„Wer Frauen sucht, wird sie finden“

Vor hundert Jahren fand die erste Weltkonferenz für Praktisches Christentum vom 19. bis 30. August in Stockholm statt. Sie gilt als Meilenstein in der Geschichte der ökumenischen Bewegung und in ihrem Engagement für Gerechtigkeit und Frieden. Ursula Thomé, Ökumenikerin und emeritierte Pfarrerin aus Essen, schaut auf die Präsenz von Frauen und spürt ihren bisher kaum gewürdigten Beiträgen nach.
Ein Blick auf das offizielle Gruppenbild von 1925 zeigt: Die erste Weltkonferenz für Praktisches Christentum ist stark männlich geprägt. Männer in dunklen Anzügen mit Hut und Bart sind zu sehen, in der Mitte Erzbischof Nathan Söderblom. Bei genauerem Betrachten kommen sechs Frauen in den Blick, leider sind bisher den Gesichtern keine Namen zuzuordnen. Ein Foto vom Frauenbankett der Versammlung fehlt sogar völlig. „Die weiblichen Delegierten und die Ehefrauen und Töchter der männlichen Delegierten waren zu einem Abend eingeladen. „Der Abend war eine Demonstration des öffentlichen schwedischen Frauenlebens in seiner ganzen Pracht. Unter den Gästen befanden sich Prinzessin Ebba Bernadotte, Selma Lagerlöf und Agnes Undén, die Frau des Außenministers. Die radikale Schriftstellerin Frida Stéenhoff hielt die Begrüßungsrede, Erzbischöfin Anna Söderblom als Gastgeberin die Schlussrede.“, schreibt die schwedische Theologin Maria Södling in ihrem Aufsatz „Kvinnorna och Stockholmsmötet”.
Es muss ein tolles Fest gewesen sein und der Auftakt zu neuer Vernetzung. Später wird es bei ökumenischen Konferenzen die so genannten Frauen-Vor-Versammlungen geben, wo sich die weiblichen Delegierten austauschen, stärken und vernetzen. Die promovierte Theologin notiert weiter: „Die Präsenz von Männern mag massiv gewesen sein, aber wer Frauen sucht, wird sie finden. Das Material zeigt eine faszinierende Bandbreite von Frauen aus Politik, Frauenbewegung, Kultur, Bildung, Philanthropie, Diakonie und Mission. Einige sind sehr bekannt, andere weniger, waren aber wichtige Stimmen in den zeitgenössischen Debatten über soziale Fragen, Wahlrecht für Frauen, Frieden, Theologie und den Auftrag der Kirche.“ Dennoch wurde in der bisherigen Forschung zur frühen ökumenischen Bewegung die Beteiligung von Frauen kaum untersucht. Das gilt es zu ändern, einige Frauen zu benennen und ihre Beiträge in der Geschichte der Ökumenischen Bewegung und in der (kirchlichen) Frauengeschichte sichtbar zu machen.
In Stockholm sind 1925 mehr als 600 Delegierte aus 37 Ländern anwesend, darunter 70 Frauen. Sie sind Reformierte und Methodisten, Lutheraner, Anglikaner, Orthodoxe und Quäker. In der orthodoxen Gruppe sitzt Ana Ispir. Ihr Ehemann ist Vasile Gh. Ispir, Professor in Bukarest von der rumänischen Kirche. Geografisch gesehen, kommen die meisten aus den USA, dem Vereinigten Königreich und Deutschland. Frauen aus den nordischen Ländern sind wenig vertreten, darunter jedoch Selma Lagerlöf und Elsa Brändström. Nur eine weibliche Delegierte ist außerhalb Nordamerikas und Europas beheimatet: Yu Chung Fan aus China. Die einzige Frau im internationalen Vorbereitungskomitee und später im Fortsetzungsausschuss ist die englische Quäkerin und Friedensaktivistin Lucy Gardner. Ihre Rolle bedarf einer eigenen Untersuchung. Bei der Organisation vor, während und nach der Konferenz arbeiten fünf Frauen im „Ökumenischen Büro“.
