Runde Geburtstage von Schriftstellern bieten nicht nur die Gelegenheit zur retrospektiven Werkschau. Sie machen es auch möglich, beim jeweils gefeierten Autor Orientierung für die eigene Gegenwart zu finden. So wird Thomas Mann im aktuellen Jubiläumsjahr unter anderem als „politischer Aktivist“ (Kai Sina) und „Widerstandskämpfer“ (Mely Kiyak) erinnert, was mit dem weltweiten Vormarsch rechtspopulistischer und autoritärer Kräfte zu tun hat. Manns Entwicklung vom antidemokratischen Monarchisten zum überzeugten Demokratieverfechter und sein Einsatz gegen den Hitlerfaschismus, der sich in den aus dem Exil gesendeten Radioansprachen an die „Deutschen Hörer“ niederschlägt, werden in den gegenwärtigen Krisenzeiten tatsächlich wieder aktuell. Gleichwohl steckt in solchen Inanspruchnahmen die Gefahr einer Reduktion.
Zu Thomas Manns literarischem Schaffen gehören eben auch seine vor der Hinwendung zur Demokratie entstandenen Werke, und es ist nicht immer nur auf politische Wirksamkeit aus. Ein Vorzug des lesenswerten Buchs, das der katholische Literaturtheologe Karl-Josef Kuschel zum 150. Geburtstag des Schriftstellers vorgelegt hat, ist vor diesem Hintergrund, dass die darin untersuchte religiöse Dimension von Manns Oeuvre quer durch alle Schaffensphasen nachverfolgt wird. Die dabei ausfindig gemachten Diskontinuitäten werden nicht einfach zu Ungunsten des für den Theologen weniger passfähigen Frühwerks glattgebügelt. Sie führen Kuschel vielmehr zu einer für das Verständnis der religionskulturellen Lage unserer Gegenwart äußerst interessanten Doppelperspektive.
Auf der einen Seite steht die insbesondere über den frühen Roman Buddenbrooks vermittelte Diagnose eines Verfalls traditioneller Glaubensvorstellungen und Frömmigkeitsformen. Es ist der Protestantismus des eigenen Elternhauses, mit dessen Leere und Fassadenhaftigkeit Thomas Mann hier abrechnet. Einzig die familiär eingeübten Konventionen halten ihn noch am Leben. Mit dem Ende der buddenbrookschen Linie bricht schließlich auch dieses Gerüst weg, was durchaus als Sinnbild für eine allgemeinere gesellschaftliche Entwicklung genommen werden kann. Andererseits arbeitet Kuschel die in Manns Werk von Anfang an zu entdeckende Suche nach neuen, tragfähigeren Formen des Religiösen heraus. Fand diese Suche ihre erste Erfüllung in der pessimistischen Willensmetaphysik Arthur Schopenhauers, die sich auch im schier unaufhaltsamen Niedergang der Familie Buddenbrook spiegelt, wechselte sie jedoch bald in hellere Sphären. Spätestens mit dem Roman Der Zauberberg rückt das den Schriftsteller fortan intensiv beschäftigende Verhältnis von Religion und Humanismus ins Zentrum. Mehr und mehr fand er dann zu einer Haltung, die als ein „religiös fundierter und gestimmter Humanismus“ bezeichnet wird und um „die Ehrfurcht vor dem Geheimnis, das der Mensch ist“, kreist. Manns prodemokratisches und antifaschistisches Engagement ist davon ebenso beeinflusst wie seine erzählerische Aneignung alttestamentlicher Stoffe etwa in den Joseph-Romanen. Neben das religiös getönte Humanitätsideal tritt im Spätwerk, zu nennen ist etwa Der Erwählte, eine besonders Zuneigung zum Begriff der Gnade, worin Kuschel eine Rückbindung an die protestantische Herkunft entdeckt. So sehr dies auch zutrifft und so sehr Thomas Mann im kalifornischen Exil schließlich sogar eine institutionelle Heimat in der unitarischen Kirche fand: Die bei ihm zu entdeckende Religion lässt sich nicht in feste Lehrformeln pressen. Sie bleibt das Resultat jenes typisch modernen Brüchigwerdens der überkommenen Glaubensformen, das sich im Mann’schen Frühwerk so scharf diagnostiziert findet.
Kuschel spricht am Ende seines Buches demgemäß von einem unauflöslichen „Schwebezustand“ zwischen Glauben und Unglauben, in dem Thomas Manns Werk sich im Ganzen bewege. Die darin anklingende Unbestimmtheit und Offenheit mag zwar nicht der in heutigen kirchensoziologischen Untersuchungen erwarteten Glaubensstärke der Hochverbundenen entsprechen: Sie verweist aber auf eine auch noch gegenwartskulturell verbreitete religiöse Suchbewegung, in die man sich durch die Lektüre dieses längst nicht alt gewordenen Autors hineinziehen lassen kann. Dafür jedenfalls werben Kuschels einfühlsame Interpretationen, nach denen man sich viel Zeit zum Lesen wünscht.
Karl Tetzlaff
Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist zudem Geschäftsführer der Stiftung LEUCOREA in Wittenberg.