Neues Verhältnis bekräftigen

Wie eine veränderte Beziehung zum Judentum gottesdienstliche Gestalt gewinnt
Blick aus der Kirche Dominus Flevit („Der Herr hat geweint“) auf den Jerusalemer Tempelberg.
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Blick aus der Kirche Dominus Flevit („Der Herr hat geweint“) auf den Jerusalemer Tempelberg.

Am so genannten Israelsonntag ist das Verhältnis von Christen und Juden bestimmendes Thema. Alexander Deeg, Professor für Praktische Theologie in Leipzig, meint, es sollte an diesem Tag keine Herabsetzung des Judentums mehr geben, sondern vielmehr „eine Feier des Miteinanders von Christen und Juden und der Zukunft und Hoffnung, die wir nur gemeinsam haben“. Zugleich berichtet er von neuen Entwicklungen.

Sonntage sind Unterbrechungen der Zeit – oder sollten es sein. Wenn es ständig weitergeht, sich die Ereignisse überholen und Menschen das paradoxe Gefühl haben, dass die Beschleunigung zunimmt und die Welt doch enger wird von Tag zu Tag, dann unterbricht der erste Tag der Woche, der Sonntag, diese Bewegung. Er lässt den Blick heben, fragen, wie wir dahin gekommen sind, wo wir jetzt sind, und nach vorne schauen. Er lässt erkennen, wer wir sind oder sein könnten, und stellt Füße auf weiten Raum.

Das gilt für jeden Sonntag. Und das gilt in besonderer Weise für den Israelsonntag, den 10. Sonntag nach Trinitatis. Er unterbricht die christliche Gemeinde in der Selbstverständlichkeit ihrer Existenz und die Kirchen in ihren vielfältigen Krisen und zeigt, wo Kirche herkommt und was sie ist. Der Apostel Paulus würde sagen: Sie ist in den Stamm der Verheißungen Israels eingepflanzt und nur mit Israel, dem bleibend erwählten Gottesvolk, unterwegs. Aber ist das nun lediglich eine dogmatische Bestimmung, weit entfernt von jeder Lebens- und Glaubenserfahrung und irgendwie irrelevant jenseits christlich-jüdischer Dialogkreise?

Der Israelsonntag bietet die Möglichkeit, die Relevanz der Verbindung von Kirche und Israel zu entdecken und zu feiern – gerade und erst recht heute, wo der Antisemitismus weltweit dramatisch zunimmt und auch bei uns gut 20 Prozent der evangelischen und katholischen Christ:innen antisemitischen Aussagen zustimmen. Wie etwa dem Satz: „Durch die israelische Politik werden mir Jüdinnen und Juden immer unsympathischer.“ Das Problem dieser Aussage liegt keineswegs darin, dass Kritik an den Menschen- und Völkerrechtsverletzungen Israels in Gaza oder der Westbank nicht möglich wäre, sondern in der Pauschalisierung: Die berechtigte Kritik an der Politik der gegenwärtigen israelischen Regierung wird mit der Haltung gegenüber allen (!) Jüdinnen und Juden verbunden. Auch klassische antijudaistische Aussagen werden von etwa einem Achtel der Christenmenschen vertreten – zum Beispiel: „Die Juden tragen bleibende Schuld am Tod Jesu.“ Dass mehr als die Hälfte der Christ:innen das Alte Testament für „überholt“ halten, ist ein Ergebnis der Leipziger Bibel-Studie, bei der 2022 insgesamt 1209 Menschen mit und ohne kirchliche Bindung unter anderem zu Besitz, Gebrauch und Verständnis der Bibel befragt wurden. Auch dieses Ergebnis zeigt: Die Feier des Israelsonntags ist herausfordernd aktuell und drängend notwendig.

Gefühl der Überlegenheit

Dabei spiegelt der 10. Sonntag nach Trinitatis (in diesem Jahr am 24. August 2025) selbst die komplexe Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Israel. Die Grundlage ist die Evangelienlesung aus Lukas 19,41–48, die sich seit dem frühen Mittelalter an diesem Tag nachweisen lässt: Jesus kommt nach Jerusalem, sieht die Stadt und weint über sie. Er kündigt die Zerstörung der Stadt an: „… (D)eine Feinde … werden dich dem Erdboden gleichmachen ..., weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du besucht worden bist.“ Exeget:innen sind sich einig, dass Lukas hier im Rückblick auf die Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 unserer Zeitrechnung schreibt – ein so genanntes vaticinium ex eventu, also eine Vorhersage auf der Grundlage des bereits eingetretenen Ereignisses. Bibelstellen wie diese waren in den Jahrhunderten nach der Trennung von Christentum und Judentum die Grundlage für ein christliches Überlegenheitsgefühl gegenüber Jüdinnen und Juden, für die Vorstellung einer ‚Enterbung‘ und Substitution Israels durch die Kirche, die nun die eigentliche Trägerin der Verheißungen sei.