Für den Frieden
Ohne das ökumenische und nachhaltige Engagement des schwedischen Erzbischofs Nathan Söderblom, ohne seine intensive Vorbereitung, Netzwerkbildung, Planung und Durchführung wäre diese Konferenz nicht möglich gewesen. Er achtet im Vorfeld sehr darauf, dass verschiedene Gruppierungen und Kirchen bei der Teilnahme berücksichtigt werden, etwa Vertreter verschiedener Ethnien, Konfessionen und Sprachen sowie der Arbeiter:innen. Obwohl vielerorts das Frauenwahlrecht erkämpft wird, ist die Beteiligung von Frauen kein Thema. Jedoch kennen sich etliche Frauen aus der internationalen Friedens- und Frauenwahlrechtsbewegung sowie über den YWCA (Young Women Christian Association).
„Der Frieden war das geistige Zentrum des Stockholmer Treffens. Doch nach dem Versailler Vertrag und den deutschen Kriegsreparationen war das Thema heikel ...“, schreibt Maria Södling. Die Konferenz erscheint daher als indirekte Aktion für den Frieden. Sie will die Grundlagen für eine praktisch-soziale Zusammenarbeit zwischen den Kirchen schaffen und so zu sozialer Gerechtigkeit und „Völkerverständigung“ beitragen. Die theologische Kontroverse darüber, ob Menschen fähig sind, das Reich Gottes auf Erden zu errichten, bleibt bestehen. Weitere Themen sind wirtschaftliche, soziale und sittliche Fragen wie die der Arbeitslosigkeit, Kinderarbeit, Prostitution und die Bedeutung von Völkerbund und Friedensarbeit, die christliche Erziehung und Zusammenarbeit der Kirchen. Gearbeitet wird in fünf Kommissionen und im Plenum, überall halten Frauen Einführungen und Gesprächsbeiträge.
Reisen die Frauen der anderen Delegationen als Aktivistinnen oder begleitende Ehefrauen an, sind die fünf Frauen der 80-köpfigen deutschen Delegation gewählte Vertreterinnen. Sie haben sich im akademischen, politischen und kirchlichen Bereich angesehene Positionen erobert. Die Diakonisse Emma von Bunsen leitet das Elisabeth-Diakonissenhaus in Berlin. Die Theologin und Pädagogin Carola Barth ist die erste Frau mit theologischem Abschluss einer deutschen Universität. Als Schulleiterin und Vorsitzende des Religionslehrerverbandes entwickelt sie eine moderne Religionspädagogik und vertritt die Frauenbildungsbewegung. Drei Delegierte gehören dem konservativ-nationalistischem Umfeld an: Margarete Behm ist Mitbegründerin der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), Reichstagsabgeordnete und Vorsitzende des „Gewerkvereins“ der Heimarbeiterinnen. Paula Müller-Otfried gilt als führende Persönlichkeit der konservativen kirchlichen Frauenbewegung und sitzt auch im Reichstag für die DNVP. Gemeinsam mit der Theologin und Pädagogin Magdalene von Tiling, der Gründungsfrau der DNVP und ersten Vorsitzenden der Vereinigung der evangelischen Frauenverbände, hat sie vorab Beiträge für die Konferenz erarbeitet. Die DNVP – für den konservativen Protestantismus die Garantin der „christlichen Werte“ – war völkisch, antisemitisch, monarchistisch und nationalistisch. Sie hat sich 1933 der NSDAP angeschlossen.
Paula Müller-Otfried hält die viel beachtete Einführungsrede zum Thema „Sexuelle Frage – Beziehung der Geschlechter“. Ihr Beitrag ist ein leidenschaftliches Plädoyer gegen Materialismus, Vergnügungssucht und Unmoral. Sie klagt eine männliche sexuelle Freiheit an, die Frauen mit Schwangerschaften, illegalen Abtreibungen und Geschlechtskrankheiten bezahlen. Theologisch bezieht sie sich auf die Schöpfungsordnung, die Geschlechter haben unterschiedliche Aufgaben und sollen sich ergänzen. Sie fordert die Abkehr von doppelter Moral, Mädchenhandel und Prostitution: „Deshalb ist von den Kirchen zu fordern, die Wertung der Frau nicht nur als Haushälterin, Spielzeug, Geliebte, sondern als gottgegebene Gefährtin, als gleichwertige Mitjüngerin Jesu. Möge der Einfluß der Kirchen sich darin auswirken, Mann und Frau zu der Verantwortung für ihr geistig-leibliches Leben zu erziehen, damit sie mit- und nebeneinander dahin arbeiten, Gottes Reich auch schon auf Erden bauen zu helfen.“ So wird sie in Adolf Deissmanns „Amtlicher Deutscher Bericht“ zitiert. Margarete Behm unterstreicht in ihrer Rede zu „sozialen und sittlichen Fragen“ die Bedeutung der Frau für Kindswohl und Familie und will die Rechte der Heimarbeiterinnen stärken. „Schützt diese tapferen Frauen durch die Gesetzgebung vor zu niedrigen Löhnen! Sorgt, daß sie sich organisieren, damit die Gesetzgebung wirksam werde!“, heißt es bei Deissmann weiter. Ins politisch links-liberale Lager gehört die prominente Theologin und Pädagogin Carola Barth. Sie engagiert sich sehr für die Ökumene. Im Themenfeld „Die Kirche und die christliche Erziehung“ fordert sie, auch die Lehrerausbildung solle im Geiste der Völkerversöhnung stattfinden: „Ich möchte den Antrag stellen, daß die pädagogische Kommission dafür sorgen möchte, daß die Lehrer, besonders die Religionslehrer der verschiedenen Länder, einander näherkommen.“ Essentiell für die Versöhnungsarbeit sind für sie gegenseitiges Kennenlernen und Austausch in verlässlichen Strukturen. Heute gestaltet sich dies global in ökumenischen Partnerschaften zwischen Kirchen, Verbänden und Einrichtungen.
