„Nein, ich schäme mich nicht“

Ein Gespräch mit Heinrich Bedford-Strohm, Vorsitzender des Zentralausschusses des Weltkirchenrats (ÖRK), zu dessen umstrittener Israel-Palästina-Erklärung, den Triggerbegriff Apartheid und die Frage, ob er an Rücktritt gedacht hat.
Portraitfoto Heinrich Bedford-Strohm
Foto: epd-bild/Heike Lyding
Heinrich Bedford-Strohm zur Arbeit im Weltkirchenrat: "Die extreme Polarisierung zu überwinden, sehe ich auch als meine Aufgabe."

zeitzeichen:  Herr Bedford-Strohm, haben Sie entweder kurz vor der Veröffentlichung oder nach der Veröffentlichung der umstrittenen Israel-Palästina-Erklärung des Zentralausschusses des Weltkirchenrats (ÖRK)den Sie ja leiten, an einen Rücktritt gedacht? 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Nein, habe ich nicht, und das hielte ich auch für völlig unangemessen und im Übrigen auch für kontraproduktiv im Sinne der Interessen der Menschen, die als Jüdinnen und Juden oder in Israel lebend eben jetzt Probleme mit diesem Beschluss haben. Denn genau jetzt braucht es Menschen, die beide Sichten wahrnehmen, aufnehmen und in ihrem eigenen Denken berücksichtigen. Darum bemühe ich mich. Die extreme Polarisierung, die immer mehr überhandnimmt in den Gesellschaften, auch teilweise in den Kirchen, diese Polarisierung zu überwinden, sehe ich auch als meine Aufgabe. 

Aber diese Erklärung kann doch nicht wirklich in Ihrem Sinne gewesen sein, oder? So wie Sie sich bisher öffentlich geäußert hatten. 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Ich habe ja zum Ausdruck gebracht, unter anderem auf Facebook, dass ich den Begriff ‚Apartheid‘ in dieser Erklärung selbst nicht gebrauchen werde. Und Sie kennen die Vorgeschichte dieses Beschlusses: In Karlsruhe 2022 wurde im ÖRK schon heftig gestritten um diesen Begriff. Da haben wir uns aus Deutschland deutlich kritisch geäußert. Diese Diskussion hat dazu geführt, dass man einen Prüfauftrag vergeben hat, der gesagt hat: Lasst uns bei der Israel-Palästina-Frage nochmal genauer nachbohren. Diese Prüfung hat inzwischen stattgefunden im Rahmen einer Arbeitsgruppe. Amnesty International und andere Organisationen haben ja diesen Begriff Apartheid ausdrücklich als angemessen bezeichnet. In diesem Zusammenhang haben natürlich auch einige Kirchen, die schon in Karlsruhe Probleme mit diesem Begriff hatten, sich geäußert. Auch wir, auch ich selbst habe gesagt, warum ich diesen Begriff nicht für hilfreich halte. So sehr er im Moment Ausdruck der Emotionen ist, die viele Menschen, mich eingeschlossen, angesichts des Leids in Gaza, aber auch auf der Westbank, empfinden.

In der Erklärung wird aber mit keiner Silbe an den mörderischen Überfall der Hamas vom 7. Oktober 1923 erinnert, bei der ja immerhin ungefähr 1000 Israelis von der Hamas getötet wurden. Da werden die Geiseln auch nicht genannt, die immer noch in der Gewalt der Hamas sind. Das Ganze wirkt so, als ob das nur aus der palästinensischen Perspektive geschrieben ist. Die israelische kommt nicht vor. 

Der ÖRK hat selbstverständlich immer wieder mit scharfen Worten den mörderischen Angriff der Hamas verurteilt.

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Man muss diesen Beschluss als eine Antwort auf den Prüfauftrag sehen, ob man den Begriff Apartheid verwenden soll oder nicht. Ich will aber darauf hinweisen, dass der ÖRK selbstverständlich immer wieder mit scharfen Worten den mörderischen Angriff der Hamas verurteilt hat. 

Warum dann nicht in dieser Erklärung? 

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Wir verurteilen in verschiedenen Erklärungen die Angriffe auf Zivilisten, die Tötung so vieler unschuldiger Kinder, Frauen und Männer sowie die Geiselnahme und den Einsatz von Zivilisten als menschliche Schutzschilde. An einer Stelle heißt es: Die fehlende Achtung des Völkerrechts durch die Hamas spiegelt sich auch in der Art der Hamas-Angriffe vom 7. Oktober wieder, die auf Berichten über die extremsten und unmenschlichsten Formen des Tötens, der Folter und anderer Schrecken einschließlich sexueller Gewalt beruhen.

