Hunger nach Gerechtigkeit

Sonntagspredigt
Foto: privat

Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Anne-Kathrin Kruse. Sie ist Dekanin i.R. in Berlin.

Ort der Liebe

4. SONNTAG NACH TRINITATIS,13. JULI 2025

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. (Lukas 6,36)

Klar und ruhig ist ihre Stimme, und eindringlich sind ihre Worte. Sie sagt: „Mr. President, im Namen unseres Gottes bitte ich Sie, sich der Menschen in unserem Land zu erbarmen, die jetzt Angst haben, weil sie Migranten sind, weil sie Minderheiten angehören und weil sie sozial schwach oder aus anderen Gründen verletzlich sind und Schutz brauchen.“ Mariann Edgar Budde, anglikanische Bischöfin der US-Hauptstadt Washington, spricht diese Worte in ihrer Predigt beim Festgottesdienst in der Nationalen Kathedrale der USA zur Amtseinführung von Präsident Donald Trump. Mutig klagt sie die Kultur der Verachtung an. Aber sie fordert nicht, sondern bittet um Barmherzigkeit. Der Begriff „Barmherzigkeit“ taucht im alltäglichen Sprachgebrauch nicht (mehr) auf. Umso nötiger ist er für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das hebräische Wort für Barmherzigkeit leitet sich von rechem ab, der Gebärmutter als Ort der Geborgenheit, der Liebe, des Mitgefühls.

Rachamim ist im Hebräischen wie im Arabischen einer der Grundnamen Gottes. Und seine Gesichtszüge sollen an uns erkennbar werden. Gott ist barmherzig, seid es also auch! Seid über Maßen großzügig, mäkelt nicht an jedem Detail herum (darin sind wir immer gut), sondern gebt und handelt so, wie Gott es bei euch macht. Aber setzt euch nicht an seine Stelle, richtet nicht! Das seltene griechische Wort oiktirmos bei Lukas meint eine Barmherzigkeit, die Seite an Seite, auf derselben Ebene mit Mitmenschen steht, im Sinne des englischen Wortes compassion, einer Haltung, der das Leid von Mitmenschen bis in die Magengrube wehtut. Compassion, Mitleidenschaft, sprach auch aus Bischöfin Budde. Und das hat sie glaubwürdig gemacht. Mit Hass bis hin zu Morddrohungen hatte sie gerechnet, aber nicht mit den Blumen, die ihr Büro noch Wochen später füllten, zigtausenden Dankesbezeugungen und dem lang anhaltenden Applaus auf dem Kirchentag in Hannover.

Keine Judenmission

5. SONNTAG NACH TRINITATIS, 20. JULI 2025

Diese Zwölf sandte Jesusaus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht nicht in
eine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. (Matthäus 10,5–7)

Wegen dieser Bibelstellen sehen sich auch heute noch christliche Gruppen in der Pflicht, Jüdinnen und Juden zu missionieren. Nachdem das Christentum im Jahre 380 zur Staatsreligion des Römischen Reiches erhoben worden war, behauptete die Kirche, dass sie das Judentum als das wahre Gottesvolk abgelöst hat. Und sie trieb gewaltsam Mission unter Juden. Mit der Frage „Taufe oder Tod?“ hinterließ diese eine lange Blutspur mit unzähligen Märtyrern, die aus Treue zum Gott Israels in den Tod gingen.

Aber sprechen diese Verse denn von Judenmission? Dazu ist eine Re-Lektüre des Textes nötig, die mit den eigenen Hör- und Lesegewohnheiten kritisch umgeht. Ihr geht voraus: Jesus war ein umherziehender Bibelgelehrter, der den Pharisäern nahestand. Bis zum Lebensende blieben er und seine Schüler praktizierende Juden und als solche dem Gott Israels und seinen Geboten treu.

