Transformation for ever!

Gestern endete das Bachfest Leipzig 2025, unbestrittenes Mekka der Bachfans aus aller Welt. Das Thema des Festivals klang etwas zeitgeisthuldigend: „Transformation“. Was sich dahinter verbirgt und warum das Thema Transformation quasi „Bach-immanent“ ist, beschreibt zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick, der zumindest einige der über 200 Veranstaltungen besuchen konnte.
Als wir, es war noch im vorigen Jahrhundert, zum ersten Mal mit unserer Erstgeborenen zum Kinderarzt kamen, sagte jener bezüglich der drei Vornamen des Kindes: „Ach, da haben Sie ja alles genommen, was gerade „in“ ist …“.
Diese eher uncharmante Äußerung schoss mir durch den Kopf, als ich vom Motto des diesjährigen Bachfests Leipzig hörte: „Transformation“ - ja klar, solches wollen und müssen alle machen. Nun also auch das Bachfest. Müssen die Hardcore-Bachfans aus aller Welt, die den harten Kern des Leipziger Publikums bilden, fürchten, dass es nun auch beim Hochfest der Bachzelebration frei nach Sofia Coppolas Filmklassiker heißt: „Lost in Transformation"? Bedeutet das Motto „Transformation“ also, dass nun auch das Bachfest Leipzig auf dieses allgegenwärtige gesellschaftlich-politische irgendwie Thema aufspringt?
Weit gefehlt. Und wenn selbst die Bachfest-eigene PR-Abteilung ihrem Intendanten Michael Maul im Programmbuch genau diese Frage stellt, dann zeigt es, dass man auch dort diese Gefahr durchaus ahnt. Mauls Antwort: „Natürlich ist uns bewusst, dass der Begriff derzeit in aller Munde ist, namentlich, wenn es darum geht, den dringend notwendigen Paradigmenwechsel in der Weltwirtschaft raus aus der Ausbeutung fossiler, hinein in die Nutzung erneuerbarer Energiequellen zu charakterisieren.“ Für ihn, Maul, sei aber bei der Auswahl des Mottos „etwas ganz anderes“ ausschlaggebend gewesen: „Viele Kompositionen Johann Sebastian Bachs sind ebenfalls von Transformationsprozessen geprägt. Das lateinische transformare steht für ,umformen', und tatsächlich hat Bach manche seiner Werke vielschichtigen Umformungsprozessen unterzogen.“ Genau dies wolle man beim diesjährigen Bachfest zeigen.
Zum Beispiel mit der Johannespassion (BWV 245). Sie ist ein besonders geeignetes Werk, um „Bach-interne Transformation“ aufzuzeigen: Bereits ein Jahr nach der Uraufführung 1724 setzte Bach sie erneut aufs Programm am Karfreitag. Warum nur? Eigentlich war er doch im Frühjahr 1725 noch voll im Flow der Neuschöpfung. Bach schien den Ehrgeiz zu haben, die Leipziger an jedem Sonn- und Festtag mit (zumindest für sie) neuen Kompositionen zu beglücken. Warum dann die Johannespassion gleich nochmal?
Viele Spekulationen
Bis heute gibt es darauf keine wirklich plausible Antwort. Aber das ist auch gut so, denn es eröffnet das Feld der geistreichen und unterhaltsamen „Warum-machte-Bach-das-Spekulationen“: War die Uraufführung 1724 vielleicht so ein Riesenerfolg gewesen, dass die Leipziger seitdem an den Rockschößen des Thomaskantors hingen und ihn anflehten: „Bitte Bach, mach dieses Wahnsinnsstück nochmal?“ Dieser Spin könnte sich gut in einen noch zu drehenden Bach-Familienfilm für die Karwoche entfalten, ist aber wohl eine aus modernem Denken gespeiste Fiktion. Nein, nein, so lief das damals nicht.