Aber das ist eine alte Erklärung. 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Ja, das ist eine alte Erklärung. Und die gilt natürlich genauso weiter wie das, was wir jetzt sagen.

Und in der neuen Erklärung kommt das eben nicht vor. 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Ich hätte es, insbesondere wenn man diese Missverständnisse jetzt wahrnimmt, auch gut gefunden, wenn man das ausdrücklich noch einmal gesagt hätte. Aber es gab einen bestimmten Auftrag, den die Erklärung erfüllt hat. Er hat jetzt nicht nochmal alle anderen Sachen wiederholt, die wir auch schon gesagt haben. Ich sage das nur, um der immer wieder geäußerten Behauptung zu widersprechen, der Weltkirchenrat würde diese schrecklichen Verbrechen vom 7. Oktober nicht in aller Schärfe verurteilen. 

Haben Sie denn versucht, in diesen Wortlaut der Erklärung als Vorsitzender des Zentralausschusses einzugreifen? Ihn abzumildern in gewisser Weise? 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Ich war in dem Ausschuss für öffentliche Angelegenheiten, der diese Erklärung vorbereitet hat und habe da meine Meinung gesagt. Ich unterscheide drei Dimensionen der Verwendung dieses Begriffs Apartheid und anderer Begriffe. Das erste ist die emotionale Dimension. Emotional kann man das, was gegenwärtig in Gaza passiert, gar nicht scharf genug verurteilen. Der Tod von so vielen tausenden Kindern, die nichts mit irgendwelchen Gewalttaten zu tun haben und von so vielen Zivilisten, der wird durch keinen noch so brutalen Angriff der Hamas gerechtfertigt. Und dass dadurch auch keine Sicherheit in Israel entsteht, davon bin ich auch überzeugt. Denn wer sein totes Baby aus den Trümmern seines Hauses zieht, der wird nicht zum Friedenskämpfer, sondern der wird eher radikalisiert. 

Was wäre dann die zweite Dimension?

 Völkerrechtlich scheint es so zu sein, dass man plausibel einen Begriff wie Apartheid nutzen kann. 

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Das ist die juristische Dimension, die völkerrechtliche Prüfung. Damit hat sich diese Arbeitsgruppe sehr genau beschäftigt, hat nicht nur Amnesty International und die anderen Berichte analysiert, sondern auch die völkerrechtlichen Texte. Und da gibt es eben schon Texte, die deutlich darauf hinweisen, dass die Konvention damit gebrochen wird, die sich mit Rassismus und mit Apartheid beschäftigt. Diese Texte sind also zur Kenntnis genommen worden. Jedenfalls völkerrechtlich scheint es so zu sein, dass man plausibel einen Begriff wie Apartheid nutzen kann. Aber das ist sicher noch umstritten. 

Und die dritte?

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Das ist die strategische Dimension. Ich glaube nicht, dass dieser Begriff hilfreich ist, weil er Dialoge eher erschwert als erleichtert. Und ich wünsche mir, dass wir die Sicht etwa der durch den 7. Oktober retraumatisierten Jüdinnen und Juden deutlicher wahrnehmen. Das versuche ich als Vorsitzender, auch wenn man mir in dieser Frage nicht gefolgt ist, auch immer wieder einzubringen.

Haben Sie sich dann enthalten bei der Abstimmung über diese Erklärung? 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Das war in dem Fall gar keine Frage, weil ich die Versammlung geleitet habe und der Versammlungsleiter nach den geltenden Regeln keine Karte hebt. Aber die Stimmen, die sich vorher geäußert haben mit abweichenden Voten, die sind protokolliert. Dann ist die Gesamterklärung auch im Konsens verabschiedet worden. 

Sie als Vorsitzende haben also eine Protokollnotiz hinterlassen, dass Sie das nicht mittragen?

HEINRICH BEDFORD-STROHM:    Das ist eingeflossen in die allgemeine Protokollnotiz, die gesagt hat, dass es auch Stimmen gab, die die Verwendung dieses Begriffes Apartheid nicht für hilfreich halten. 

Apartheid ist in Bezug auf Israel ja fast ein kontaminierter Begriff. Da gehen die Emotionen gleich hoch. 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Ja, so ist es. Es ist ein Triggerbegriff.

Wir haben es in Israel nicht mit weißen Kolonialisten zu tun, die sich Land nehmen, um wirtschaftlich zu prosperieren.

