Ermutigung

Erinnerung an Hannah Arendt

Es ist gerade vier Jahre her, dass Hildegard E. Keller mit einer begeisternd erfrischenden, in Romanform verpackten Hannah-Arendt-Biografie Aufsehen erregte. Darin zeichnete sie das Bild einer unorthodox klarsichtigen und unerschrocken lebenden Frau, die geistige Freiheit und Individualität neu zu buchstabieren wusste in der Formel des Sowohl-als-Auch im Hier und Jetzt.

Nachsetzend hat die kreative und umtriebige Schweizer Literaturwissenschaftlerin und Kulturunternehmerin aus dem Arendt’schen Nachlass einen besonderen, bis dato völlig unter dem Radar fliegenden Text zum Anlass für eine weitere Veröffentlichung genommen, dem sie hier mit ihrem zweiten Standbein zu Diensten ist: als leichthändige Illustratorin. Aber dazu später.

Zunächst zum Text: Hannah Arendts Die weisen Tiere ist untypisch und Augen öffnend zugleich für die ansonsten als Publizistin und Philosophin reüssierende.

Im Duktus ist es ganz und gar ein Märchen: Es beginnt mit „Es war einmal …“ und es endet mit „Und wenn sie nicht gestorben sind …“. Dazwischen ist dieser verzaubernde, kurzweilige Text, dereinst teilweise doppelseitig auf Luftpostpapier getippt, noch mehr: eine Fabel, eine Liebesgeschichte – und als Märchen ganz das, was die meisten Kinderohren sofort weit öffnet. Wie immer knüpft sich in unserer Schubladenwelt daran die Frage: für Kinder bis …? Und die Antwort lautet: So lange sie sich als solche fühlen – oder solche sind, die von der vermeintlich höheren Vernunft noch unverklebte Ohren haben und hinter der Form mehr hören als eine Formel, die rational dekonstruierbar ist.

Die Protagonistin, ein kleines Mädchen, durchlebt in wenigen Tagen alles, was sie für ihr Leben wissen muss, und das beinahe alles fliegend, lächelnd und mit einem großen Herz. Dafür lässt Hannah Arendt sie die weisen Tiere kennenlernen und schafft das mit kleinen Kunstgriffen, die sie ihrer Zeit entreißt: Sie schickt ihre kleine, blitzgescheite Protagonistin zwar mit dem Flugzeug los, reist aber eigentlich wie Nils Holgersson, dessen wunderbare Reise, im Geburtsjahr Hannah Arendts erschienen, ihre eigene Kindheitslektüre gewesen sein könnte. Und sie gebraucht als ein wesentliches Schlüsseltier den weißen Elefanten aus dem „Karussell Jardin du Luxembourg“, dem träumerisch legendären Gedicht Rainer Maria Rilkes, das dieser, ebenfalls 1906, in Paris geschrieben hatte. Diese in die Wiege gelegten und von dort im Lebensrucksack immer mitgenommenen Texte sind wichtige Impulse ihrer Geschichte. Sie steckt voller geheimnisvoller – weiser – Tiere, die alle Klugheit herausfordern oder beflügeln: von der Schlange über den Löwen an der Seite des Lammes und ein in Selbstmitleid zerfließendes Mondkalb bis hin zum ungeduldigen Pegasus, der beim zweiten Teil der Reise als Flughilfe und Wegweiser zugleich dient. Ihn zu reiten, gelingt nur Kindern und Dichtern, alle anderen schüttelt er ab …

Aufschlussreich ist in der Tier-Familie auch das bibeltreue, spindeldünn gehungerte Kamel, dessen göttlich apostrophierter Gehorsam das Mädchen eher befremdet und weiterziehen lässt. Spannenderweise mutet es an wie die Reise des kleinen Prinzen, der von dieser Prinzessin freilich nichts gewusst haben dürfte, weil er erst später auf die Welt kam.

So liest und genießt sich hier ein ganz an das Irdische gekoppeltes Märchen, dem Hildegard E. Keller nicht nur als Text zur Renaissance, sondern mit ihren farbintensiven Illustrationen und deren energetisierendem Duktus zu einem visuell ansprechenden Zugang verhilft. Darin schimmert schlussendlich ein Credo Hannah Arendts: Behalte Deine Ziele immer im Blick, aber vergiss dabei nicht zu leben. Im Dezember 1975 – vor fünfzig Jahren – ist Hannah Arendt gestorben. Dieses Buch, das einer von Lächeln begleiteten Ermutigung zu unverstellter Lebendigkeit gleichkommt, ist die schönste Erinnerung daran.

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