Kleinbürger wie wir

Kinder- und Rabenmund tun Wahrheit kund – auf solchen Sprichwort-Dreh kann kommen, wer die Buchedition von Bernd Pfarrs Comic-Reihe „Alex der Rabe“ in Händen hält. Im Kindercomic-Verlag Kibitz ist jetzt Band zwei erschienen. Er macht Lust, diesen Vogel auch in der Bibel neu zu betrachten. Unser Autor Udo Feist tut es.
Abgesehen von Hugin und Munin, den beiden klugen Raben Odins in der Edda, haben es die bei uns Krähe genannten Raben in der Literatur eigentlich nie leicht gehabt, von Fairness gar nicht erst zu reden. Schwarzromantisch lässt ihn Edgar Allan Poe dröhnend nur ausweglos Schweres sagen: „Nevermore!" Bei Wilhelm Busch wird „Hans Huckebein – der Unglücksrabe“ zum Schluss gar aufgeknüpft („Der Tisch ist glatt – / der Böse taumelt – / Das Ende naht – / sieh da! Er baumelt!“).
Und in der Bibel steht der Rabe schon zu Beginn im Ruch, herzlos egoistisch zu sein: Archekapitän Noah schickt ihn aus, Trockenes zu finden. Während alle die Rückkehr sehnlich erwarten, sucht der stattdessen über weiter hoch stehendem Wasser nach Futter. Die nachfolgend ausgesandte Taube hingegen erledigt den Auftrag wie erwartet und wird seither als bescheiden und mitfühlend gelobt. Im zweiten Versuch kehrt sie dann auch mit Zweig im Schnabel zurück.
Aus heutiger Warte indes, die nach Rolle im Ökosystem und Biodiversität bemisst, ist der Rabe nicht zu tadeln: Da er auch Aas vertilgt, gilt er als unreines Tier, weshalb von seiner Sorte anstatt sonst sieben nur ein Paar an Bord gewesen ist. Derart zum Individualisten gestempelt hat er ein höheres Risiko und, so loyal er sonst auch ist, eben anders für sich zu sorgen.
Ob der mit seinem Buchhalter Sondermann im Magazin Titanic berühmt gewordene Bernd Pfarr (1958–2004) diese Linie bedachte, ist nicht bekannt. Dem gebildeten, vielfältig interessierten Zeichner, Maler und Satiriker hätte sie jedoch wohl gefallen. Denn seine Comic-Serie Alex der Rabe, die von 1988 bis 2003 monatlich in der Kundenzeitschrift ReformhausKurier erschien, schlägt sich mit großem ästhetischen und geistigen Mehrwert sowie durchaus biblisch-humanistischem Hintersinn in diesem Sinne auf des Raben Seite, ohne ihn zu überhöhen – was neben viel Vergnügen auch so etwas wie Selbsterkenntnis im Köcher hat.
Es ist ein klassischer Familiencomic für Leute ab sechs, der anders als die Bibel-Geschichten denn auch weder Gewalt noch Sex enthält, Zerstörung aber schon – aus Versehen oder arglos natürlich, etwa wenn Thadäus, ebenso faules wie nicht gerade helles Faktotum des emsigen Erfinders Professor Alfonso, just dort einen passenden Durchgang sucht, wo Mauern im Wege sind. Als weiterer Protagonist kommt Dietrich hinzu, gelackt, stets obenauf, zudem Nebenbuhler um die Gunst von Nicki, Alex’ Freundin und Begehrte. Partnerin wäre zu viel gesagt. Rabe wie er ist auch sie, alle andern tragen menschliche Züge, was allerdings den Umgang miteinander nie belastet. Arche-Passagiere sind sozusagen alle – und die Liste der Hauptfiguren ist mit diesen Fünfen komplett.
Frankfurt statt Entenhausen
Wer Parallelen zur Entenhausener Duck-Familie mit Donald, Franz und Gustav Gans, Daniel Düsentrieb und Daisy sieht, liegt nicht verkehrt. Pfarr schätzte sie und deren Zeichner Carl Barks sehr. Sein Alex-Kosmos ist jedoch in einer Vorortsiedlung von Frankfurt am Main zu vermuten, Pfarrs Heimatstadt. Der Rabe mit sonnigem Gemüt lebt dort wohlig in einem kleinen Haus. Von Berufstätigkeit hat ihn Pfarr befreit. Alex kann sich ganz auf den Alltag, das Mitsichsein und seine Beziehungen konzentrieren. Dass die mitunter störanfällig sind, ergibt sich so organisch wie im echten Leben. Die Pointen sind fein und ohne Übertreibung gesetzt. Details und leicht angeschrägte Perspektiven tun das Übrige, um allzu Rechtwinkliges zu unterlaufen. So blickt Satire mild und liebevoll, also sozusagen utopisch darauf, dass und wie Leben schön sein kann, auch wenn es manchmal hakt und Konflikt bedeutet.