In dieser Erklärung wird ganz klar von einem „System der Apartheid“ gesprochen, das Israel dem palästinensischen Volk auferlegt habe. Passt denn dieser Begriff Ihrer Meinung nach? Israel würde dadurch ja mit dem damaligen südafrikanischen Regime auf eine Ebene gehoben, es wäre sozusagen ein rassistisches System oder eine rassistische Regierung, die da in Israel gesehen wird. Glauben Sie, das ist wirklich passend? 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Ich habe öffentlich, aber auch in den Sitzungen darauf hingewiesen, dass ich Analogien und Unterschiede sehe. Es gibt Analogien, weil es tatsächlich, etwa in der Westbank, eine Situation gibt, wo eine bestimmte Gruppe von Menschen, in diesem Fall eben die Palästinenser, bestimmte Rechte nicht hat. Da werden Leute ohne Verfahren inhaftiert über lange Zeit. Da wird sich Land genommen, was anderen gehört, und die Polizei schaut zu. Gleichzeitig gibt es aber auch Unterschiede. Der größte Unterschied für mich besteht darin, dass wir es in Israel nicht mit weißen Kolonialisten zu tun haben, die sich Land nehmen, um dort wirtschaftlich zu prosperieren, sondern hier handelt es sich um ein absolut traumatisiertes Volk, bei dem bis 1945 sechs Millionen Menschen ermordet worden sind und das durch den UNO-Beschluss den einen Ort auf der Welt fand, wo es sich sicher fühlen kann. Ich habe auch immer wieder gesagt, was ich mit dem Begriff Retraumatisierung meine, nämlich, dass Jüdinnen und Juden in aller Welt sagen: Wenn ich in meinem Land solchen Antisemitismus, solche Verfolgung erfahre, dann gibt es einen Ort, wo ich hingehen kann. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat mal zu mir gesagt: Der Staat Israel ist meine Lebensversicherung. Das ist mir sehr im Herzen geblieben. 

Das ist ja nicht umstritten. Umstritten ist dieser Begriff Apartheid, weil er eben unterstellt, dass der israelische Staat rassistisch sei

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Unterschied und Analogie betone ich deswegen so, weil wir eben genau unterscheiden müssen. Wir müssen verstehen, was an diesem Begriff Apartheid andockt bei den Menschen in anderen Kontexten der Welt, eben nicht nur bei den Palästinensern. Die Tatsache, dass so viele auf der ganzen Welt die Analogie so stark sehen, das muss uns doch nachdenklich machen. Denn es hat ja Gründe. Die Erfahrung, die die Menschen in Palästina machen, die ist so, dass sie als Gruppe anders behandelt werden. Die Eskalation in jüngerer Zeit hat das noch verschärft: Die brutalen Morde des 7. Oktober, dann die völlig unverhältnismäßige Reaktion auf diesen Angriff. Dann ist Trump in den USA gewählt worden. Ein US-Botschafter ist nach Israel berufen worden, Mike Huckabee, der als christlicher Zionist bekannt ist und der überhaupt kein Hehl draus macht, dass er eine Annexion der besetzten Gebiete durch Israel anstrebt. Er spricht auch nur von Judäa und Samaria, nicht von Palästina. Das alles sind doch klare Hinweise, dass leider im Moment die Kräfte in der amerikanischen Regierung, aber eben auch in der israelischen Regierung die Oberhand behalten haben, die all das tatsächlich anzustreben scheinen, was man früher als falsche Unterstellung gesehen hat: ethnische Säuberung oder Annexion. Die Zwei-Staaten-Lösung wird von den gegenwärtig Regierenden nicht befürwortet. Deswegen muss man doch die Frage stellen, was ist denn die Alternative? Ein Staat, in dem Jüdinnen und Juden bestimmen und in dem dann die anderen eben nicht die gleichen Rechte haben? Das ist doch im Moment die Richtung der Politik Israels, und ich verstehe diese Erklärung auch als Aufschrei gegenüber dieser Entwicklung. 

Jetzt fordert die Erklärung unter anderem die Kirchen auf, Sanktionen, Desinvestitionen und Waffenembargos gegen Israel zu verhängen oder zu fordern. Gerade dieses Wort Desinvestitionen erinnert doch stark an die BDS-Bewegung. Sind Sie ein Anhänger der BDS-Bewegung? 

Der ÖRK hat von 1948 an immer das Existenzrecht Israels betont, das hat sich auch nicht geändert.