Vielleicht hatte Bach für Karfreitag 1725 etwas ganz anderes vor, bis ihn kurz vorher die Mahnung der hohen Geistlichkeit ereilte, der Herr Kantor habe am Karfreitag bitte sehr auf jeden Fall eine Johannespassion aufzuführen. Und dann war die Zeit so kurz, dass nur noch ein Johannespassion-Revival vom Vorjahr möglich war. Folgt man dieser These, fragt man sich aber, warum Bach dann gerade den berühmten Eingangschor der Johannespassion „Herr, unser Herrscher“ und den berückenden Schlusschoral „Ach, Herr, lass dein lieb Engelein“ 1725 in seiner zweiten Aufführung durch andere Werke ersetzte. Als Eingangschor erklang die großangelegte Choralvertonung „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ - Bachkennern in der Regel als Abschluss des ersten Teils der 1727 uraufgeführten doppelchörigen Matthäuspassion bekannt. Es ist ein wunderbares Stück, wenn auch ganz anders als das wuchtige g-Moll-Drama „Herr unser Herrscher“. Und anstelle des berühmten „Engelein“-Choral am Ende dann (nach dem beibehaltenen Schlusschor „Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine“) beschließt die deutlich umfangreichere Vertonung eines deutschen Agnus Dei („Christe, du Lamm Gottes“) diese 1725-er-Passion. Hatte vielleicht die vorgesetzte Geistlichkeit verfügt, etwas mehr objektive Sühnopferchristologie einzuweben? Uund dieser Weisung leistete Bach Folge mit der Eliminierung des eher an ein düster eingefärbtes Gloria erinnernden „Herr unser Herrscher“-Chores und des auf einer Skala von milde bis kraftvoll um individuelle Auferstehung bittenden „Engelein“-Chorals. Einfache Antwort: Wir wissen es schlicht nicht.
Auf jeden Fall aber nutzte Bach diese Gelegenheit, um noch weitere Stücke auszutauschen oder zu verändern. Am meisten im Gedächtnis blieb nach der vorzüglichen Leipziger Aufführung dieser 1725-er Fassung mit dem La Cetra Barockorchester und dem Vokalensemble Basel in der Nikolaikirche die neueingefügte Petrus-Arie „Zerschmettert mich, Ihr Felsen und ihr Hügel“, die Bach anstelle der sonst hier stehenden Arie „Ach, mein Sinn, wo willt du endlich hin?“ einfügte. In der Leipziger Aufführung mit Cetra Basel konnte Tenor Mirko Ludwig mit einer absolut bravourösen Leistung überzeugen. Sollte, was sicher unwahrscheinlich ist, jemand bei dieser sehr schönen Aufführung (Leitung: Andrea Marcon) zuvor eingeschlafen sein, spätestens in dieser Arie wurde er durch die strahlenden-stählernen „Zerschmettert-mich"-Rufe von Ludwig garantiert wieder wach.

Andrea Marcon dirigiert die Aufführung der zweiten Fassung der Johannespassion von J.S. Bach am 15. Juni 2025 in der Leipziger Nikolaikirche.
Vielleicht aber, um eine letzte Spekulation zur wundersamen Wiederholung und Wandlung der Johannespassion innerhalb eines Jahres vorzubringen, war es auch ganz anders: Bach saß an einem ganz großen Ding, nämlich an einem dieser neuartigen Passionsoratorien, die damals seit gut zwanzig Jahren in der Welt waren. Der Dichter Christian Friedrich Henrici (genannt „Picander“), ein nachweislich enger Vertrauter Bachs, von dem das Libretto der Matthäuspassion und mutmaßlich das des Weihnachtsoratoriums stammt, saß anno 1725 an so einer Arbeit, von der allerdings nur Fragmente überliefert sind. Sie beschäftigen seit 150 Jahre die Bachforschung. Der Evangelientext ist gereimt, klingt ganz anders, irgendwie galanter und eingängiger. Wenn es in lutherdeutscher Evangelientext-Prosa über Jesus und seine Jünger heißt: „Da sie den Lobgesang gesprochen hatten / gingen sie hinauf auf den Ölberg“, fasst dies Picander mit einem Ausblick auf das Kommende in seinem Fragment patent gedichtet so zusammen: „Und nach gesprochnem Lobgesang / war Jesus‘ erster Gang zum Ölberg in den Garten, / die Bande zu erwarten.“ Und in den Arientexten des Fragmentes drückt Picander dann besonders auf die Tube. Wenn Petrus nach der Gefangennahme Jesu in Gethsemane den Verräter Judas verflucht, dann hört man allen Ernstes dies: „Verdammter Verräter, / wo hast du dein Herze? / Haben es Löwen und Tiger verwahrt? / Ich will es zerfleischen, / ich will es zerhauen, / dass Ottern und Nattern die Stücken zerkauen, / denn du bist von verfluchter Art.“ Neben leichtem Kopfschütteln stellt sich bei solchen Versen dann doch ein flaues Gefühl in der Magengrube ein, und man will Carl Friedrich Zelter kaum mehr widersprechen, der um 1800 in Bezug auf solche Dichtungen von „verruchten deutschen Kirchentexten“ und „Glaubensqualm“ sprach.