Hier ist jeder eigen, und er darf es unwidersprochen sein, Alex auf seine Raben-Weise besonders: für jeden Spaß zu haben, ein verlässlicher Freund, aufrichtig, fehlbar, unvollkommen, rundum liebenswert. Er übersieht dennoch manches und macht sich auf vieles seinen sehr eigenen Reim.
Zum Glück ist die schnieke und resolute Nicki großherzig. Das muss sie mit Alex’ Lebenslösungen auch mitunter sein, etwa als er loszieht, um einen Pullover zu kaufen. Es solle einer mit breiten Streifen sein, keinesfalls uni, instruiert sie ihn. Das trüge man nun so, und er, der uni mag, will alles richtig machen. Viel zu schmal, sagt er dem Verkäufer, und wechselt erneut. Schon besser, als die Streifen breiter werden. Dann sind es bloß noch zwei. Die Richtung stimme. Am Ende hat der Pullover nur noch einen, aber eben richtig breiten Uni-Streifen. Dialektik im Anwendungsfall. Nicki wird es verwinden und darin ihren Alex wiedererkennen. Beim neuen schwarzen und für ihn allerersten Anzug für den Opernbesuch ist das ähnlich. Gute Absicht und Umsetzung laufen so markant wie haarscharf aneinander vorbei. Alex erscheint im gewohnten Alltagslook und mit Schild, das den Zugang im Kleiderschrank verkündet. Nicki frappiert das allenfalls homöopathisch dosiert, andere Gäste hingegen weidlich.
Alex irritiert, indem er niemanden vor den Kopf stoßen und schon gar nicht brachial Nonkonformist sein will, zugleich aber sich selber treu. Dazu macht er gedanklich kräftig Sprünge, doch die sind sympathisch schlüssig. Dahinter Zwangsvorstellungen zu vermuten, liegt in diesem Fall nahe, ist aber falsch. Alex ist Kleinbürger wie die allermeisten – jedoch einer, der sich seiner Begrenztheit stellt und darüber mit sich identisch ist. Das macht ihn liebenswert und ungefährlich. Einer von denen, die sich vor hohlem Neid zerfressen allseits nach Zustimmung recken und ansonsten rotten, ist er so eben gerade nicht. Kein Schelm indes, wem wegen der Kleiderfrage nun Jesu Gleichnis vom Gast „ohne hochzeitlich Kleid“ einfällt. Der wird bekanntlich dorthin hinausgeworfen, „wo Heulen und Zähneklappern“ sind. In Pfarrs Raben-Welt ist das ausgeschlossen.
Andererseits liegen biblische Tradition und besonders die jüdische Auslegung weitaus mehr auf Pfarrs Linie als gemeinhin gedacht. So sind es die Raben, denen der Herr gebietet, den an den Bach Krit geflohenen Elia mit Brot und Fleisch zu versorgen. Und anders als Kollege Matthäus belässt es der Evangelist Lukas in seiner Version vom falschen Sorgen nicht einfach bei Vögeln. Er schreibt sattdessen: „Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen sollt, auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen sollt. Denn das Leben ist mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung. Seht die Raben an: Sie säen nicht, und sie ernten nicht, sie haben auch keinen Keller und keine Scheune – und Gott ernährt sie doch!“
Symbol für Lebenskraft
Auch sonst ist dieser Unkonventionelle, obwohl als unrein klassifiziert und mit wüsten, gar dämonischen Orten assoziiert, recht gut angesehen. So rufen beim Psalmisten die jungen Raben Gott geradezu intim als Versorger an. Und im Hohenlied steht das rabenschwarze Haar der Geliebten für Lebenskraft. Jüdische Ausleger der Noah-Episode betonen oft, dem Raben dürfe man kein Unrecht tun: Der müsse er selber sein, sonst verfehlte er sich. Das ist subtil und zeugt von tiefer Wärme, obwohl die Vorstellung, wie er schmatzt und spratzt, fraglos recht schmutzig bleibt. Ihn den Dirty Harry der Bibel zu nennen, liegt daher nahe: Wie Clint Eastwood in seiner Rolle des Callahan muss auch er auf Etikette pfeifen. Er hat bloß diese eine Wahl – und Glück, kann er sie treffen.
Das allerdings sind Untiefen der Auslegung, die bei Alex unter der Oberfläche bleiben. Unappetitlich ist die Serie nie, subtil sehr – und wunderschön. Hier liegt sie jetzt im Querformat vor, was jede Episode auf zwei nebeneinander liegende Seiten verteilt. Das passt gut dazu, wie sich der famose Maler und Texter Bernd Pfarr, sonst ein Meister surrealer Wahrheitsblitze, hier umarmend mild austobt: Sein Alex der Rabe ist ermutigend menschlich geraten. Für die Serie wie Pfarrs Werk insgesamt sei dem deshalb glockenhell ein Wort in den Mund gelegt, das Pfarr für Alex nie textete: Evermore!
Literatur
Bernd Pfarr: Alex der Rabe. Zu Höherem geboren (1994–1998). Kibitz Verlag, Hamburg 2025, 136 Seiten, EUR 24,–.
Udo Feist
Udo Feist lebt in Dortmund, ist Autor, Theologe und stellt regelmäßig neue Musik vor.