Die Heimat ist eine Illusion

Wie Geflüchtete in Papua-Neuguinea um Teilhabe kämpfen
Papua-Neuguinea
Foto: Jörg Böthling

Tausende Familien aus West-Papua leben als Geflüchtete im Nachbarstaat Papua-Neuguinea, inzwischen in der vierten Generation. Die meisten ohne Status, ohne Land- oder Wahlrecht – und ohne Aussicht auf Rückkehr. Die Erinnerungen an das Land der Vorfahren verblassen. Aber die Schatten reichen bis ins Jetzt.

Rainbow – Regenbogen. Ein klingender Name für ein Stadtviertel. Makler preisen die Häuser der dort neu gebauten Wohnanlage im Internet an: „Ideale Wahl für Familien mit Kindern". Gute Schulen gleich um die Ecke. Auch ein Park, um die „wunderschöne Flora und Fauna zu genießen“. Rainbow, so heißt auch das größte Geflüchteten-Camp von Port Moresby, der Hauptstadt von Papua-Neuguinea. Es liegt nur wenige Straßen entfernt, am Rand der Siedlung, auf Brachland. Eine Schule besuchen dort längst nicht alle Kinder. Und noch weniger Jugendliche.

Samuel Inggamer (rechts) ist der Camp-Vorsteher von Rainbow, wo etwa 60 geflüchtete Familien seit Jahrzehnten leben. Heute führt er Jason Siwat, Migrationsexperte der katholischen Kirche, durch das Lager.
Foto: Jörg Böthling

Samuel Inggamer (rechts) ist der Camp-Vorsteher von Rainbow, wo etwa 60 geflüchtete Familien seit Jahrzehnten leben. Heute führt er Jason Siwat, Migrationsexperte der katholischen Kirche, durch das Lager.

Gut 60 Familien wohnen hier auf wenigen Quadratmetern, in selbst gezimmerten Holzhütten, hinter Planen oder in Autowracks. Rainbow ist eines von inzwischen zwölf informellen Lagern im Stadtgebiet, und es ist das älteste. 1962 ließen sich hier die ersten Familien nieder, manche mit ihren Habseligkeiten in nur einer Tasche. Heute, mehr als 60 Jahre später, spielen auf dem staubigen Platz beim Eingang die Kinder der vierten Exil-Generation.

Koloniale Vergangenheit

Hier leben Familien aus West-Papua, eine Folge einer kolonialen Vergangenheit, die über die Jahrzehnte hinweg tausende Menschen aus dem Westen der Insel Neuguinea über die Grenze in den östlichen Teil, nach Papua-Neuguinea, getrieben hat. Die erste Fluchtwelle begann Anfang der 1960er-Jahre, als die Region nach dem Ende der einstigen Kolonie Niederländisch-Neuguinea nicht – wie von den Bewohnern erhofft – unabhängig, sondern von Indonesien eingenommen wurde. Für alle, die blieben, folgten Jahre der Unterdrückung. Wer sich für die Freiheit einsetzte, war in großer Gefahr.

Hermanus Bonggoibo, 72, kämpfte als junger Mann gegen die indonesische Armee und musste fliehen. Im Exil wurden seine sieben Kinder und viele Enkelkinder geboren.
Foto: Jörg Böthling

Hermanus Bonggoibo, 72, kämpfte als junger Mann gegen die indonesische Armee und musste fliehen. Im Exil wurden seine sieben Kinder und viele Enkelkinder geboren.

So ging es auch Hermanus Bonggoibo. Der Konflikt war Teil seiner Kindheit. Als junger Mann schloss er sich der Befreiungsbewegung an. Da waren bereits weite Teile seiner Familie vom indonesischen Militär ermordet worden. „Ich wollte die Unabhängigkeit so sehr“, erzählt er. „Wir haben uns immer als Melanesier empfunden.“ Als er nach vier Jahren aus dem Gefängnis freikam, war Bonggoibo 26 Jahre alt. Nur noch seine Mutter und eine Schwester waren am Leben. Gemeinsam schafften sie die Flucht. Immer wieder mussten sie weiterziehen, wenn provisorische Lager geräumt wurden, bis sie schließlich in Port Moresby blieben. Heute ist Hermanus Bonggoibo 72, Vater von sieben Kindern und jeder Menge Enkelkindern, die alle im Exil geboren wurden. Seine Heimat, die Tropen-Insel Biak, hat er nie wiedergesehen.