Vielleicht aber, um die Spekulation um die 1725-er Johannespassion abzuschließen, war es viel banaler: Möglicherweise wurde Picander mit seiner Dichtung schlicht nicht rechtzeitig fertig, oder Bach erfuhr, dass mit einer solchen Aufführung vonseiten seiner Obrigkeit wirklich Ärger drohen würde. Jedenfalls gab es damals keine Aufführung, und vielleicht musste deshalb anno 1725 eine schnell etwas veränderte Johannespassion erneut in die Karfreitags-Bresche springen. Wir schade, dass solche Dinge die zeitgenössische Presse damals nicht interessierten, dann wüssten wir mehr...
Zu loben ist aber auf jeden Fall der Hallenser Cembalist und Dirigent Alexander Grychtolik, der in seinem Konzert in der Nikolaikirche bewies, dass er ein sehr geschickter Arrangeur und Neukompositeur der Textstellen des Picander-Fragmentes von 1725 ist, für die sich keine passenden Musik Bachs finden ließ. Besonders die sämtlich neu komponierten Rezitative sind sehr gelungen; wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass mit dem famosen Tenor Daniel Johannsen selbst schlecht nachkomponierte Rezitative gut klingen würden… Erlesen interpretiert erklang auch die aus der Matthäuspassion wohlbekannte berückende Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“, hier gesungen von einer Bassstimme (Tiemo Wang). Warum aber Bass statt Sopran? Nun, der Text steht - anders, als später in der Matthäuspassion - in der Ich-Form, sodass es eines Basses als traditioneller Vox Christi bedurfte. Statt „Aus Liebe will mein Heiland sterben, / von einer Sünde weiß er nichts“ (Matthäuspassion) heißt es hier nämlich: „Aus Liebe will ich alles dulden, / aus Liebe sterb ich vor die Welt.“ Alles in allem vermittelt diese Zusammenstellung, die unter dem Titel „Passionsoratorium BWV2A Anh. III 169“ firmiert, einen nachhaltigen Einblick in die Werkstatt emsiger Bach-(Re-)konstrukteure, auch wenn dem Werk als Ganzem - kein Wunder, ist es doch ein Fragment - die innere Geschlossenheit fehlt.

Die heute berühmteste Transformation Bachs in Bezug auf sein eigenes Werk ist natürlich das Weihnachtsoratorium, dessen Musik zu großen Teilen aus Parodien weltlicher Kantaten besteht. Diese boten unter der Leitung von Altmeister Ton Koopman das Amsterdam Baroque Orchestra & Choir in ihrem Konzert dar. Zunächst aber überraschte die große Schar der Blech- und Holzbläser des Orchesters samt Chor und Solisten die in der Nikolaikirche versammelte Bachgemeinde mit einem klingenden Einzug durch den Mittelgang, an dessen Ende der 80-jährige Ton Koopman schritt. Sehr bewegend und schlicht eine pfiffige Idee! Dann erklingt sogar ein geistlich-weltlich „gemischtes“ Werk. Die vertraute erste Kantate des Weihnachtsoratoriums, dessen weltliche Herkunft seit dem ZDF-Film „Bach - ein Weihnachtswunder“ im letzten Dezember einem breiteren Publikum bekannt sein dürfte, wird im Da-Capo mit dem weltlichen Text dargeboten. Dann heißt es statt „Jauchzet frohlocket, / auf preiset die Tage, / rühmet was heute Höchste getan“ plötzlich (und der Instrumentierung auch viel angemessener): „Tönet, ihr Pauken! / erschallet Trompeten! / Klingende Saiten erfüllet die Luft“.