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Nein das kann ich hier ganz klar sagen. Ich habe auch deutlich dazu Stellung genommen in unseren Beratungen. Es ist kein Zufall, dass dieser Begriff und diese Bewegung hier nicht erwähnt wird, obwohl manche das gewollt hätten. Der Grund liegt darin, dass es zwar bei der BDS, die eine sehr heterogene Bewegung ist, gewaltfreie Menschen gibt, die einfach sagen: Das ist unser einziges Mittel des gewaltfreien Widerstands, Sanktionen. Dass es aber in dieser BDS-Bewegung eben auch Leute gibt, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, das darf nicht sein. Der ÖRK hat von 1948 an immer das Existenzrecht Israels betont, das hat sich auch nicht geändert. BDS ist eben nicht nur eines der Triggerworte, sondern schließt in seinem Bedeutungsspektrum auch Menschen mit ein, die auf gar keinen Fall die Ziele verfolgen, die der Weltkirchenrat verfolgt. Deswegen bin ich froh, dass dieser Begriff nicht drin ist. 

Aber Sanktionen und Desinvestitionen, das ist ja im Grunde das Gleiche, was die BDS will. Das Wort ist vielleicht nicht genannt, aber es scheint genau das gemeint zu sein, oder? 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Das ist sehr viel differenzierter, denn zum Beispiel die Forderung nach Sanktionen gegen Waren aus der besetzten Westbank, dort in illegalen Siedlungen produzierte Waren, gibt es schon in früheren Erklärungen des Weltkirchenrats. Man muss auch hier den Kontext sehen. Die Palästinenser dort haben seit Jahrzehnten um ihre Rechte gekämpft und sind immer wieder vertröstet worden. Man hat ihnen gesagt: Ja, wir wollen einen gerechten Frieden, wir wollen eine Zwei-Staaten-Lösung, aber nichts hat sich geändert. Die Verhältnisse sind einfach so gelassen worden. Sie sagen jetzt: Welches Mittel haben wir denn noch unterhalb der Schwelle zur Gewalt, die wir ablehnen? Sie sehen Sanktionen als ein solches Mittel.  Das finde ich, muss man wirklich aushalten. 

Aber worüber wir jetzt reden ist eine Erklärung des ÖRK und nicht eine Erklärung von Palästinensern im Westjordanland. Das ist schon ein Unterschied. 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Aber an der Stelle ist der ÖRK an der Seite der Palästinenser, die zu Recht sagen, wir wollen gleiche Rechte haben. Und wir müssen irgendwelche Mittel, gewaltfreie Mittel finden, um die Weltöffentlichkeit in dieser Hinsicht an unsere Seite zu bringen und ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern in der Zukunft zu ermöglichen. 

In der Erklärung wird über die „Führungsrolle der südafrikanischen Regierung im Streben nach Gerechtigkeit“ gesprochen. Wo sehen Sie diese Führungsrolle der südafrikanischen Regierung? 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Also ich sage grundsätzlich, dass das Völkerrecht für alle gelten muss. Die Gefahr ist sehr groß, das Völkerrecht nur dann zu zitieren, wenn es in die eigene Politik passt. Deswegen trete ich zusammen mit dem Weltkirchenrat in beide Richtungen dafür ein, dass wir das Völkerrecht wirklich achten und ernst nehmen. Wir haben im Moment kein anderes Instrument. Wir leben in einer Situation, in der Autokraten das Recht in die eigene Hand nehmen. Wir brauchen gerade in dieser Situation eine Stärkung des internationalen Rechts. Die geht nur so, dass wir uns alle, auch da, wo es uns nicht passt, an die Regelung des internationalen Rechts halten. Da hat Südafrika einen Vorstoß gemacht. 

In Deutschland ist das Wort Boykott ganz anders aufgeladen.

Wie kommt es nach Ihrer Analyse, Sie haben da jetzt seit einigen Jahren ja verstärkt Einblick, dass gerade die Kirchen im Süden der Welt häufig so eine stark israelkritische Position haben? Wie erklären Sie sich das? 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Ich erkläre mir das so, dass die Kirchen aus dem Süden eben sehr stark die Situation der Rechtlosigkeit kennen, die Situation auch der Armut, die Situation, dass es eine starke Macht gibt, die die Interessen der Schwachen missachtet. Dann werden Analogien gezogen. Die Palästinenser und Palästinenserinnen können nun viele Geschichten darüber erzählen, wie sie ähnliche Erfahrungen machen. Das alles führt dazu, dass man sich solidarisiert mit den Schwachen. Und dieses Faktum selbst ist ja nun auch sehr gut biblisch begründet. Man muss es nur eben auf die Situation anwenden. Da bin ich eine Stimme im Weltkirchenrat, die sagt, ihr müsst euch immer klar machen, etwa beim Wort Boykott, dass Boykott in Südafrika der erste Schritt in die Freiheit war. So war das. In Deutschland ist das Wort Boykott ganz anders aufgeladen.

