Bereits die ersten von Katharina Thalbach gelesenen Sätze führen in die verzweifelte Situation des Warschauer Ghettos. Die ausdrucksstarke, wandlungsfähige Stimme macht deutlich: Hier gibt es keine Normalität, auch für die alltäglichsten Dinge nicht, nicht fürs Essen, nicht fürs Arbeiten, nicht einmal für die Toilettenbenutzung – weil es in dem mit einer halben Million Menschen völlig überfüllten Ghetto nicht genügend Toiletten gibt. Die Toten werden nicht beerdigt; sie werden auf die Straße gelegt, Ärmere ziehen sie aus und nehmen ihre Kleidungsstücke. Es ist kalt im Januar 1942, und zu heizen gibt es fast nichts.
In dieser Situation, die sich nicht zum Besseren ändern wird, ganz gewiss aber zum Schlimmeren, nämlich zur Vernichtung fast aller Ghetto-Bewohner, spielen jüdische Schauspieler für jüdische Menschen – um sie abzulenken, um sie zu unterhalten, um sie vielleicht zum Lachen zu bringen.
Am 16. Januar 1942 hat im Femina-Theater die Komödie „Die Liebe sucht ein Zimmer“ Premiere. Die junge Schauspielerin Sara hat darin zum ersten Mal eine Hauptrolle bekommen. In diese Mischung aus Aufregung, dem Willen, als Schauspielerin das Beste zu geben, und der ständigen Bedrohung platzt das Angebot Michals, des Autors, Regisseurs und Schauspielkollegen, nach der Vorstellung mit ihm aus dem Ghetto zu fliehen. Das hieße, sie könnte überleben und müsste dafür ihren Geliebten, den Schauspieler Edmund, verlassen. Durch ihre Kunst, diesen schrecklichen Zwiespalt und daneben den weiteren Verlauf der Theatervorstellung vorzutragen, steigert Katharina Thalbach die Spannung. Saras Entscheidung soll nicht vorweggenommen werden. Der dieser CD zugrunde liegende Roman und die CD sind gleichermaßen künstlerische Meisterwerke.
Jürgen Israel
Jürgen Israel ist Publizist und beratender Mitarbeiter der "zeitzeichen"-Redaktion. Er lebt in Neuenhagen bei Berlin.