„Wer weiß, was die Iraner machen“

Kriegstagebuch einer Deutschisraelin aus Tel Aviv
Tel Aviv im Juni 2025
Foto: Anonymina
Tel Aviv im Juni 2025

Eine Deutschisraelin, die seit 45 Jahren in Israel lebt, berichtet in Whatsapp-Nachrichten an ihre Familie und Freunde, wie sie den Beschuss durch iranische Bomben seit gut einer Woche erlebt. Es ist eine Chronik der Schlaflosigkeit, der Angst in Bunkern und des Schocks über die Zerstörungen in Tel Aviv. Die Autorin, die auch Fotos der derzeitigen Lage in ihrer Stadt gemacht hat, will anonym bleiben.

14/06, vormittags: Ich werde ab jetzt in der ‚Geschwister Gruppe‘ an euch schreiben, dann wisst ihr alle Bescheid. Möchte nicht viel telefonieren, weil wir den *Vor* -Alarm auf's Telefon bekommen und dann schon losspurten. In der Nacht war allerhand los: Dreimal Alarm mitten in der Nacht und große Sach- und zum Teil Personenschäden. Diese Raketen sind eine andere Nummer als alles, was wir bisher erlebt haben. Die meisten werden ja abgefangen, aber die, die runterkommen, sind heftig. Können ganze Straßenzüge in Schutt und Asche legen. Die Bunker und Schutzräume haben sich dagegen bewährt und halten stand. Wir sitzen mit dutzenden von netten Leuten dort zusammen.

15/06, morgens: Die letzte Nacht war wieder schlaflos und angespannt, wir waren zweimal im Bunker, kurz vor Mitternacht und um 3 Uhr. Die Zerstörungen und Verluste an Menschenleben sind erschreckend. Diese Monster-Raketen sind eine ganz andere Kategorie als alles, was wir vorher kannten. 90 Prozent werden zwar abgeschossen, aber die wenigen, die doch herunterkommen, richten mächtige Schäden an. Tagsüber können sie offensichtlich nicht schießen, man hat also ein bisschen Zeit und Ruhe, sich zu organisieren, Einkäufe zu machen und zu schlafen. Macht euch nicht zu viele Sorgen. Wir haben Zugang zu einem sicheren Bunker und genug Zeit, rechtzeitig dort zu sein.

"Nächster Run zum Bunker um 4 Uhr morgens"

15/06, später Nachmittag: Heute Nachmittag um 16.00 haben wir den Nachweis erhalten, dass die Iraner doch mitten am Tag Raketen abschießen können ... Diesmal war ich alleine, gerade vom wohlverdienten Mittagsschlaf aufgewacht, als die Vorwarnung kam. Ich hatte genug Zeit, mich zu organisieren, kam rechtzeitig in unserem Nachbarschaftsbunker an (der ja eigentlich zu einem Privathaus gehört) und saß wie üblich mit den netten Nachbarn zusammen, bis alles vorbei war. Heute war es ziemlich voll!

15/06, nachts: Hatten um 20.30 Uhr unseren nächsten Ausflug zum Bunker. Das war sicher nicht das letzte Mal heute Nacht

16/06, frühmorgens: Nächster Run zum Bunker um 4 Uhr morgens. Bei der Rückkehr Glassplitter im Treppenhaus.

16/06, morgens: Einschläge in der Nähe - Druckwelle. Es war aber nur das oberste Treppenhausfenster. Also, so nah war es auch nicht, in der Nähe des Strandes ... Das Fenster ist uralt, Einfachglas...da braucht es nicht viel Druck. Uns geht es den Umständen entsprechend gut. 

16/06, spät nachmittags: Es sind etwa 150 000 Israelis im Ausland gestrandet, die nicht zurückkönnen. Israelische Kreuzfahrschiffe stünden eigentlich bereit, um Tausende aus Zypern oder Athen mit jeder Fahrt abzuholen, aber das Transportministerium geht nicht auf das Angebot ein. Stattdessen haben sie ein schwerfälliges Rückführprogramm mit Flugzeugen ausgearbeitet, das Wochen dauert. Außerdem besteht Ausreiseverbot für Israelis, die weg wollen.

16/06, etwas später: Inzwischen bringen doch auch Kreuzfahrschiffe Israelis aus Zypern heim.