Später erlebt der Evangelist Matthäus hautnah die Eroberung Jerusalems durch die Römer mit, die Zerstörung des Tempels und die Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus ihrem Land. Seine Trauer über dieses Elend legt er Jesus in den Mund in der Hoffnung, dass Gott sein geschundenes Volk wieder sammelt, Verletzte verbindet, Schwache stärkt und Verirrte zurückbringt. Dazu stellt sich Jesus – so Matthäus – in den Dienst Gottes und verkündet, dass der Einbruch von Gottes Reich in nicht allzu weiter Ferne liegt. Und mit Jesus werden zwölf Männer, als die Repräsentanten der zwölf Stämme Israels, biblischer Tradition folgend das Volk Israel wieder zusammenführen. Und was ist mit den „Heiden“?

Während der kirchliche Sprachgebrauch darunter Nicht-Christen verstand, werden in der Bibel alle Nichtjuden, die Völker der Welt, so bezeichnet. Nicht ihnen gilt hier Jesu Sorge, sondern dem Schicksal seiner Mitjüdinnen und Mitjuden. Das Wort Mission taucht hier nirgendwo auf. Und so ergeht auch kein Ruf an heutige Christinnen und Christen, Jüdinnen und Juden von Jesus zu erzählen. Vielmehr geht es um die jüdische Hoffnung, dass die Völker der Welt Gott anerkennen, wenn er sein Volk sammelt und zurückführt. Nur mit seinem Volk ist Gott als der Gott Israels und der Welt erkennbar. Das ist das Geschenk, das Gott uns Christen macht.

Immer neu beginnen

6. SONNTAG NACH TRINITATIS, 27. JULI 2025

Wie Säuglinge nach Milch schreien, so sollt auch ihr nach Milch, nach dem unverfälsch­ten Wort Gottes, verlangen. (1. Petrusbrief 2,2–3)

Aus der Taufe leben“ – das ist das Thema dieses Sonntags. Dennoch wird bei diesem Abschnitt der Bibel deutlich, dass es um den Anfang des Glaubens geht. Die Metapher des neugeborenen Säuglings malt das Bild von Gott als einer stillenden Mutter, die Tag und Nacht für ihr Kind da ist in einer hautnahen Beziehung. Gott gibt Leben den Ihren und nimmt sie verlässlich und zärtlich zur Brust. Ihr Wort geht nie nur durch den Kopf, auch nicht durchs Herz, das in der biblischen Anthropologie der Sitz des Verstandes und der Entscheidungen ist. Gottes Wort geht vielmehr durch den ganzen Körper: Der sucht die Brust, saugt, schmatzt und schluckt. Gottes Wort besteht eben nicht nur aus eng gedruckten Buchstaben auf dünnen Seiten, sondern kommt dem Menschen ganz nahe, wie der Atem eines Mitmenschen und der Geschmack der Muttermilch. Und diese verlässliche Fürsorge bleibt in Erinnerung, zeigt sich in einem Urvertrauen, das trotz aller Zweifel, aller Brüche, aller Abschiede, aller Verletzungen ein Leben lang hält.

Im Unterschied zu Paulus, der von den Glaubenden fordert, endlich feste Nahrung zu sich zu nehmen, hat der Verfasser des Ersten Petrusbriefes an dem Bild der stillenden Mutter und ihres Kindes nichts auszusetzen. „Stets noch einmal mit dem Anfang anfangen“ (Karl Barth) zu müssen oder zu dürfen, zeigt sich nicht nur in der Schwierigkeit vieler Eltern, für ihr Kind Paten zu finden, die sich dem Amt gewachsen fühlen. Immer noch und immer wieder am Anfang zu stehen, entspricht der grundsätzlichen Glaubenserfahrung. Bei Martin Luther liest sich das so: „Ein Christ steht nicht im Worden Sein, sondern im Werden … Denn wer begonnen hat, ein Christ zu sein, der meint nicht, er sei schon einer, sondern möchte nur gerne ein Christ werden.“ Daher „Schmeckt und seht, wie freundlich der Herr ist. Wohl dem, der auf ihn traut!“

Glaube und Tat

7. SONNTAG NACH TRINITATIS, 3. AUGUST 2025

Ich bin das Brot des Lebens: Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. (Johannes 6,35)