Schwungvoller Einzug mit Musik: Amsterdam Baroque Orchestra & Choir am 19. Juni 2025 in der Leipziger Nikolaikirche - ganz am Schluss: Leiter Ton Koopman.
Auch bei der von Koopman und den Seinen mit enthusiastischer Freude musizierte Kantate BWV 213 „Lasst uns sorgen, lasst uns wachen (Herkules auf dem Scheidewege)“ lohnt sich der Textvergleich von geistlicher und weltlicher Fassung: Die berühmte und für viele mit Marienflor umrankte zweite Altarie des Weihnachtsoratoriums (BWV 248/II) hat bekanntermaßen folgenden Wortlaut: „Schlafe mein Lieber / genieße die Ruhe. / Labe die Brust, empfinde die Lust, wo wir unser Herz erfreuen. / Schlafe, mein Liebster, genieße der Ruh, wache nach diesem vor aller Gedeihen!“ Hört man dies im weihnachtlichen Fluss des Oratoriums, dann erscheint die Zuordnung auf Maria und das Jesuskind plausibel, und der kryptisch anmutende Schlusshalbsatz scheint zu bedeuten, dass Jesus, wenn er denn dem Säuglingsalter entwichen ist, für unser „aller (der Gläubigen) Gedeihen“ als Herr und Heiland wachen möge. Beim „Original“, der ein Jahr früher entstandenen Herkuleskantate, ist die Sache ganz anders und um ein Vielfaches konkreter. In der eineinhalb Töne höher (in B-Dur statt G-Dur) notierten Arie singt die durch den Sopran personifizierte Wollust dem auf ihrem Schoße schlummernden Helden Herkules diese Worte: „Schlafe, mein Liebster, und pflege der Ruh, / folge der Lockung entbrannter Gedanken. / schmecke die Lust der lüsternen Brust / und erkenne keine Schranken.“ Noch Fragen…?
Aber nun zur h-Moll-Messe (BWV 232), die traditionell das Bachfest beschließt: Sie besteht in großen Teilen, darin dem Weihnachtsoratorium ähnlich, aus umgearbeiteten anderen Werken Bachs. In ihr sind Stücke aus verschiedensten Epochen Bach’schen Schaffens versammelt: Die Vorlage für das berührende „Crucifixus“ geht auf den Eingangschor der Kantate BWV 12 „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ zurück, die Bach 1714 in Weimar schuf, das berückende „Sanctus“ entstand bereits zu Weihnachten 1724 und „Et incarnatus est“ und „Credo in unum Deum“ schuf Bach wohl erst 1749/50, also kurz vor seinem Tod. So weit, so vertraut. Sicher interessant, aber ob man’s weiß, ist für den Hörgenuss eigentlich egal.
Geistreich und wirkungsvoll
Es gibt aber auch eine andere Art von Transformation, nämlich die, dass heutige Künstler:innen sich Bachs Werk annehmen und es bearbeiten, verkürzen oder mit Zusätzen versehen. Dies geschah in einem wirklich bemerkenswerten Konzert in der Nikolaikirche mit dem Ensemble Continuum unter der Leitung der Berliner Cembalistin Elina Albach. Sie hat Bachs h-Moll-Messe zu einer „Missa Miniatura“ umgearbeitet, in dem sie den kompletten Notentext auf ein reduziertes und apartes Instrumentarium übertrug, unter anderem mit Zink statt Trompete und E-Gitarre als (dezent) zeitfremde Klangfarbe, dazu Traversflöte, eine Violine, Viola da gamba, Violoncello, eine Pauke und zwei Tasteninstrumente (Truhenorgel und Cembalo), die die virtuose Continuokünstlerin Albach sich und alle anderen mitreißend betätigte. Dazu sechs Sängerinnen und Sänger, die ohne Frage zum Besten gehören, was man im Bereich Bachscher Gesangskunst aufstellen kann: Marie Luise Werneburg und Viola Blache (Sopran), die beiden Altisten Alex Potter und Tobias Knaus, der Ausnahmetenor Raphael Höhn und als Bass Tobias Berndt. Der überragende Gesang dieses Sextetts war eine Klasse für sich und ist uneingeschränkt zu loben, egal wie man zu den sonstigen Transformationen des Abends stehen mag. Die geistreich und wirkungsvoll entwickelte Aufteilung der acht Instrumente eignet sich sehr gut, die Komplexität der Bach’schen Partitur abzubilden und konnte mit dem Klang der Sänger:innen perfekt verschmelzen.