"Man hat ja keinerlei Eínfluss auf die Situation"

16/06, abends: Es ist zermürbend .... Man kann ja nichts machen. Man wartet jeweils auf die nächste Alarmsirene, und dann rennt man in den Bunker. Tagsüber ist es relativ ruhig - auch nicht immer - aber nachts muss man zwei-, dreimal raus. Das ist zermürbend. Man hat ja keinerlei Einfluss auf die Situation und ist ihr ausgeliefert. Die jahrelangen Vernichtungsdrohungen gegen den jüdischen Staat waren beängstigend - die Bewaffnung und Finanzierung von Proxys wie Hisbollah, Houthis und Hamas war eine konkrete und faktische Bedrohung. Und nun liest man in der internationalen Presse, Israel habe Iran überfallen in Verletzung des Völkerrechts so wie Russland die Ukraine. Was soll man da noch sagen...🤷‍♀️

17/06, morgens: Guten Morgen, in der vergangenen Nacht wurden wir zweimal rausgejagt - einmal um 1 Uhr und beim zweiten Mal um 3 Uhr, diesmal ohne jede Vorwarnung. Sind bei heulenden Sirenen auf der Straße rumgelaufen, kamen aber alle rechtzeitig im Bunker an. Dort hat sich inzwischen eine nette Gemeinschaft gebildet. Ich konnte die Nacht über kaum schlafen, bin erst im Morgengrauen eingeschlafen. Muss das später nachholen ... Einen schönen Dienstag Euch!

17/06, vormittags: Hatten inzwischen noch einen Alarm - leider keine Zeit zum Ausruhen.

Nacht zum 18/06: Wir haben wieder eine ‚weiße Nacht‘. Alarm zum ersten Mal um 00.20 Uhr nachts (mitten im ersten Tiefschlaf) und das zweite Mal eine Stunde später.

"In diesem Krieg stirbt man an Müdigkeit"

18/06, morgens: 5 Stunden 43 Min am Stück geschlafen, sagt meine schlaue Uhr. Das hat gut getan. Heute Nacht sagte eine Frau im Bunker : „In diesem Krieg stirbt man an Müdigkeit", weil wir alle von den vorigen Tagen Nächten völlig übermüdet waren ... Mal sehen, was der heutige Tag bringt.

19/06, morgens: 18:40 Uhr erster Alarm gestern Abend. Zweiter Alarm um Mitternacht. Ich hatte gerade eine halbe Stunde geschlafen. Sonst alles okay.

Zerstörtes Gebäude ein Tel Aviv im TV

"Man spricht gerade im TV von drei Raketeneinschlägen im Großraum Tel Aviv. Es wurde auch ein Wohnhaus getroffen." 

19/06, etwas später: Nächster Alarm, sitzen im Bunker. Der Kaffee steht daheim auf dem Tisch - in der Thermoskanne, gottseidank ...  Wieder zuhause, trinken den wohlverdienten Kaffee. Man spricht gerade im TV von drei Raketeneinschlägen im Großraum Tel Aviv. Es wurde auch ein Wohnhaus getroffen Auch in Tel Aviv selbst (aus Zensurgründen sagen sie nicht, wo) und ein Einschlag in Beersheva im Sorokka Krankenhaus. Die Patienten wurden ja alle in unterirdische Stationen verlagert. Das betroffene Gebäude scheint recht beschädigt zu sein, muss wohl abgerissen werden ... Wenn ich nur an die ganze teure Medizintechnik denke, die da zu Bruch geht. Vor ein paar Tagen wurde das Weizmann Institut getroffen - eines der führenden Wissenschaftsinstitute des Landes, das mehrere Nobelpreisträger hervorgebracht hat. Da sind unersetzbare Versuchsreihen kaputtgegangen, von Labors und Geräten mal abgesehen. Höre gerade, dass das betroffene Stockwerk im Sorokka Krankenhaus erst gestern vollständig geräumt wurde. Eine der chirurgischen Abteilungen... Was für ein Glück!

"Es spielt keine Rolle, wo man politisch steht - wenn die Sirene heult, muss man rennen."

19/06, nachmittags: Im Großen und Ganzen ist alles okay bei uns! Aber okay kann man die tägliche Wirklichkeit, in der wir uns derzeit befinden, nicht nennen. Es spielt keine Rolle, was man über diesen Wahnsinn denkt oder wo man politisch steht - wenn die Sirene heult, muss man rennen - Tag und Nacht ... Wir werden am Ende an Übermüdung und ausgefransten Nerven sterben ... Ich habe eine gute Freundin, die am Montag eine Krebs-OP hatte und auch rennen muss - ob sie kann oder nicht! Wenn die Sirene heult, kann sie ....