Die meisten Gottesdienstbesucher dürften am Sonntagmorgen nach einem guten Frühstück zum Gottesdienst kommen. Wirklichen Hunger kennen zumindest die Jüngeren nur aus Erzählungen oder den Medien. Wie hören diesen Predigttext aber diejenigen, die nicht wissen, wie sie ihren Magen bis zum Abend füllen sollen? Die Brotgeschichten der Bibel zeigen: Gott nimmt den Hunger der Menschen ernst. Die Erzählung von der Wüstenwanderung des Gottesvolkes Israel zeigt, wie verzweifelt, egoistisch und aggressiv Hunger machen kann, weil er wehtut und Angst macht. Die Menschen rebellieren gegen Mose und gegen Gott, träumen von Fleischtöpfen in Ägypten und wollen lieber in die Sklaverei zurückkehren, als in der Wüste sterben. Satt werden in Gefangenschaft wird wichtiger, als in Freiheit zu leben.

Hunger ist eine menschengemachte Katastrophe. Durch die Verweigerung von Hilfslieferungen in den Gazastreifen, die Streichung der Hilfsmittel für die Welthungerhilfe durch die US-Regierung und Kürzungen der Entwicklungshilfe durch die Bundesregierung weitet sich Hunger zu einer globalen Katastrophe aus.

Laut dem Johannesevangelium lässt Gott dieses Leid nicht kalt. Nach der Hungersnot im jüdischen Krieg wirkt die Speisung von tausenden Überlebenden durch Jesus wie ein Wunder. Dabei geht es nicht um ein Spektakel, sondern um ein Zeichen, das auf Gott und sein befreiendes Handeln hinweist.

Christliche Hoffnung nährt sich aus dieser Verheißung: Gott hat schon einmal satt gemacht, und er wird es wieder tun. Was nicht heißt, dass wir nicht alles, was in unserer Macht steht, gegen den Hunger tun sollen. Vertrauen auf Gott und das Tun des Gerechten sind eins.

Brot ist mehr als Mehl, Wasser, Öl und Salz. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, vielmehr von allem, was aus dem Mund des Herrn geht“ (5. Mose 8,3). Gottes Wort, seine Gerechtigkeit, ist Brot. Jesus Christus ist Brot. Denn in ihm wird Gerechtigkeit schmackhaft.

Tag der Umkehr

8. SONNTAG NACH TRINITATIS, 10. AUGUST 2025

Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln ... Sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. (Jesaja 2,4)

Schwerter zu Pflugscharen“ – jene Skulptur des russischen Bildhauers Jewgeni Wutschetitsch am Sitz der UNO in New York steigt bei diesem Satz aus dem Jesajabuch als Erstes vor dem inneren Auge auf. Als Aufnäher an Parka-Ärmeln machte der Bibelvers in den Achtzigerjahren Karriere in der christlichen Friedensbewegung der DDR und dann auch in der Bundesrepublik. Was für eine Vision: Die Völker der Welt ziehen hinauf zum Zion, um Gottes Weisung, seine Tora zu lernen. Und was für eine Provokation angesichts des Krieges in Gaza. In Jesajas Utopie ist weder von Mission noch von Konversion die Rede. Offenbar sehnen sich die Völker vielmehr nach einer Welt, die Gott durch Gerechtigkeit und Frieden konstituiert. So verbindet sich die Bewegung der Völker nicht nur vertikal mit dem Hinaufziehen zum Zion, sondern auch horizontal in der Einigung untereinander. „Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem“ (Jesaja 2,3). Aber sind Christen nicht ohnehin vom „Gesetz“ befreit?

Am 8. Sonntag nach Trinitatis verweist die erste Schriftlesung auf die „Frucht des Lichts“, die als „lauter Güte und Gerechtigkeit“ (Epheser 5,9) beschrieben wird. Und nicht nur für Jüdinnen und Juden ist der 9. Av an diesem Sonntag ein Tag der Umkehr, sondern auch für die christliche Gemeinde. Immer wieder von neuem den Frieden suchen und ihm leidenschaftlich nachjagen, auch hier bei uns. Anfangen kannst du, damit fertig werden aber nie … 

 

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