, dieses Rempeln wäre bloß eitle Fopperei alt gewordener Schulfreunde, doch es ist bitterer Ernst. Das „Recht des Stärkeren“ tritt triumphierend wie folgenreich um sich und gibt dem Opfer die Schuld, weil es sich nicht fügt. Und wir stehen erst am Anfang. – Solch Szenario mag man als modisch, da dystopisch, schelten, an der heiklen Lage ändert das nichts und hegt auch nicht das Hinterhältige im Beschwichtigen ein.

Das Thema ist bibelalt und bleibend ungelöst: Propheten und Priester gehen alle mit Lüge um und heilen den Schaden meines Volkes nur obenhin, indem sie sagen: „‚Friede! Friede!‘, und ist doch nicht Friede.“ (Jeremia 8,11) Paranoia-Häme ist da schnell zur Hand, trifft aber die Lage nicht. Angesichts unverstellten Make ass great again-Bramarbasierens verblasst sie vielmehr zu haltlosem Beschwichtigen. Ungestüm bricht denn mitunter auch „Eure blinde Selbstgerechtigkeit kotzt mich an!“ heraus. Von Amazon-Prime-fixierten Wegblickern erst gar nicht zu reden.

Widerspruch fehlt ebenso wie das Hinhören und Nachdenken. Bereits Beschwichtigen enthüllt ein ganzes, von Vogelschiss über 180 Grad bis „Dann heißt es eben …“ (entartet) so floskelreich wie keineswegs verborgen präsentiertes Programm, dessen Folgen keinen Hauch von Zweifel lassen. Der Reim ist kurz. Vor solchem Tableau von Diplomatie, Anteilnehmen und öffentlicher Theologie schwadronieren zu hören, ist da kaum beschwichtigbar: ‚Friede, Friede!‘ und im Lager Eierkuchen?

Nicht ohne Grund bleiben Beschwichtiger in den Seligpreisungen außen vor. Weil sie wissen, für welche Abgründe ihr Kleinreden steht? Es korrespondiert mit einer Gesellschaft permanenter Denunziation, des Belauerns und Anschwärzens. Ich indessen will weiter nicht bedeutend sein – frei leben, denken, reden, schreiben allerdings schon. Abo-Schranke und Paywall schützen da wohl nur bedingt. Das Telefonat mit Georgien will ich dennoch nicht missen. Es hat mich erhellt. Die Beschwichtiger sind viele und manches, Friedensstifter indes kaum. Das Leben bleibt gefährdet. Widersprüche halt, wie es sie so mit sich bringt. 

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