Dieser Evangelientext wurde elf Wochen nach Pfingsten in den Gottesdiensten der römischen Kirche gelesen. Die lutherische Reformation hielt daran fest, wobei in der Zeit der Reformation ein weiterer Text Bedeutung an diesem Sonntag erlangte. Der Reformator Johannes Bugenhagen verfasste 1534 eine Erzählung von der „Verstörung der Stad Jerusalem“, die in Gesangbüchern und Kirchenordnungen abgedruckt und bis ins 20. Jahrhundert immer wieder neu bearbeitet wurde. Sie betont theologisch die „Verblendung“ der Juden, die Jesus nicht als den erwarteten Messias erkennen konnten; ihre „Blindheit“ aber habe „unsere Seligkeit“ bewirkt. „Also hat Jerusalem die aller berümtiste Stad im ganzten Morgenland ein elend jemmerlich ende gehabt“, so schließt Bugenhagen seinen Bericht, der Warnung und Mahnung für die Christenmenschen heute sein sollte, das Heil nicht zu übersehen, das in Jesus Christus geschenkt wird. Gleichzeitig wollte Bugenhagen den Christenmenschen einschärfen, dass es keinerlei Grund für ein christliches Überlegenheitsgefühl den Juden gegenüber gibt – im Gegenteil. Ob das freilich bei der Verlesung der „Historie von der Zerstörung Jerusalems“ in evangelischen Gottesdiensten am 10. Sonntag nach Trinitatis immer so war, kann gefragt werden. Vielleicht geschah auch das Gegenteil – und Christenmenschen blickten herab auf die in ihren Augen unbußfertigen und zu Umkehr und Erkenntnis nicht bereiten Jüdinnen und Juden.

Der 10. Sonntag nach Trinitatis jedenfalls wurde als „Gedenktag der Zerstörung Jerusalems“ gefeiert. Mancherorts gewann er große Bedeutung – wie etwa in dem mittelfränkischen Dorf Reichenschwand. Dort wurde (und wird!) der Gottesdienst an diesem Sonntag seit 1816 in der Friedhofskapelle und nicht in der Kirche gefeiert. Das Reichenschwander Gemeindearchiv berichtet: „Der Hauptgottesdienst an Dom. X. p. Trin. wird herkömmlich unter großer Betheiligung bei geschmückten Gräbern in der Gottesackerkirche gehalten, dabei das Gedächtniß an d. Zerstörung Jerusalems u. die Entmachtung des Todes verbunden.“ Die Lage in Reichenschwand 1816 war nach den Befreiungskriegen, angesichts von Missernten und hoher Sterblichkeit bedrückend. Es war Zeit zur Klage, Buße und Bitte. Dafür wählte der damalige Pfarrer Hering den 10. Sonntag nach Trinitatis. Wie Israel fand man sich in der Situation der Zerstörung wieder und im Weinen Jesu über die Stadt.

Wenige Kilometer von Reichenschwand entfernt befanden sich bedeutende jüdische Landgemeinden. Es ist zwar nicht mehr nachweisbar, aber auch nicht auszuschließen, dass die jüdischen Klagefeiern am Gedenktag der Zerstörung des Tempels (Tischa be’Av; in zeitlicher Nähe zum 10. Sonntag nach Trinitatis begangen; in diesem Jahr am 2./3. 8. 2025) zur Inspiration dienten – und Christen und Juden in eine liturgische Gemeinschaft der Klage führten.

Es zeigt sich: Keineswegs immer wurde das Evangelium von der Zerstörung Jerusalems mit dem Ausdruck christlicher Überlegenheit gegen Jüdinnen und Juden verbunden. Aber es ist im Rückblick auf viele erhaltene Predigten doch klar, dass dies lange Zeit die leitende Hermeneutik des Tages war. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dann in der Ordnung der Lese- und Predigttexte, die 1958 in Kraft trat, Bibelworte für diesen Sonntag ausgewählt, die nicht mehr nur von der Zerstörung Jerusalems sprachen. So konnte Römer 9,1–5; 10,1–4 als alternative Epistellesung gewählt werden – Verse, in denen die Israeliten gerühmt werden, denen „die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse“ (Römer 9,4). Als weiterer Predigttext wurde Römer 11,25–32 vorgeschlagen – ein Abschnitt, in dem Paulus unterstreicht, dass „Gottes Gaben und Berufung ihn nicht gereuen“ können (Römer 11,29). Freilich konnten die Texte im Klangraum dieses Sonntags immer noch so gehört werden, dass mit der eigentlichen und wahren Offenbarung in Christus der jüdische Weg des Heils an ein Ende gekommen sei (so ein problematisches Verständnis von Römer 10,4).

