„Gesegnet bis ins tausendste Glied“

Die Epigenetik zeigt, wie Umwelt, Lebensweise und Denken unsere Gene steuern. Wenn aber das Christentum von der Freiheit des Menschen ausgeht, sind dann Religion und Epigenetik Gegensätze? Oder nähern sie sich in ihrer Sicht auf das menschliche Erbe und die Möglichkeit der Transformation überraschend an? Diesen Fragen geht Laura Brauer, Journalistin und Mitarbeiterin der Humboldt-Universität zu Berlin, nach.
Sitzt Gott im Gehirn? Können Segen und Fluch der Vorfahren über Generationen hinweg fortwirken? Und beeinflussen Gebet oder Meditation nicht nur die Seele, sondern auch unsere Gene? Diese Fragen eröffnen ein faszinierendes Spannungsfeld zwischen moderner Wissenschaft und jahrtausendealten religiösen Traditionen – ein Dialog zwischen Labor und Kanzel, zwischen DNA und Dogma. Die Epigenetik zeigt, wie Umwelt, Lebensweise, gar unser Denken Gene steuern.
Eine Erkenntnis der Moderne? Schon die Bibel spricht von generationenübergreifenden Folgen menschlicher Taten („Die Sünden der Väter heimsuchen bis ins dritte und vierte Glied“, 2. Mose 20,5) – und zugleich von Erneuerung („Siehe, ich mache alles neu“, Offenbarung 21,5). Sind Religion und Epigenetik also Gegensätze, oder nähern sie sich in ihrer Sicht auf das menschliche Erbe und die Möglichkeit der Transformation überraschend an? Insgesamt ist deutlich, dass theologische Konzepte in Verschränkung mit epigenetischer Forschung an Bedeutung gewinnen können.
Wie beeinflusst Religion unsere Gene? Ganz genau weiß man es noch nicht. Doch so viel ist klar: Unser Erbgut ist kein starrer Code. Während die DNA-Sequenz feststeht, lassen sich epigenetische Markierungen – beeinflusst durch Umwelt, Erfahrungen und Lebensstil – ein- oder ausschalten. Epigenetik beschreibt, wie der Phänotyp eines Organismus erst durch Wechselwirkungen mit der Umwelt entsteht. Neben der genetischen Veranlagung der Eltern spielt dabei auch die individuelle Lebenserfahrung eine Rolle. Faktoren wie Ernährung, Stress, soziale Bindungen oder Traumata hinterlassen epigenetische Spuren. Religiosität kann viele dieser Prozesse beeinflussen – und möglicherweise sogar prägen.
Vor diesem Hintergrund liest sich die christliche Bibel als ein Kompendium reich an „Erbwissen“. Bereits in den ältesten erhaltenen Schriften der Bibel, der Genesis und/oder dem Buch Hiob, spielt Vererbung eine zentrale Rolle. Knecht der Knechte, der erbliche Fluch hält Kanaans Generationen Geisel. Sowohl Abraham als auch Hiob ringen mit den Fragen von erblicher Schuld und Sünde – modern gesprochen: von erblichem Trauma und wie man sich aus vergangenen, sich fortpflanzenden Determinismen in Körper und Geist frei machen könne.
Wissen des Alltags
Den Israeliten war die Bedeutung um das Wissen von Vererbung auf vielerlei Ebenen handlungsweisend. Alltagspraktisch, etwa beim Vermehren von Schaf- und Ziegenherden (Genesis 30) oder Ernährungsgeboten (vergleiche Genesis 1 16–17: „verbotene Frucht“; Ezechiel 18,2: „saure Trauben“), gesellschaftspolitisch bei der Eheschließung oder der Regelung von Erbfolge und Nachlass, ebenso wie religiös als Gemeinschaft im Bund mit JHWH oder, in anderen Worten, als Gottes Erbbesitz (nachǎlāh).
All diese Ebenen von „Erbwissen“ lassen sich nicht auseinanderdividieren, und doch scheinen sie über das Vertrauen auf „Erfahrungswissen“ aufgrund von Umweltbeobachtung verbunden. Sei es in der Fortpflanzung von Paarhufern, sei es in der Fortpflanzung von Ideen, Glaube, Tradition. Schließlich war Umweltbeobachtung als Naturbeobachtung, deren Interpretation, Interaktion und Übersetzung in die soziale Welt den frühen Juden und Christen eine zentrale Logik in der Glaubens(be)gründung. Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir wieder werden, Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub (vergleiche Genesis 3,19).