„Kauft nicht bei Juden“ fällt einem in Deutschland ein.

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Genau. Und dass dies der erste Schritt in die Gaskammern war. Das sage ich auch im ÖRK. Und es weckt auch eine gewisse Nachdenklichkeit. Ich glaube, dass ich in der Rolle als Vorsitzender des Weltkirchenrats genau da am richtigen Platz bin. Ich möchte, dass wir radikale Leidsensibilität zeigen und zwar auf allen Seiten. Und deswegen rede ich zu Ihnen jetzt hier in Deutschland anders, als wenn ich mit Menschen in Südafrika rede. Da führen wir auch leidenschaftliche Diskussionen, die manchmal an der Grenze sind zum Zerbrechen von Beziehungen, weil die Dinge so emotional sind. Aber da vertrete ich das, was ich im christlich-jüdischen Dialog aufgesogen habe. Nämlich die unglaubliche, die schreckliche Traumatisierung durch diesen unfassbaren Völkermord an den Juden. Das betrifft nicht nur Deutsche, sage ich dann auch, sondern das betrifft die ganze Welt, dass so etwas möglich war. Aber ich höre umgekehrt auch sehr genau zu. Es sind universale Werte, die ich als Konsequenz aus dem Holocaust verinnerlicht habe. Sie gelten für alle Menschen. 

Ihre Position, das haben Sie ja deutlich gemacht, entspricht aber nicht dieser israelkritischen oder israelfeindlichen Grundrichtung im ÖRK. Das heißt, Sie scheinen sich mit Ihrer Position kaum durchsetzen zu können, obwohl Sie ja keine kleine Stellung im ÖRK haben. Wie kommen Sie damit zurecht? 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Ich würde sagen, der ÖRK muss damit leben, dass sein Vorsitzender an der Stelle den Begriff Apartheid nicht gebrauchen will. Umgekehrt muss ich aber auch nicht nur mit der jetzt eigenommen Position leben, sondern ich will auch zuhören, was die Menschen in aller Welt sagen. Ich finde, wir sollten in Deutschland viel mehr das in unseren Diskurs einbeziehen, egal wie wir dazu stehen, was Menschen in anderen Teilen der Welt sagen, und nicht sofort aufschreien, wenn scharfe Begriffe kommen, sondern wir müssen diese Diskussion führen. Wir müssen auch die Doppelbödigkeit, die Doppelmoral in bestimmten Stellungnahmen, egal von welcher Seite, entlarven, die sich immer nur über die Taten der anderen empört und nur die eigene Seite sieht. Wir müssen wahrnehmen, was die andere Seite an vielleicht verunsichernden, aber bedenkenswerten Argumenten zu bringen hat. Das ist für mich der einzige Weg, um irgendwie weiterzukommen. 

Es befremdet mich, wie Leute höchst emotional gegen diesen Beschluss wettern, aber an keiner Stelle oder nur im Nebensatz Mitgefühl für die schreckliche Situation der Menschen in Gaza zeigen.

Was bedeutet das konkret?

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Das bedeutet in diesem Konflikt besonders, aber in vielen anderen Konflikten auch: Einfach die Sicht des anderen einmal an sich ranlassen. Es befremdet mich, wie Leute höchst emotional, manchmal auch beleidigend, gegen diesen Beschluss wettern, aber an keiner Stelle oder nur im Nebensatz Mitgefühl für die schreckliche Situation der Menschen in Gaza zeigen. Dass man Kindern die Nahrungsmittel vorenthält, die für ihr Leben lang durch diese lange Zeit der Unterernährung geschädigt sein werden. Ein Arzt aus dem Gazastreifen hat mir bei einer Videokonferenz gesagt: Ich habe heute 310 Kinder gesehen, 105 davon waren mangelernährt. Das ist doch unfassbar! Wir müssen auch hier in Deutschland dagegen die Stimme erheben, und das sehe ich auch als Auftrag meines Weltkirchenrats. Aber umgekehrt muss ich auch das, was Jüdinnen und Juden empfinden, die ja nicht Mitglied im ÖRK sein können, weil sie eben keine christlichen Gemeinden sind, in unsere Beratungen einbringen. Da sehe ich mich ein Stückchen als Botschafter. Wir haben eben palästinensische Mitgliedskirchen, aber keine jüdischen Mitgliedskirchen. 