So verwundert es nicht, dass in den folgenden Jahrzehnten, in denen der jüdisch-christliche Dialog Fortschritte machte, besonders kritisch nach den Texten gefragt wurde, die am 10. Sonntag nach Trinitatis gelesen werden. 1977, zwei Jahre nach dem Erscheinen der ersten EKD-Studie „Christen und Juden“, wurde als Epistellesung Römer 11,25–32 gesetzt und Johannes 2,13–22 als weiterer Text hinzugefügt, die johanneische Fassung der Tempelreinigung Jesu. Damit wurde der Sonntag komplexer, und es waren faktisch drei Themen im Spiel: die grundlegende Frage nach dem Verhältnis von Christen und Juden, die Zerstörung Jerusalems und die Frage nach dem Tempel, vor allem: die Tempelkritik. Und immer noch konnte der Sonntag so wahrgenommen werden, dass Christ:innen in Jesu Kritik am Tempel einstimmen, die Zerstörung des Tempels als Folge einer falschen Frömmigkeit und jüdischen Unglaubens sehen und sich selbst als überlegen fühlen.

Mit der Einführung des Evangelischen Gottesdienstbuchs 1999 wurde dann ein entscheidender neuer Schritt gegangen, der allerdings im Blick auf den 10. Sonntag nach Trinitatis uneindeutig ausfiel. Als einer der wenigen Sonntage im Kirchenjahr wurden zwei Evangelienlesungen angegeben: Das „alte“ Evangelium aus Lukas 19, und neu hinzu kam mit Markus 12, 28–32 die Frage nach dem höchsten Gebot, bei der Jesus und ein Schriftgelehrter grundlegend übereinstimmen: Es geht um Gottes- und Nächstenliebe. Mit dem Evangelium sollte gezeigt werden, was Christ:innen und Jüd:innen durch die Zeiten verbindet und wie das Christentum nie anders als aus den Quellen Israels und im Dialog mit Jüdinnen und Juden leben kann.

Wenig attraktive Farbe

Die Reform der Lese- und Predigttexte 2018 ging einen weiteren Schritt und unterschied zwei mögliche Weisen, den 10. Sonntag nach Trinitatis zu feiern, die sich in den liturgischen Farben unterscheiden: Es gibt einen grünen Israelsonntag und einen violetten. Am grünen, der in der Regel zur Feier vorgeschlagen wird, ist Markus 12 das Evangelium; der Sonntag feiert die Verbindung mit Israel, die Gebote, die wir teilen, und die Verheißungen, in die wir mit hineingenommen sind. Der violette gedenkt an die Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Violett steht für Bußtage – und damit für die Bereitschaft, die Geschichte des christlichen Antijudaismus und die Geschichte der christlichen Gewalt gegen Jüdinnen und Juden wahrzunehmen. Und violett steht für die Umkehr zu einem erneuerten Verhältnis zu Gottes ersterwähltem Volk und zu einer gemeinsamen Klage mit Israel – wie dies den Tag im mittelfränkischen Reichenschwand seit gut 200 Jahren bestimmt.

Es gilt, Entscheidungen zu treffen: Wer grün und violett mischt, erhält eine braun-graue bis schlammige, in jedem Fall wenig attraktive Farbe. Die sonntägliche Unterbrechung am 10. Sonntag nach Trinitatis lässt sich nutzen für den Rückblick oder den Ausblick, für Buße und Umkehr oder für die Freude darüber, dass auch wir, die Menschen aus den Heiden, nicht ohne den Gott Israels und damit nicht ohne Hoffnung in dieser Welt sind. Beides scheint nötig, gerade heute 2025 – und so ist dieser Sonntag nicht nur ein Spiegel des christlichen Verhältnisses zum Judentum, sondern hoffentlich auch und gerade in diesem Jahr eine Feier des Miteinanders von Christen und Juden und der Zukunft und Hoffnung, die wir nur gemeinsam haben. 

Literatur
Irene Mildenberger: Der Israelsonntag. Gedenktag der Zerstörung Jerusalems. Untersuchungen zu seiner homiletischen und liturgischen Gestaltung in der evangelischen Tradition, SKI 22, Berlin 2004 (antiquarisch erhältlich).

Information
In der Septemberausgabe von zeitzeichen erscheint ein Interview mit der Rabbinerin Elisa Klapheck (Frankfurt/Main) zum Thema christlich-jüdischer Dialog.

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Foto: Sakralraumtransformation

Alexander Deeg

Prof. Dr. Alexander Deeg, geb. 1972, lehrt Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Leipzig und leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD). 

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