„Ein digitales Lagerfeuer“

Interview mit Evelyne Baumberger, Co-Leiterin des Schweizer Innovationsprojekts RefLab, über digitale und analoge Kirche, Sprache als Handwerkszeug und ein Podcast-Festival in Zürich
Portraitfoto Evelyne Baumberger
Foto: Corinne Gygax
"Ein Großteil des RefLab-Publikums stammt aus Milieus, die traditionelle kirchliche Angebote nicht oder kaum nutzen", sagt Evelyne Baumberger, Co-Leiterin des RefLab in Zürich.

zeitzeichen: Frau Baumberger, vor fünf Jahren wurde das RefLab in Zürich gegründet. Was war die Idee? 

EVELYNE BAUMBERGER: Das RefLab ist ein digitales „Lagerfeuer“ für Menschen, die nicht die traditionellen Kirchenangebote nutzen, sich aber trotzdem als spirituell verstehen. Unsere Zielgruppe ist digital affin, bildungsnah und spirituell interessiert. Diese Menschen sind bei ihrer Beschäftigung mit existenziellen und aktuellen Fragen vorwiegend online und auf Social Media unterwegs. Wir haben den Auftrag, Menschen mit größerer Distanz zur Kirche anzusprechen. Das sind viele, auch unter den Mitgliedern: Hempelmann und Flaig stellten 2019 fest, dass das kirchgemeindliche Leben nur noch zwei bis drei von damals zehn sogenannten Sinus-Milieus erreicht, nämlich eher die traditionellen und bürgerlichen Milieus. Dabei handelt es sich beim RefLab um die Umgestaltung und Modernisierung eines Bereichs der reformierten Kirche im Kanton Zürich, den es bereits gab – es wurde also dafür kein zusätzlicher Etat geschaffen.

Und? Haben Sie mit Podcasts, Videos, Social-Media-Beiträgen und Blogs Milieus erreicht, die sonst nicht mehr in den normalen Gottesdiensten sitzen? 

EVELYNE BAUMBERGER: Ja: Ein Großteil des RefLab-Publikums stammt aus Milieus, die traditionelle kirchliche Angebote nicht oder kaum nutzen. Eine Marktforschungsstudie ergab 2022, dass vier von zehn RefLab-Followern zu den «Distanzierten» gehören oder sogar aus der Kirche ausgetreten sind. Obwohl wir die Zielgruppen nicht nach Alter definiert haben, erreichen wir zudem auf Social Media jüngere und mittlere Altersgruppen, die in Gemeinden oft fehlen. Grob gesagt sind ein Drittel derjenigen, die unsere Angebote nutzen zwischen 25 und 35, ein Drittel ist bis 45 und dann noch ein Drittel bis 65 Jahre alt. Wir haben aber auch festgestellt, dass einige Milieus für uns schwer erreichbar sind, zum Beispiel die sogenannten „Performer“. Wir reflektieren unsere Strategie regelmäßig und lernen aus Rückmeldungen. 

"Unsere Arbeit entspricht nicht den parochialen Kirchenstrukturen."

Diese Menschen stammen gewiss nicht alle aus Zürich und Umgebung, ein beträchtlicher Teil der Abonnent:innen stammt auch aus Deutschland. Gleichwohl finanziert die Reformierte Kirche Zürich das Projekt allein. Sorgt das nicht für Verstimmung?

EVELYNE BAUMBERGER: Das RefLab wird immer mehr als Erweiterung des klassischen kirchlichen Angebotes im Kanton Zürich betrachtet. Und genau das wollen und sollen wir ja auch sein. Kirchgemeinden nutzen unsere Inhalte teilweise auch für ihre Arbeit. Wir haben zum Beispiel eine „Toolbox entwickelt, ein PDF, in dem wir Inhalte für den Konfi-Unterricht oder die Erwachsenenbildung aufbereitet anbieten. Und mit dem RefLab Podcast-Festival organisieren wir diesen Herbst eine hochkarätige analoge Veranstaltung in Zürich. Wir freuen uns natürlich, dass das Interesse auch über die Kantonsgrenzen hinweg groß ist. Aber in der Tat mussten und müssen wir immer wieder Verständnis schaffen für die Logiken des digitalen Raums, die keine Kantons- oder Landesgrenzen kennen. Unsere Arbeit entspricht nicht den parochialen Kirchenstrukturen – wie das bei kirchlichen Innovationsprojekten ja häufig der Fall ist. 

Podcast-Festival 2024: Gespräch mit der Philosophin Barbara Bleisch
Foto: Raphael Ammann

"Und mit dem RefLab Podcast-Festival organisieren wir diesen Herbst eine hochkarätige analoge Veranstaltung in Zürich. " Hier der Blick auf eine Veranstaltung des Festivals 2024 mit der Philosophin Barbara Bleisch.

Was kostet das RefLab im Jahr?

So viel wie eine kleinere Kirchengemeinde.