West-Papua ist die östlichste Region Indonesiens. Sie teilt sich mit dem Nachbarstaat Papua-Neuguinea die Insel Neuguinea. Ab 1828 beanspruchten die Niederlande das westliche Gebiet als Kolonie (den Osten teilten Deutschland und Großbritannien unter sich auf). Nach dem Ende der Kolonialherrschaft 1962 wurde die Region von Indonesien besetzt. In der Folge verloren Indigene ihr angestammtes Land und erfuhren Unterdrückung und Rassismus. Einwanderungswellen aus Indonesien und der Raubbau ausländischer Unternehmen an wertvollen Rohstoffen verschärften die Konflikte. Viele Indigene gingen in den Widerstand, auch in den bewaffneten. Mehr als Zehntausend flohen ins Nachbarland.

Indigene West-Papua, die sich als Melanesier sehen, machen heute weniger als die Hälfte der rund knapp sechs Millionen Einwohner der Region aus. Bis heute beschränkt die indonesische Regierung den Zugang internationaler Organisationen, ausländischer Journalisten oder Beobachter ins Land. Im Nachbarstaat Papua-Neuguinea leben geschätzt bis zu 15 000 West-Papua – viele Familien in der vierten Generation, ohne Aussicht auf Rückkehr oder vollständige Anerkennung.

West-Papua
Foto: Jörg Böthling

Die von Menschenrechtlern kritisierten Umstände in den Camps führten schließlich zur Kündigung des Vertrags nach 20 Jahren. Seitdem sind Status und Zukunft der inzwischen meist in Port Moresby untergebrachten Menschen ungewiss.

Samuel Inggamer kennt die Geschichte jeder Familie hier in Rainbow. Schließlich ist er der Camp-Vorsteher. Als solcher führt er heute Jason Siwat durchs Lager, der das Referat für Migration und Geflüchtete der katholischen Bischofskonferenz von Papua-Neuguinea und den Salomonen leitet. Die beiden Männer kennen sich gut. „Die Kirche sieht nach uns“, sagt Inggamer. 

Ungeliebte Minderheit

Vier Jahre war Samuel alt, als er mit seinen Eltern über die Grenze nach Papua-Neuguinea flüchtete. Da hatte er den Vater gerade erst kennengelernt, der als Kämpfer der OPM-Guerilla („Organisasi Papua Merdeka“) über Jahre in indonesischen Gefängnissen inhaftiert gewesen war. „Mein Vater ist hier in Rainbow gestorben“, erzählt Samuel Inggamer. Für ihn als Sohn ist West-Papua heute Vergangenheit. Über eine Rückkehr in das Land der Vorfahren, in dem die verbliebenen Ethnien weiterhin diskriminiert und vielfach enteignet wurden, denkt in den Camps schon lange niemand mehr nach.

deal für Familien mit Kindern, so preisen Makler wohlhabenden Menschen die Apartments im Stadtteil Rainbow an.
Foto: Jörg Böthling

Ideal für Familien mit Kindern, so preisen Makler wohlhabenden Menschen die Apartments im Stadtteil Rainbow an.

Doch die Schatten aus der Vergangenheit reichen bis ins Jetzt. Papua-Neuguinea ist nicht zur neuen Heimat geworden. Auch hier kämpfen die Menschen aus West-Papua als ungeliebte Minderheit täglich gegen Diskriminierung, Rassismus und Armut. Samuel Inggamer führt weiter durch das Lager, in dem sich die Gemeinschaft zu organisieren versucht. „Die Aufgaben hier sind klar verteilt“, erzählt er. Er kümmert sich um die Finanzen und sammelt das Geld ein für den offiziellen Stromanschluss. Bei Konflikten vermitteln die Ältesten. Stolz zeigt Inggamer das neu gebaute Toilettenhäuschen. Eines für alle. „Keine guten Verhältnisse“, sagt er. Aber immerhin jetzt mit Tür und damit ein sicherer Ort für die Frauen und Mädchen. Auch die zwei Wasseranschlüsse werden geteilt. „Die haben wir uns selbst gelegt.“

Nachts bleibt das Lager dunkel. Beleuchtung wäre zu teuer, denn die Einnahmen der Familien sind spärlich. Die meisten West-Papua hier gelten als staatenlos – ohne Land – und ohne Wahlrecht. Daher ist es für sie kaum möglich, eine Festanstellung zu finden. Die Mehrheit arbeitet im informellen Sektor. Viele sammeln alte Dosen oder Plastikflaschen. Für ein Kilogramm Altmetall gibt es drei Kina, umgerechnet knapp 25 Cent. „Die meisten hier können sich nur zwei Mahlzeiten am Tag leisten“, sagt Inggamer.