Rollende Murmel
So alt das Wissen um Erbe beziehungsweise Vererbung in nomadischen und agrarischen Stammesgemeinschaften des AT, so jung stellt sich im Vergleich die Forschungsgeschichte der Epi-/Genetik dar. Conrad Hal Waddington, Professor für Tiergenetik an der Universität Edinburgh, war es, der erstmalig den Begriff „Epigenetik“ in seinem Werk Organizers and Genes (Erstauflage 1940) als Amalgam von Genetik und Epigenese definierte.
Waddington entwarf zusammen mit dem Künstler John Piper die Grafik „Epigenetic Landscape“ (Seite 15), um das Wechselspiel von Genen und Umwelt zu veranschaulichen: Der Organismus wird hier als rollende, alternde Murmel vorgestellt, die sich in unterschiedlichen Tälern (epigenetische Programme/Phänotypen) wiederfinden kann, je nachdem welche Umweltfaktoren und welcher Lebenswandel die Murmel lenkt. „Er wird Dich zu einer Kugel zusammenrollen und Dich werfen wie einen Ball in ein weites Land!“ (Jesaja 22,18). Die sich aufdrängende biblische Bildsprache kommt nicht von ungefähr. Piper malte zeitlebens Kirchen und stellte Mosaike für Kathedralen her. Ob Waddington die biblische Bildsprache intendierte, sei dahingestellt.
Erst in den 1990er-Jahren etablierte sich die Epigenetik in der genetischen Forschung – die Einbindung der Religion ließ noch länger auf sich warten und gewann erst in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren an Bedeutung. Nur ein Grund hierfür dürfte auf einem methodologischen Dilemma beruhen.
Der Molekularbiologie Denis Alexander stellt in seinem Buch Genes, Determinism and God nicht nur eine Übersicht verschiedenster kursierender (und konkurrierender) Definitionsansätze von Religion, „Spiritualität“ und „Religiosität“ in den modernen Naturwissenschaften zusammen. Er beschreibt darüber hinaus, wie sich frühe Studien über die Heritabilität (Erbbarkeit) von Religion bekannter, evidenzbasierter Messmechanismen entzogen.
Ein Beispiel aus frühen Studien zu epigenetischen Rückkopplungen von Kirchengänger:innen: Für eine Agnostikerin kann ein Kirchbesuch stärkere Auswirkungen haben als Yoga – sei es durch Kirchenmusik, Familientradition oder individuelles Geborgenheitsgefühl. Eine rein handlungsbasierte Religionsdefinition würde solche inneren Motive übersehen.
Aktuelle Forschungsbereiche auf der Schnittstelle von Epigenetik und Religion zeigen auf, mit welcher Vielfalt an Disziplinen und Akteuren wir es zu tun haben: Im deutschsprachigen Diskurs kommt mit Matthias Beck eine der prominentesten Stimmen aus der Theologie selbst zu Wort. In einem Beitrag aus dem Jahr 2023 widmet sich der Moraltheologe, Pharmazeut und Priester dem Christentum als „heilender Religion“.
Dabei bringt Beck den repetitiven, kontemplativen und reproduktiven Prozess innerer Heilung als Faktor epigenetischer „Neu-/Schaltung“ ins Spiel. Praxeologische Ansätze (Resilienz durch repetitive, erneuernde Wiederherstellung innerer Ruhe) werden auch in der verhaltenstherapeutischen Arbeit oder Schmerzrehabilitation mit chronisch erkrankten Patient:innen erprobt.
Ein anderes, konfliktgeladenes Spannungsfeld eröffnet sich rund um die Transgenerationale Traumaforschung. Dies ist etwa dann der Fall, wenn religiös motivierte körperliche Eingriffe, wie zum Beispiel die rituelle Beschneidung (Judentum, Islam), als Auslöser eines kindlichen Traumas und epigenetischer Veränderungen in Verdacht geraten.
Letzte Dinge
Nicht zuletzt sollte die Frage der letzten Dinge zur Sprache kommen, etwa dann, wenn Epigenetik als Lebensverlängerung zum Einsatz gebracht wird. Eine von vielen Theorien in diesem Kontext kann man sich zum Beispiel so vorstellen, dass ein manipulierender Zugriff auf die epigenetische On-off-Schaltmechanik zur Zellerhaltung (Altershemmung) genutzt werden soll. Schließlich wird in Zukunft die Rolle von Religiosität in der so genannten personalisierten Epigenetik (passgenaue Therapieformen für Individuen) zu diskutieren sein.