Sie haben das große Treffen des ÖRK in Karlsruhe 2022 erwähnt. Da hatte man den Eindruck, dass die Evangelische Kirche in Deutschland mit ihrer Position in der Minderheit ist und sich nicht mehr durchsetzen kann. Trotzdem würden Sie sagen, die EKD sollte nicht austreten aus dem ÖRK? 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Auf gar keinen Fall.

Obwohl die EKD dauernd unterliegt mit ihren Positionen? 

HEINRICH BEDFORD-STROHM:   Nein, das ist nicht so. Sie unterliegt überhaupt nicht dauernd, sondern sie versucht zuzuhören. Und es wäre ja noch schöner, wenn eine Kirche bei einem Thema, was so existenziell in beiden Richtungen ist, wenn sie sich daraus zurückziehen würde. Es würde übrigens auch Israel überhaupt nichts bringen. Im Gegenteil. Man muss sich ja klarmachen, dass etwa auch die skandinavischen und amerikanischen Kirchen deutlich für diesen Israel-Palästina-Beschluss votiert haben. Jetzt zu sagen, wir ziehen uns zurück aus diesen Dialogen, das wäre völlig kontraproduktiv. Außerdem sind wir nicht nur im ÖRK, damit wir unsere Stimme dort einbringen können, sondern auch, weil wir dazulernen, alle Seiten hören wollen. Es ist immer falsch, sich aus solchen Gremien zurückzuziehen. Helmut Gollwitzer hat mal mit Bezug auf die Ökumene bei seiner letzten Vorlesung in Heidelberg gesagt, bei der Frage, ob man austritt aus Kirchen und eine neue Kirche gründet: Du darfst die anderen nie von dir befreien. Diesen Satz habe ich nie vergessen. 

Was mich vor allem bewegt, ist das schreckliche Leid auf beiden Seiten, nicht Scham über diesen Beschluss.

Aber die EKD ist eine der wichtigsten Geldgeber im ÖRK. Können Sie bei einer so existenziellen Frage wie Israel und Palästina, die Sie geschildert haben, verstehen, dass da manche deutsche Protestanten sagen: Also für diesen Verein, in der ich mit meinem Positionen dauernd unterliege, möchte ich nicht mehr so viel Geld geben? 

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Ich kann verstehen, wenn Menschen sich ärgern über bestimmte Entscheidungen, die ganz anders sind, als sie sich es gewünscht hätten. Aber wenn jetzt eine Mitgliedskirche anfangen würde zu sagen, immer dann, wenn wir leidenschaftlichen Widerspruch gegen irgendetwas haben, was der ÖRK sagt, dann entziehen wir das Geld - das wäre wirklich ein absoluter Niedergang. Es wäre eine Bankrotterklärung für demokratischen Diskurs, wenn die Geldgeber, wenn die finanziell Starken, wenn die das Geben von Geld abhängig machen vom Wohlgefallen oder von den Entscheidungen der anderen, der Mehrheit. Das hätte nichts mehr mit Demokratie zu tun. Insofern ist es eine Variante der Reaktion auf diese Situation, die ich klar ablehne. 

Zum Abschluss: Alles in allem, schämen Sie sich für diese Erklärung des Zentralausschusses des Weltkirchenrates? 

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Nein, ich schäme mich nicht. Ich versuche zu erläutern, wie es dazu gekommen ist und die Erklärung einzuordnen. Was mich vor allem bewegt, ist das schreckliche Leid auf beiden Seiten, nicht Scham über diesen Beschluss. Ich sehe das Leiden der Palästinenser, die mir zum Teil mit Tränen in den Augen ihre Geschichten erzählt haben. Da schäme ich mich nicht dafür, sondern ich versuche, deutlich zu machen, warum ein Weg, der den Dialog öffnet, anstatt ihn eher zu verschließen, der bessere Weg ist.

Das Interview führte Philipp Gessler am 30. Juni per Videoanruf.

 

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Heinrich Bedford-Strohm

Heinrich Bedford-Strohm ist Vorsitzender des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen und einer der Herausgeber von "zeitzeichen".  Zuvor war er Bischof der bayerischen Landeskirche und EKD-Ratsvorsitzender

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