Für das „Rassenthema“ ist in elf Tagen eine Stunde Zeit. Es sprechen nur sehr wenige nicht-weiße Delegierte, zum Beispiel ein Bischof aus Bombay, der schwarze methodistische Pfarrer aus den USA, Reverend William Bell, sowie Hallie Paxson Winsborough, USA, und Yu Chung Fan aus China. Die Mehrheit der weißen Teilnehmer ist in der Auseinandersetzung mit der „Rassenfrage“ unkritisch gegenüber kolonialem und rassistischem Denken. Sie gehen von der Überlegenheit der weißen „arischen Rasse“ aus. Zu den wenigen Delegierten, die sich gegen Rassismus aussprechen, gehören Hallie Paxson Winsborough – sie engagiert sich für die Bürgerrechte aller Menschen und ist Gründungsmitglied der Vereinigung südstaatlicher Frauen zur Verhinderung von Lynchjustiz (AWSPL) – sowie Anna Garlin Spencer, eine der Gründerinnen der amerikanischen Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), die bis heute besteht. Hervorgehoben sei das Statement von Yu Chung Fan, Vertreterin des National Christian Council, NCC: „Ich bin Vertreterin der gelben Rasse; trotzdem bin ich nicht ganz gelb, so wenig als Sie ganz weiß sind. Jede Rasse glaubt, die höherstehende zu sein. Unkenntnis, Nichtverstehenkönnen des Anderen, Unterschätzung des inneren Wertes des Anderen und Selbstsucht sind die Gründe der gegenseitigen Verachtung. Wir müssen auch besonders an die Sünden denken, die die so genannten höheren Rassen an den so genannten niederen begangen haben. Möge es bald besser werden! Fort mit der Selbstsucht!“ Dieser Aufruf Fans bezeugt ihre deutliche Kritik am hierarchischen Rassendenken. Das für die ökumenische Bewegung bis heute so brennende Thema des Antirassismus wird auf der Stockholmer Konferenz nur angetippt, eine Apartheidspolitik nicht in Frage gestellt.
Eurozentrisch und patriarchal
Der Blick auf die Weltkonferenz für Praktisches Christentum zeigt die kontextuelle Prägung der frühen ökumenischen Bewegung. Sie ist stark männlich dominiert, eurozentrisch, in rassistischem und patriarchalem Denken verhaftet. Die Rolle der Frau in Kirche und Gesellschaft steht nicht offiziell im Programm. „Doch mit ihren Beiträgen zu Fabriken, Wohnungsbau und Sexualmoral ebneten die Teilnehmerinnen den Weg für die wichtigsten frauenpolitischen Diskussionen. Die Themen der Friedensfrauen wie Frauenrechte, soziale Sicherheit und internationale Zusammenarbeit wurden einbezogen. Hier waren die Fragen der konservativen Frauen nach der Bildung der Frauen, der Verantwortung für die Nation und den Werten der Gesellschaft“, so Maria Södling. Eine wissenschaftliche Diskussion zu Beitrag und Bedeutung der Frauen in der frühen ökumenischen Bewegung fehlt.