Gibt es eine bestimmte theologische Richtung, für die das RefLab steht? 

EVELYNE BAUMBERGER: Wir gehören zur reformierten Kirche und verstehen uns in dieser Tradition. Doch wir haben diverse Autorinnen und Autoren und unterscheiden uns auch bewusst in unseren theologischen Positionen. Die verschiedenen Sichtweisen machen die Zusammenarbeit reizvoll – aber vor allem bieten sie Identifikationsmöglichkeiten für Menschen mit unterschiedlichem theologischen und lebensweltlichen Hintergrund. 

Sie waren auch zu Gast Kirchentag in Hannover. Wie haben Sie ihn wahrgenommen? 

EVELYNE BAUMBERGER: Ich nehme den Kirchentag als sehr traditionsreiche Veranstaltung wahr, gleichzeitig ist er in Bewegung. Ich war in einigen Veranstaltungen, die mich inhaltlich sehr inspiriert haben, die innovativ waren, am Puls der Zeit, mit sehr spannenden Menschen. Als RefLab-Team war es für uns eine Bereicherung, dort zu sein und mit anderen digitalen Netzwerken aus dem kirchlichen Raum einen Stand zu haben. Es tut gut, wenn man sich hin und wieder auch mal offline sieht. 

Sie waren ja nicht nur Teilnehmerin des Kirchentages, sondern haben an prominenter Stelle mitgewirkt. Sie haben in einem der Eröffnungsgottesdienste gepredigt. Wie war das?

EVELYNE BAUMBERGER: Das war für mich eine Erfahrung, die analog und digital verschmelzen ließ. Ich wurde ja für die Predigt in leichter Sprache angefragt wegen meiner Videos, in denen ich den Anspruch habe, auch theologisch komplexe Dinge verständlich auszudrücken. Jetzt mal nicht vor der Kamera, sondern live vor so vielen Menschen sprechen zu dürfen, fühlte sich unglaublich an. Ich habe das zudem als große Ehre empfunden – als Schweizerin und als Online-Creatorin. Der Kirchentag zeigte damit, dass er Spiritualität und Theologie in der digitalen Welt auch wahrnimmt und anerkennt, dass das ein Teil von Kirche ist.

 "Mir fällt immer wieder auf, dass innerhalb der Kirche unterschieden wird zwischen „wir“ und „die Menschen“. Das erscheint mir absurd..."

Die Kirchen in Deutschland und der Schweiz verlieren an gesellschaftlicher Relevanz. Was müsste passieren, damit sie wieder wichtig werden für die Menschen?

EVELYNE BAUMBERGER: Das Buch „Kirche gestalten“ von Uta Pohl-Patalong hat mich in dieser Hinsicht sehr angeregt. Darin zeigt sie drei Möglichkeiten auf: Entweder Kirche macht einfach weiter wie bisher, dann geht es ziemlich schnell, bis sie am Ende ist. Oder man schraubt hier ein wenig und modernisiert dort ein bisschen, dann dauert es etwas länger. Oder man denkt Kirche wirklich nochmal neu, entlastet sich von falschen Erwartungen, reformiert Strukturen. Man schaut hin, was in der heutigen Zeit an spirituellen Angeboten, an Vergemeinschaftung, an Transzendenz gebraucht und gesucht wird. 

Wie sieht das praktisch aus?

EVELYNE BAUMBERGER: Relevanz hat meines Erachtens auch mit Sprache und Wahrnehmung zu tun. Mir fällt immer wieder auf, dass innerhalb der Kirche unterschieden wird zwischen „wir“ und „die Menschen“. Das erscheint mir absurd, denn Kirche, das sind ja auch Menschen. Ich wünschte mir, man würde von dieser Denkhaltung wegkommen und sich selber als kirchliche Mitarbeitende auch als Teil dieser Menschheit sehen. Zum Beispiel ehrlich fragen, wie geht es mir denn mit dem, was in der Welt geschieht? Welche Rolle spielt mein Glaube da? Es geht auch um eine Übersetzung der Sprache des Glaubens ins Leben. Was bedeutet es für mich als Mensch Evelyne zum Beispiel, wenn ich sage, „Gottes Gnade ist für alle da“? „Gnade“, was heißt das, und was bedeutet sie konkret? Für mich ist Gnade zum Beispiel, wenn ich eine offene Kirche betrete, wo ein Klavier rumsteht und ich ein bisschen spielen und beten darf. Oder wenn ich auf ein Video persönliche Kommentare von Menschen aus meiner Community erhalte, die mir noch eine neue theologische Perspektive schenken. Wenn ich wirklich durchdenke, was theologische Begriffe bedeuten, auch sprachlich, auch erfahrungsbezogen, dann lebe ich Kirche anders. 

"Ich wollte wissen, wie ich als Feministin, als gebildete, aufgeklärte Frau im 21. Jahrhundert in der christlichen Tradition an Gott glauben kann." 

