Eine nur vermeintliche Fürsorge

Die Theologin Sara Egger erforscht in ihrem Promotionsprojekt das System der „Verdingkinder“ in der Schweiz. Dies war die langjährige Tradition der Herausnahme zehntausender Kinder aus ihren Herkunftsfamilien und deren Integration in fremde Aufnahmefamilien. Welche Rolle spielte die Kirche bei diesen staatlichen Maßnahmen?
Bis 1978 wurden in der Schweiz zehntausende Kinder aus ihren Herkunftsfamilien herausgenommen und in ‚Aufnahmefamilien‘ platziert. Viele dieser sogenannten „Verdingkinder“ wurden als billige Arbeitskräfte, zumeist in der Landwirtschaft, eingesetzt. Sie wurden oft als Menschen zweiter Klasse behandelt, vom Familienleben ausgeschlossen und erlebten Missbrauch und Gewalt körperlicher und psychischer Art.
Seit etwa zwanzig Jahren ist die Aufarbeitung der „Verdingungen“ nun in der schweizerischen Öffentlichkeit im Gespräch. Es gibt Schätzungen, dass im 20. Jahrhundert in der Schweiz rund fünf Prozent der Kinder unter 14 Jahren nicht bei ihren Herkunftsfamilien aufwuchsen. Für genauere Zahlen fehlen ausreichende Quellen.
In meiner am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg entstehenden Dissertation über diese „zwangsförmigen Familienplatzierungen“ frage ich nach der Beteiligung von Akteur:innen der reformierten Kirche und den Auswirkungen derselben auf die Lebens- und Glaubensbiografien Betroffener. Es geht also wesentlich darum zu klären, inwiefern das Leid der Schweizer „Verdingkinder“ auch eine Folge kirchlichen Handelns ist und welche Folgen diese kirchliche Beteiligung für die ehemaligen „Verdingkinder“ hat.
In der Schweiz waren die „Verdingungen“ von Kindern und Jugendlichen Teil der sogenannten „Fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen“. Neben den Fremdplatzierungen von Kindern und Jugendlichen gehörten dazu auch „administrative Versorgungen“ von Erwachsenen in Gefängnissen, (Arbeits-)Anstalten und psychiatrischen Kliniken sowie Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisationen, -kastrationen und Medikamentenversuche.
Die Praxis der „Verdingung“ lässt sich grob unterteilen in drei Phasen: In einer ersten Phase, die bis in das ausgehende Mittelalter zurückreicht, ist die Armut der Herkunftsfamilie der Hauptgrund für die „Verdingungen“. Kinder, die von ihren Herkunftsfamilien nicht mehr ausreichend versorgt und ernährt werden konnten, wurden an (verwandte) Familien gegeben, wo sie im Austausch gegen ihre Arbeitskraft leben konnten. Dabei waren es häufig auch die eigenen Eltern, die diese Platzierung veranlassten.
In der zweiten Phase um die Wende zum 20. Jahrhundert kommen zunehmend fürsorgerische Begründungen für die Kindeswegnahmen auf. Hier spielt der Begriff der ‚Verwahrlosung‘ eine große Rolle, der die bereits existierende Unterscheidung zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen und die damit einhergehende Stigmatisierung neu akzentuiert: Nicht mehr nur jene Menschen, die auf finanzielle Hilfe angewiesen waren, kamen ins Visier, sondern verstärkt auch jene, deren Lebensweise nicht den moralischen Idealen der bürgerlichen Schicht entsprachen. Spätestens mit dem ersten Schweizerischen Zivilgesetzbuch, das 1912 in Kraft trat, wurden auch präventive Kindeswegnahmen ermöglicht. Die Kinder und Jugendlichen konnten nun auch bei einer befürchteten, aber noch gar nicht eingetretenen „Verwahrlosung“ aus ihren Herkunftsfamilien herausgenommen werden.
In einer dritten Phase, spätestens ab den 1920er-Jahren, sind auch eugenisch-nationalistische Begründungen für „Fürsorgerische Zwangsmaßnahmen“ zu beobachten. So ist zum Beispiel die Sorge um die Hygiene und den „gesunden Volkskörper“ ein Begründungsmuster für Kindeswegnahmen und Fremdplatzierungen.
Akteur:innen der reformierten Kirche waren auf verschiedenen Ebenen an den Fremdplatzierungen von Kindern und Jugendlichen beteiligt. So gab es Pfarrfamilien, die selbst Kinder aufnahmen. Berichte von Betroffenen belegen, dass es ihnen in den Pfarrfamilien nicht zwingend besser ging als in anderen Familien. Pfarrer waren häufig auch in die organisierte private Wohltätigkeit sowie teilweise in die gemeindliche Armenfürsorge eingebunden. Sie entschieden in diesen Funktionen mit, ob armutsbetroffene Kinder und Jugendliche in ihren Herkunftsfamilien unterstützt oder stattdessen fremdplatziert wurden.
Ein Mittel der Vermittlung waren Inserate in Zeitschriften, in denen Menschen ausgeschrieben wurden, für die ein Pflegeplatz gesucht wurde. Nicht selten wurde dabei das gemeindliche Pfarramt als Kontaktadresse angegeben. Es gibt aber auch Berichte, wie Kinder im Gottesdienst an verschiedene Familien im Dorf verteilt wurden. Teilweise wurden Pfarrer auch als Vormunde oder Inspektoren eingesetzt. Sie waren damit eigentlich in der Pflicht, die Bedingungen an den „Pflegeorten“‘ zu kontrollieren. Es war dies jedoch eine Aufgabe, die – nicht nur von Pfarrern – allzu oft vernachlässigt wurde.
Erste Resultate meiner Analyse von Zeitschriftenartikeln, die Pfarrer in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum Thema geschrieben haben, haben ergeben, dass theologische Begründungen für die Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen sich mit zur damaligen Zeit geläufigen außertheologischen Begründungsmustern vermischen. Eugenische Ideen einer „gesunden“ Vererbung vermengen sich mit Überlegungen zur Weitergabe von Sünde. Der Gedanke eines „Volkskörpers“ wird in Verbindung gebracht mit der biblischen Vorstellung, die christliche Gemeinschaft sei mit Christus ein Leib mit vielen Gliedern. Zugleich wird aber auch deutlich, dass Pfarrer versuchten, Mitgefühl für Menschen zu wecken, die von Armut betroffen waren, und dass sie um die Problematik von Vorverurteilungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht wussten.
Dies alles ist natürlich weiter zu differenzieren und zu kontextualisieren. Dazu gehört auch, aktuell laufende Diskurse wie jenen um Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt in den evangelischen Kirchen in Deutschland und der Schweiz zu berücksichtigen. Da es mir in meinem Forschungsprojekt wesentlich darum geht, Strukturen zu identifizieren, die die kirchliche Beteiligung an den „Verdingungen“ prägten, und nachzuzeichnen, welche Auswirkungen diese auf die ehemaligen „Verdingkinder“ hatten, kann hoffentlich dann meine Arbeit auch aufschlussreich für die aktuellen Diskurse um Machtmissbrauch und Formen der Gewalt im kirchlichen Kontext sein.
Aufgezeichnet von Philipp Gessler