In der aktuellen Weltlage beeindrucken noch heute die Worte der Schwedinnen. Elsa Brandström, auch „Engel von Sibirien“ genannt, berichtet von ihren Erfahrungen als Rot-Kreuz-Schwester in Russland, wie im Krieg konkret Brücken zwischen Menschen gebaut werden können: „Sich kennenlernen und sich verstehen sind die Brückenköpfe; an die Menschheit glauben und sich für sie begeistern können, sind die Pfeiler, auf denen die Liebesarbeit ruhen muss, wenn sie der Völkerverständigung dienen soll.“ Das ist die „Zauberformel“ für die Völkerverständigung, denn „Liebesarbeit ist Kulturarbeit“, so formuliert es Elsa Brandström. Auch Selma Lagerlöfs Appell hat noch starken Nachhall: „Lasst uns hören! Lasst uns zuhören! Er, dessen Stimme uns durch den Donner des Weltkrieges zur Einheit rief, spricht zu uns ... „Einheit“, ruft sie uns zu, „Einheit zwischen Reformierten und Lutheranern, Einheit zwischen Protestanten und Griechen, zwischen Griechen und Katholiken, Einheit zwischen Christen und Nichtchristen, Einheit, Einheit, Einheit zwischen allen Völkern der Erde.“
Literatur
Adolf Deissmann: Amtlicher Deutscher Bericht. Die Stockholmer Weltkirchenkonferenz – Vorgeschichte Dienst und Arbeit der Weltkonferenz für Praktisches Christentum 19. bis 30. August 1925, Furche-Verlag, Berlin 1926.
Maria Södling: Kvinnorna och Stockholmsmötet. In Almut Bretschneider-Felzmann, Jan & Kristens Eckerdal: Detta är endast en begynnelse. Ekumeniska mötet i Stockholm 1925, Artos, Skellefteå, 2024.
Insgesamt haben 70 Frauen an der Stockholmer Konferenz teilgenommen. Einige aus den Delegationen sind hier aufgeführt, um die Vielfalt und Kompetenz der Frauen aufzuzeigen.
Schwedische Delegation: 4 Frauen von 35 Delegierten
Dr. Selma Lagerlöf (1858–1940), 1. Literaturnobelpreisträgerin
Dr. h.c. Elsa Brandström (1888–1948), „Engel von Sibirien“ (1914–18)
Elsa Cedergren (1893–1996), Präsidentin des schwedischen YWCA
Kerstin Hesselgren (1872–1962), Politikerin
Britische Delegation: 14 von 135
Lucy Gardner (1863–1944), Quäkerin, einzige Frau im Vorbereitungs- und Fortsetzungsausschuss der Konferenz, Elisabeth Taylor Cadbury (1893–1952), Constance Smith (1859–1930), Autorin, Arbeitsinspektorin, Lady Parmoor, Marian Cripps (1878–1952), Quäkerin, Präsidentin des internationalen YWCA (1924–28), H. Ellis (YWCA) und Miss Woods, Miss Charles, C. Smith, H. A. Spence, D. H. Standley, Miss Stafford, A. Wilson, Mrs. Woodhouse, Miss Cornwall
Deutsche Delegation: 5 von 80
Magdalene von Tiling (1877–1974), Theologin, Pädagogin, Politikerin, DNVP, Vorsitzende des Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen und Vorsitzende der Vereinigung Evangelischer Frauenverbände, Vertreterin des konservativen Luthertums, Paula Müller-Otfried (1865–1946), Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Frauenbundes, Politikerin, Reichstagsabgeordnete DNVP, Dr. Margarete Behm (1860–1929), Mitbegründerin der
DNVP, Reichstagsabgeordnete, Diakonisse Freifrau Emma von Bunsen, Oberin,
Dr. Carola Barth (1879–1959), Religionspädagogin, erste Frau mit theologischem Abschluss an deutscher Universität
Finnland: 2 von 13
Fanny von Hertzen (1873–1950), Sekretärin des „weißen Kreuzes“
Schwester Anna Tensikkala, Diakonisse
Amerikanische Delegation: 30 von 150
Anna Garlin Spencer (1851–1931), Pastorin, Professorin für Soziologie und Ethik,
Hallie Paxson Winsborough (1865–1940), Presbyterianische Kirche, kämpft gegen Rassismus und Lynchjustiz (gegen Klu-Klux-Clan)
Orthodoxe Delegation: 1 von 26
Ana Ispir, Rumänien
Außerhalb von Europa und USA:
Yu Chung Fan aus China, Vertreterin des National Christian Council und YWCA
Ursula Thomé
Ursula Thomé ist Pfarrerin i.R. Sie lebt in Essen.