Es ist klar: Theologie sowie Genetik sollten vermehrt in Dialoge eintreten. Auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache werden sich beide Disziplinen in einen offenen Reflexionsprozess mit Postulaten um „Wahrheit“ beziehungsweise „Autorität“ begeben müssen. Mit den Worten Paul Feyerabends: „[…] alle Methodologien, selbst die offensichtlichsten, [haben] ihre Grenzen. Der beste Weg, dies zu zeigen, besteht darin, die Grenzen und sogar die Irrationalität einiger Regeln aufzuzeigen, die sie wahrscheinlich als grundlegend betrachten.“
Ich sehe darin viele Potenziale: So kann die Entwicklung naturwissenschaftlicher Modelle zur Messung von Religiosität zu ihrer Vielschichtigkeit beitragen, wobei vice versa die lange unterschätzte Bedeutung individuellen geistigen Innenlebens ins Aufmerksamkeitsfeld der Biologie gerückt wird. Um nur einen konkreten Gesellschaftsbereich zu nennen, innerhalb dessen sich vielfach Überschneidungen ergeben: das öffentliche Gesundheitswesen.
Carework, Krankenpflege, (Sucht-)Prävention sind Bereiche, denen sich Kirchen-/Glaubensgemeinschaften ebenso wie Naturwissenschaftler:innen verpflichtet fühlen und voneinander profitieren können, um zum Beispiel epigenetische Mechanismen zu verstehen, die die generationenübergreifende Weitergabe von Gesundheitsschäden durch Diskriminierung betreffen. In Australien etwa wurde staatlicherseits seit 2017 die Forschung zur Gesundheit indigener Bevölkerung angestoßen, die auf die Sicherstellung zur „Ausübung von Kultur“ abhebt und diese dabei in ihren komplexen spirituellen, umweltlichen, sprachlichen Zusammenhängen respektiert.
Andere Tendenzen religiöser Vereinnahmung der Epigenetik dürfen hingegen nicht außer Acht geraten: Dies betrifft insbesondere Trends, die unter dem Deckmantel sogenannter epigenetischer Verhaltens- oder Vererbungsmodelle biblisches mit eugenischem Gedankengut vermischen. Gleiches gilt etwa für die genetische Beforschung religiöser Heiratspraktiken, die sich stets zu vergewissern hat, (un-/bewusst) Vorurteile zu reproduzieren. Das gilt insbesondere für eine gewisse – in den Naturwissenschaften noch immer zu sehr vernachlässigte – semantische Sensibilität (wenn zum Beispiel von „Selektionsdruck“ die Rede ist).
Auch die Coaching-Szene ist unlängst auf das Verkaufspotenzial von „spiritueller Epigenetik“ aufmerksam geworden. Mit Slogans wie „Entschlüssele dein volles spirituelles Potential“ oder „Einsicht in die geheime Botschaft der geistlichen DNA“ werden dann pseudowissenschaftliche, oft kostspielige (Bibel-)Kurse beworben.
Das „Gottes-Gen“
Natürlich mischen auch Genetiker:innen in der Multiplikation voreingenommener Missinterpretation mit. Ein Beispiel ist die Kontroverse um das „Gottes-Gen“, das Dean Hamer 2004 postulierte. Hamers Theorie, spirituelle Erfahrungen auf ein bestimmtes Gen (Monoamintransporters 2) zurückzuführen, konnte ebenso widerlegt werden wie seine Behauptung, ein „Schwulen-Gen“ gefunden zu haben.
Dennoch ist die Faszination um ein Gottes-Gen ungebrochen. Tatsächlich konnte religiöse Aktivität in einigen Bereichen des Gehirns wie dem Hypothalamus, der Amygdala und dem Hippocampus in funktionalen MRT-Aufnahmen sichtbar gemacht werden.
Elvira Nadin (University Dallas) warnte jedoch in einem 2022 erschienenen Sammelband zu Epigenetics and Anticipation mit Blick auf die Diskussion zum Gott-Gen und zur Suche nach Gott im Hirn: „Der Drang zu wissen, nicht eine bestimmte Stelle im Gehirn oder eine bestimmte Konfiguration von Neuronen, erklärt Gott und Religion.“ Gleichwohl wird ebenjener Wissensdrang, jene Neugierde den Dialog zwischen den Disziplinen hoffentlich in Zukunft intensivieren.
Laura Brauer
Laura Brauer ist Studentische Hilfskraft an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.