 19/06, abends: Es ist kein Vergnügen, wenn man bei Sirenengeheul in den nächsten Bunker rennen muss! Manchmal dreimal in der Nacht. Die Zerstörungskraft der Raketen ist enorm und die Schäden an Häusern und Leib und Leben erschreckend. Und das, obwohl 95 Prozent der Raketenangriffe abgefangen werden können. Von Sinn oder Unsinn der Politik will ich gar nicht reden. Man ist ja der Situation ausgeliefert, ob man will oder nicht. Der Luftraum ist hermetisch abgeschlossen - keine Flüge rein oder raus. Mal sehen, wie das ausgeht. Wir „schlafen" (wenn man überhaupt schlafen kann) seit ein paar Tagen in Klamotten, Notfall-Tasche und Schuhe stehen neben der Tür. Circa eine halbe Stunde vor einem bevorstehenden Angriff kommt oft schon die Vorwarnung auf dem Handy. Das ist aber nicht unbedingt der Fall, man kann sich nicht darauf verlassen. Nach Abschuss der Raketen kommt die nächste unüberhör-/unübersehbare Warnung auf dem Handy, und es ist Zeit, sich in den Bunker zu begeben. Ein paar Minuten bevor es ernst wird, gehen die Luftschutz-Sirenen los. Das geht durch Mark und Bein. Der nächste (private) Bunker, wo wir bisher immer willkommen waren (wir kommen immer als Gruppe von 6 bis 8 Nachbarn) ist an der nächsten Straßenecke. Der große städtische Bunker ist circa drei Minuten zu Fuß entfernt, genauso das riesige Habima-Untergrund-Parkhaus. Das Gerumpel und Knallen draußen kriegt man trotzdem mit. Nach circa einer halben Stunde ist der Spuk vorbei, und das Handy gibt Entwarnung. Dann wandert man heim - schaut erst mal auf dem TV, wie schlimm die Schäden sind, und versucht, wieder einzuschlafen. Nach zwei bis drei Stunden geht das Spiel von vorne los. 🤷‍♀️ Ich denke immer daran: Zum Glück müssen das nicht unsere Enkel im Ausland erleben. Sie rufen oft an (Video), und wir haben viel Freude an den Kleinen.

Wir „schlafen" (wenn man überhaupt schlafen kann) seit ein paar Tagen in Klamotten, Notfall-Tasche und Schuhe stehen neben der Tür.

"Wir „schlafen" (wenn man überhaupt schlafen kann) seit ein paar Tagen in Klamotten, Notfall-Tasche und Schuhe stehen neben der Tür."

20/06, vormittags: Guten Morgen! Die letzte Nacht war überraschend ruhig. Kein Alarm in unserer Gegend, in Beersheva hat es allerdings in den Morgenstunden ordentlich gerumst. Weil man der Stille und dem „Frieden" nicht traut und unbewusst auf die „Action" wartet, kann man auch in einer solchen Nacht nicht schlafen - ich war bis 2 Uhr hellwach und habe gelesen und habe dann bis circa 3 Uhr keine bequeme Schlafposition gefunden. Ich war um  6 wieder wach 🤷‍♀️. Mal sehen, wie es weitergeht.

20/06, nachmittags: Endlich war mal wieder Alarm - im ganzen Land. Unser Bunker war bis auf die Stehplätze voll...die Leute haben die heutige Ruhe genutzt, spazieren zu gehen, im Café zu hocken et cetera. Der Meinige war auch mal wieder nicht da ... (bei seinem großen Bruder zum Kaffee trinken...)

20/06, abends: Gestern Nacht war gar nix - alles ruhig! Und ich konnte trotzdem die ganze Nacht nicht schlafen (beziehungsweise am Ende nur drei Stunden....). Heute Nachmittag war dann wieder Alarm und unser Nachbarschaftsbunker so voll wie nie zu vor, weil auch noch eine Menge Spaziergänger reinströmten. Mal sehen, wie die kommende Nacht wird ... Das geht allmählich viel zu lange! Die Zerstörungen sind erschreckend.

„…und keiner kümmert sich momentan darum, was in Gaza passiert.“

21/06, morgens: Um 2.30 Uhr wurde unser Schlaf unterbrochen - Immerhin nur einmal ... Heute morgen hätten wir ja eigentlich lange schlafen können, sind aber um 7 Uhr aufgestanden...weiß auch nicht, wieso 🤷‍♀️. Ich glaube nicht, dass es heute ruhig bleibt, aber die Raketenalarme sind deutlich weniger geworden und ziemlich ausgedünnt. Viel weniger Feuerkraft - heute Nacht waren es nur fünf Raketen insgesamt, statt wie vorher jeweils dutzende. Ich denke nur manchmal, wer weiß, was die Iraner machen, wenn ihnen das Wasser so richtig bis zum Hals steht .... „schmutzige" Bombe vielleicht, oder so...🤔Die meisten denken nicht an solch eine Bombe, sind geradezu berauscht von den Erfolgen der israelischen Luftwaffe. Ich denke da halt manchmal ein bisschen anders oder weiter...🤷‍♀️ Es sind beängstigende Gedanken, und keiner kümmert sich momentan darum, was in Gaza passiert. 🤦🏼‍♀️

22/06, morgens: Guten Morgen, meine Lieben! Gestern hatten wir einen ruhigen Tag und eine ereignislose Nacht. Gut geschlafen. Der Knaller kam, als ich unter der Dusche stand und der Voralarm losging. Ich musste mich noch nie in meinem Leben klatschnass so schnell anziehen und das Haus verlassen. Da kriegt man Herzrasen ... Wir sind jetzt zuhause zurück und sehen im Fernsehen schwere Zerstörungen in Haifa, Tel Aviv und im Süden. Genaue Angaben werden aus Sicherheitsgründen nicht gemacht. Im Bunker erfuhren wir, dass die Amerikaner heute Nacht im Iran angegriffen haben

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