Herausragendes Vokalsextett bei der „Missa Minimalia“ am 17. Juni in der Leipziger Nikolaikirche: Alex Potter, Tobias Bernd, Tobias Knaus (hinten), Viola Blache, Marie Luise Werneburg und Raphael Höhn (vorne).
Die wahre Transformation aber ist die Infragestellung, die Elina Albach „ihrer“ h-Moll-Messen-Miniatur beigibt, indem sie fünf Texte des Schweizer Schriftstellers Jürg Halter einstreut. Der erste Text kommt gleich nach dem großen Eingangs-Kyrie und sei hier Pars pro Toto für die vier weiteren ähnlichen, die folgen, zitiert:
„Herr, erbarme dich unser. Ich verzweifle an dem, was ich weiß, verzweifle an dem, was ich nicht weiß. Ich weiß nicht, wo das hinführt. Zu mehr Zweifel, zu weniger Verdrängen? Muss ich mehr verdrängen, um weniger zu zweifeln? Keine Antwort kann mich befriedigen, keine Antwort hält mich. Es ist zum Verzweifeln – was ist es? Von wo nach wo führt der Weg der Verzweiflung? Doch Herr, gibt es dich überhaupt? Ich zweifle an dir. Ich zweifle an mir. Ich zweifle an uns Menschen. Ich will nicht glauben, dass ich nicht mehr glauben kann. Ich kann nicht mehr glauben, weil ich weiß. Ich weiß, dass nachdem ich als Kind vom Holocaust erfuhr, mein Zweifeln begann. Meine Gebete wurden mehr und mehr zu Anklagen. Je mehr ich über die dunkle Geschichte unserer Spezies erfuhr, desto weniger konnte ich glauben, dass, wenn es tatsächlich einen Gott gäbe, er es zulassen würde, dass Menschen durch Menschen vernichtet werden – denn weshalb um alles in der Welt würde er als Allmächtiger so etwas geschehen lassen? Friede auf Erde den Menschen guten Willens? Nein – was ist schon nur mit all den Verbrechen, die im Namen des vermeintlich Guten, im Namen Gottes begannen werden? Ist Gott ein Zyniker? Ich bin verzweifelt. Ich weiß nur, was ich zu wissen glaube. Ich sehe nur: Die große Herrlichkeit gebärt auch die große Schrecklichkeit. Zweifle nicht – aber ich zweifle!“
Zweifel an Gott, seiner Güte, Verzweiflung an der Bosheit der Menschen, Ringen zwischen Hoffnung und Resignation. Mit den insgesamt fünf Textblöcken, die in einigen Variationen sämtlich um ähnliche Gedanken kreisen, wurde durch den (exzellenten!) Sprecher Thomas Halle die Theodizeefrage in das Corpus der h-Moll-Messe eingepflegt. Dies stieß danach auf gemischte Reaktionen, wobei die Kritik sogenannter Bachpuristen, die nur eine unkommentierte Zelebration der Meisterwerke zulassen wollen und solche Textinterventionen prinzipiell ablehnen, von übersichtlicher Originalität sind. Schade aber schon, dass die tieferen Motive von Elina Albach weder im Programmheft noch in einer Einführung oder einem Nachgespräch ausgebreitet wurden. Bemerkbar ist auf jeden Fall ein Verlust, denn den gelesenen Texten fallen einige Nummern der h-Moll-Messe zum Opfer, sie wurden gestrichen. Zum Beispiel gleich das zweite Stück, jenes „Christe eleison“, dessen zärtliche D-Dur-Klänge nach dem archaischen h-Moll-Getöne des erhabenen Eingangschor Trost bieten und das „Kyrie II“ danach, ebenso das „Gratias agimus tibi“, dessen musikalische Form immerhin eins zu eins im Schlusschor „Dona nobis pacem“ wiederkehrt. Auch fehlen zugunsten der Texte die beiden ersten Sätze („Credo“ und „Patrem omnipotentem“) des „Symbolum Nicenums“ - und das im Jahr des 1700. Gedenkens an das gleichnamige Konzil. So etwas!