Sie haben erst im vergangenen Jahr ihr Theologiestudium mit einem Master abgeschlossen, zuvor haben Sie als Journalistin gearbeitet. Was kann die Theologin von der Journalistin lernen? 

EVELYNE BAUMBERGER: Sprache als Handwerk zu verstehen, zum Beispiel, und dass man sich im Wettkampf um Aufmerksamkeit befindet. Im Printjournalismus, wo ich angefangen habe, muss man so schreiben, dass die Leute Lust haben, dran zu bleiben und bis zum Ende des Textes zu lesen. Das gilt umso mehr für Radio und bei meiner Arbeit jetzt im RefLab auch für Podcast und Videos: Ich will, dass Leute mir bis zum Schluss zuhören und dass ihnen das möglichst leichtfällt. Das journalistische Handwerkszeug und die Zielgruppenorientierung helfen mir jetzt als Theologin sehr.

Warum kam der Wunsch auf, als Journalistin nochmal Theologie zu studieren?

EVELYNE BAUMBERGER: Ich wollte wissen, wie ich als Feministin, als gebildete, aufgeklärte Frau im 21. Jahrhundert in der christlichen Tradition an Gott glauben kann. 

Und? Haben Sie die Antwort gefunden? 

EVELYNE BAUMBERGER: Ja – ich habe viele Positionen und Hintergründe kennengelernt. Ich erlebe tatsächlich auch Spiritualität im Intellektuellen. Wenn ich an einer Predigt oder einem Video-Script arbeite, wenn ich Auslegungen lese, wenn ich in die Begriffe gehe, in die Grundsprachen, dann mache ich dabei oft begeisternde, ja spirituelle Erfahrungen. Für mich war das Studium sehr bereichernd. Und jetzt ist es mir ein Anliegen, die christliche Botschaft, die ich eben auch als Feministin im 21. Jahrhundert noch als anschlussfähig und als wertvoll erlebe, als Angebot zu diskutieren und weiterzugeben. 

Wir fragen: Was brauchen wir, dass es immer wieder mal gut wird? Wo finden wir Inspiration und Mut? 

Das kann und soll auch geschehen auf dem Podcast-Festival, zu dem RefLab für den 6. und 7. September nach Zürich einlädt. Das Motto heißt: „Alles wird gut.“ Echt jetzt?

EVELYNE BAUMBERGER: Ja, der Titel mag provozieren. Wir wollen keine falschen Utopien hegen. Aber wir fragen: Was brauchen wir, dass es immer wieder mal gut wird? Wo finden wir Inspiration und Mut? Was gibt Resilienz, wenn die Welt oder das eigene Leben aus den Fugen ist? „Alles wird gut“ ist Ausdruck von Hoffnung, auch wenn wir Menschen nicht alles in der Hand haben oder zurechtbiegen können. Für uns ist die spirituelle oder die religiöse Perspektive eine von verschiedenen Ressourcen, über die wir ins Gespräch kommen wollen. Es ist uns gelungen, großartige Podcasts aus religiösem und nicht-religiösem Bereich für Live-Aufnahmen zu diesem Thema zu gewinnen: etwa die beiden Zeit-Podcasts „Unter Pfarrerstöchtern“ und „Die sogenannte Gegenwart“. Auch beliebte Schweizer Podcasts wie „Kafi am Freitag“ oder die Sternstunden-Moderatorin Olivia Röllin werden zu Gast sein. Da sind spannende und auch inspirierende Gespräche zu erwarten. Und dazwischen wird es auch Entdeckungen geben, kleinere, neuere Podcasts. 

Was wird anders sein, als beim letzten Mal?

EVELYNE BAUMBERGER: Wir haben das letzte Podcast-Festival als sehr schön erlebt. Gerade der Austausch mit Menschen, die wir teilweise schon digital kannten, war toll und hat uns als Team einen Schub gegeben. Wir haben deshalb noch mehr Zeiten zwischen den Veranstaltungen eingeplant für Begegnungen und das Festival dauert insgesamt etwas länger. Wir haben zudem einen großen Sprung gemacht, was unser Line-Up angeht. Und diesmal findet das Festival im Kulturareal Mühle Tiefenbrunnen in Zürich statt. Wir freuen uns sehr darauf. 

Die Inhalte des RefLab findet man auf Social Media sowie auf reflab.ch

Infos zum Podcast-Festival gibt es unter reflab-festival.ch. 

Das Interview führte Stephan Kosch am 2. Juli per Videokonferenz.

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Foto: Corinne Gygax

Evelyne Baumberger

Evelyne Baumberger ist Co-Leiterin des RefLab in Zürich. Die Journalistin und Theologin produziert Kurz-Videos auf Schweizerdeutsch zu theologischen Fragen und verantwortet den Podcast „Unter freiem Himmel“. Auf dem Kirchentag in Hannover hielt sie die Eröffnungspredigt in „leichter Sprache.“

Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 

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