Regelmäßig schauen Jason Siwat und sein Kollege vorbei, hören sich die Sorgen der Bewohner an, beraten zu deren Rechten und behalten besonders die Kinder und Jugendlichen im Blick, die zur Schule gehen sollen. In regelmäßigen Abständen hält die mobile Klinik der Kirche in den Camps, denn die wenigsten können sich einen Arztbesuch leisten. Stirbt jemand, hilft die Kirche finanziell aus, damit bestattet werden kann.

Samuel Inggamers Familie steht noch gut da. Der 49-Jährige hat einen Job als Wachmann bei einer kirchlichen Einrichtung. Alle vier Kinder besuchen die Schule, dank der Zuschüsse der Kirche zu Schuluniform oder Einschreibegebühr. „Gerade die Jungen müssen diesen Kreislauf durchbrechen“, sagt Samuel Ing­gamer. „Wenn sie als West-Papua keine Qualifikation haben, haben sie gar keine Zukunft!“

Gefahr für Frauen

Das sieht Ursula Magai ebenso. Auf der Straße vor dem benachbarten Camp Waigani verkauft sie kleine Bündel aus selbst gesammeltem Feuerholz. Fünf Kina das Päckchen, einen guten Euro. Damit kann sie Hefte, Stifte und die Schulkleidung der Kinder bezahlen. Die Gegend ist nicht die beste. Ursula Magai ist froh, wenn sie wieder hinter dem Zaun ist. Wobei: Sicher ist es auch innerhalb des Camps nicht. Immer wieder gibt es Diebstahl, oder Frauen werden nach der Dämmerung bedrängt. West-Papua hat Ursula Magai nie betreten. Sie wurde auf der Flucht geboren, vor 34 Jahren. Mit ihrem Mann und den drei Kindern teilt sie einen Einzimmer-Bretterverschlag. Es gibt eine Matratze, sogar ein Moskitonetz. „Wir haben nur eine Zahnbürste für uns alle“, sagt sie. „Aber die Kinder gehen zur Schule.“ Sie sollen es später besser haben.

Ursula Magai verkauft Feuerholz, um ihren Kindern Hefte, Stifte und die Schulkleidung kaufen zu können.
Foto: Jörg Böthling

Ursula Magai verkauft Feuerholz, um ihren Kindern Hefte, Stifte und die Schulkleidung kaufen zu können.

Doch dazu braucht es neben Bildung auch Land, einen Ort zum Ankommen. Am Nachmittag ist Jason Siwat zu Gast in Hohola, dem kleinsten Camp im Stadtgebiet. 20 Familien leben hier auf einem brachliegenden Grundstück und teilen sich eine Dusche, eine Toilette, einen Wasserhahn und einen Unterstand als Kirche. Doch diese Woche war die Polizei da, berichtet Matthew Akari, der 76-jährige Camp-Chef und Laienpriester der Exil-Gemeinde. Unter den Familien herrscht Unruhe. Viele fürchten, bald wieder auf gepackten Taschen zu sitzen. „Wir brauchen endlich Land, das uns gehört“, fordert Akari.

Die Kirche kennt diese Fälle. Für Hohola hat sie inzwischen einen Anwalt beauftragt. Das Recht auf Wohnen ist ein Menschenrecht. „Diese ewige Ungewissheit belastet die Menschen“, sagt Siwat. Es gebe Familien, die sieben oder acht Mal umgesiedelt wurden. „Wir tun, was wir können“, beschwichtigt er die aufgebrachte Runde, die sich auf dem Platz des Camps versammelt hat. Ein junger West-Papua, Simon Kusumbruie, ergreift das Wort. Er ist wütend: „Ja, ihr kommt vorbei, ihr kümmert euch, und ihr bringt Journalisten aus Europa mit. Aber ich frage mich: Wann ändert sich endlich etwas? Wann beginnt unser Leben?“

Etwa 400 000 Menschen leben in Port Moresby, der Hauptstadt Papua-Neuguineas. Aufgrund der Landflucht wuchs die Bevölkerungszahl in den vergangenen 20 Jahren rasant.
Foto: Jörg Böthling

Etwa 400 000 Menschen leben in Port Moresby, der Hauptstadt Papua-Neuguineas. Aufgrund der Landflucht wuchs die Bevölkerungszahl in den vergangenen 20 Jahren rasant.

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Jörg Böthling

Jörg Böthling begann 1985 als Seemann auf Fahrten nach Afrika und Asien zu fotografieren. Er studierte Fotografie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und arbeitet als Freelancer. 

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