Keine weißen Eindringlinge

Das Judentum ist eine Nation und sollte so auch verstanden werden
Foto: Dubnow Institut

Seit Jahrzehnten gilt es nicht nur an Universitäten als Allgemeinplatz, dass Nationen in erster Linie historische Konstrukte und weniger Ausdruck organisch gewachsener Kontinuitäten sind. Der namhafte Historiker Eric Hobsbawm hebt beispielsweise hervor, dass der Nationalismus als politische Bewegung rückblickend historische Narrative und Traditionen erschafft, um eine kollektive Identität und damit auch Souveränität zu legitimieren. Viele Symbole, Rituale und Mythen sind in Wirklichkeit jüngeren Ursprungs und werden bewusst inszeniert. Mit der Kon­struktion eines homogenen Kollektivs gehe stets auch die Dominanz und Abgrenzung gegenüber „dem Anderen“ einher.

Diese Erkenntnisse haben zu einem tieferen Verständnis des Nationalismus als moderne politische Bewegung beigetragen. Allzu häufig jedoch wurden die umfangreichen Werke auf Schlagworte reduziert und einer politischen Agenda unter­geordnet, die mit der Analyse komplexer historischer Prozesse kaum noch etwas gemein hat. In dieser ideologisch gefärbten Lesart gilt das Heraufbeschwören nationaler Traditionen als Angriff „Ewigges­triger” auf die offene, multikulturelle Gesellschaft und erfordert daher entsprechende politische Bekundungen.

Bemerkenswert ist, dass all diese Erkenntnisse vor allem zur „Dekonstruktion” der Legitimität westlicher Nationen, insbesondere Israels, herangezogen werden. Die „unterdrückten Völker” der Region gelten hingegen als authentische Gemeinschaften mit einem inhärenten Recht auf Selbstbestimmung – selbst wenn es sich dabei um Militärdiktaturen oder isla­mische Gottesstaaten handelt, in denen Minderheiten routinemäßig vertrieben oder sogar massakriert werden. Dabei ist die heutige politische Landkarte des Nahen Ostens in erster Linie das Ergebnis der britischen und französischen Mandatspolitik nach dem Ersten Weltkrieg. Im Zuge der Auflösung des Osmanischen Reiches übernahmen die beiden Länder die vom Völkerbund legitimierte Kontrolle über Syrien, den Libanon, den Irak und Palästina. Anders als die antiken jüdischen Königreiche in Israel existierten diese Länder zuvor nicht als eigenständige Gemeinwesen und verfügten auch nicht über eine nationale Identität.

Ironischerweise betrachten sowohl antinationale Theoretiker als auch postkoloniale Aktivisten allein Israel als weißen Eindringling, der jeglicher historischer Kontinuität entbehre und ein Produkt des Kolonialismus sei. Die Vorstellung einer jüdischen Nation oder gar Zivilisation, die die Grenzen von Religion und ethnischer Zugehörigkeit überschreitet, wird als Spiegelbild der Nürnberger Gesetze abgetan. Zwar wird großzügig eingeräumt, dass Juden über religiöse und kulturelle Traditionen verfügen. Dabei wird jedoch stets betont, wie wenig der moderne Zionismus mit den authentischen Lebensformen der vornehmlich religiösen Gemeinschaften gemein habe. Ohnehin sei die Mehrheit der Juden vor der Staatsgründung Israels, die ihnen die westliche Staatengemeinschaft allein aufgrund der Shoah gewährt habe, antizionistisch gewesen.

Dabei wird jedoch bewusst ausgeblendet, dass der Zionismus eine Reaktion auf das uneingelöste Glücksversprechen der Emanzipation sowie auf den Aufstieg des modernen Antisemitismus war. Entsprechend war die Ablehnung dieser politischen Bewegung ein gleichermaßen junges Phänomen, das nicht grobschlächtig mit der messianischen Erwartung der Rückkehr nach Eretz Israel gleichgesetzt werden kann. Diese Vorstellung trug zwar tatsächlich dazu bei, dass zahlreiche rabbinische Autoritäten den Zionismus ablehnten. Einige führende Persönlichkeiten sahen jedoch keinen Widerspruch zwischen Zionismus und Religiosität. Wieder andere arrangierten sich mit dem Judenstaat als pragmatische Zwischenlösung, in der ein traditionelles Leben relativ unbehelligt möglich war.

Indessen verstand sich die überwältigende Mehrheit der Juden von der Antike bis zur Französischen Revolution als Nation, und wurde von außen auch so verstanden: als über die ganze Welt verstreute, aber dennoch zusammengehörige Gemeinschaft. Zur Selbstbeschreibung dienten Begriffe wie „Am Israel” (Volk Israel) oder „Bnei Israel” (Kinder Israels), die ein kollektives Bewusstsein jenseits der bloßen Religions­zugehörigkeit ausdrückten. Der Siddur, das zentrale Gebetbuch, dessen Komposition sich über mehr als ein Jahrtausend erstreckte, ist von diesem nationalen Selbstverständnis durchdrungen.

Bemerkenswert ist, dass sich ein jüdisches nationales Bewusstsein trotz der Zerstörung des zentralen Heiligtums, der Zerstreuung der Juden und des Endes der politischen Autonomie über mehr als zwei Jahrtausende hinweg erhalten konnte. Dies sollte Erstaunen und Neugier hervorrufen, anstatt einfach abgetan zu werden – sofern es wirklich um Erkenntnisgewinn und nicht um die akademische Legitimierung des eigenen Judenhasses geht.

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Alexandra Bandl

Alexandra Bandl ist im Vorstand des jüdischen Vereins TaMaR Germany. Aktuell ist sie Doktorandin am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur - Simon Dubnow und arbeitet zudem als Bildungsreferentin im jüdischen Kulturzentrum Ariowitsch-Haus in Leipzig.

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