Andererseits geben die behutsam, aber beharrlich formulierten Texte (die wiederkehrende „Refrainformel“ lautet: „Zweifel nicht - aber ich zweifle!“) einem Einspruch Ausdruck, der spätestens seit der Aufklärung Religion und Erlösungsglauben begleitet. Jedenfalls ist es gut, dass der tiefe Eindruck, den Bachs Musik seit langem auf so viele Menschen macht, auch Ausdruck in solchen widerständigen Formen findet. Es wäre zu wünschen, dass ähnliche kreative Interventionen die Aufführung Bach’scher Musik häufiger prägen, denn dass Bachs Musik etwas mit uns macht, ist unstrittig. Streiten kann man darüber, was. Zum Beispiel, ob Bach wirklich Trost oder eben doch nur Salbe ist angesichts einer Welt, die zunehmend aus den Fugen gerät.
Gelungene, kreative Verdichtung
Unabhängig von tiefgründigen inhaltlichen Fragen, zu denen es viele Meinungen und Haltungen geben kann und soll, erscheint die Fassung der „Missa Miniatura“ mit acht Instrumenten durchaus verlockend für Chöre und Kirchenmusiker:innen, die sich eine voll besetzte „Original“-h-Moll-Messe finanziell nicht leisten können. So wäre es durchaus zu wünschen, dass Elina Albach das Notenmaterial dieser sehr gelungenen, kreativen Verdichtung des Instrumentalparts veröffentlichen würde. Sicher würden gerne viele Musizierende darauf zugehen - mit welchen Interventionen auch immer.
Von solchen und anderen Zweifeln ist die traditionelle Abschluss-h-Moll-Messe von Ton Koopman in der Thomaskirche natürlich in keiner Weise angekränkelt, denn zum Abschluss jedes Bachfestes ist „Celebration“ angesagt. Koopman und sein Amsterdam Baroque Orchestra und Chor zeigen sich in Hochform, ebenso (mit minimalen einzelnen Abstrichen, die aber der Erwähnung nicht wert sind) das Solistenquartett mit Hana Blažíková, Sopran; Maarten Engeltjes, Altus; Tilman Lichdi, Tenor und - beeindruckend mit seinen 76 Jahren (!) - dem ewigen Klaus Mertens, Bass. Kein Stück fehlte, voller, frische Bachklang ergoss sich von der Empore in das weite Rund der Thomaskirche und schlug die sicherlich an die 1000 Zuhörerinnen und Zuhörer in den Bann.
Und dann passieren Dinge, die man sich nicht ausdenken kann: Kaum war der mächtige Eingangschor des Kyrie verhallt, klingelte unten im Mittelschiff ein Mobiltelefon, genau in der spannungsvollen Stille vor dem aus der h-Moll-Starre lösenden D-Dur-Einsatz, grrr … Aber wer weiß, wer sich da melden wollte? Vielleicht irgendjemand von ganz oben, der dringend daran erinnern wollte: „Hallo, Hallo, lasst bitte diesmal das ,Christe eleison‘ nicht weg, wie Elina Albach in ihrer ,Missa Minimalia‘ am Dienstag, denn: Wes könnte heilsnotwendig sein ...“
Hinreißend ist bei Koopman sein durchweg kraftvoller Zug nach vorn, mit dem er musiziert. Dabei bleibt er aber stets elegant in rhythmischen und agogischen geschmackvollen Pfaden, Bach als langer, lebendiger Fluss - einfach herrlich! Normalerweise würde man ja in eine h-Moll-Messe mit einem Dirigenten, der die 80 überschritten hat, mit dem Gedanken gehen: „Vielleicht ist es seine letzte!“ Irgendwie kommt man beim quicklebendigen Koopman aber gar nicht auf solche Gedanken. Eher ahnen und hoffen wir: „Viel Bach hält jung“. Dies sei Ton Koopman und uns allen zu wünschen - ad multos annos!

Ton Koopman, 80, Präsident des Bacharchivs Leipzig und quicklebendige Alte-Musik-Legende aus Amsterdam dirigiert beim Bachfest Leipzig 2025 insgesamt vier Konzerte.
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.