„Verheißungsvolles Nein“
In der kommenden Woche wird der Systematische Theologe Ulrich Körtner nach 33 Jahren aus seinem akademischen Dienst an der Universität Wien verabschiedet. In seinem letzten Semesterabschlussgottesdienst widmet sich der zeitzeichen-Autor am heutigen 1. Sonntag nach Trinitatis anlässlich des Predigttextes aus dem Johannesevangelium der Bedeutung des Judentums für das Christentum. Wir dokumentieren nachfolgend den Text:
Der heutige Predigttext ist eine Zumutung, und das in mehrfacher Hinsicht. So habe ich auch anfangs mit dem Idee geliebäugelt, auf einen anderen Text auszuweichen. Dann aber habe ich mir gesagt, ich und wir alle sollten uns der Herausforderung stellen, die der heutige Predigttext bedeutet. Die Heilige Schrift im Sinne des reformatorischen sola scriptura – Allein die Schrift – ernstzunehmen, heißt eben nicht, sich nur mit den uns genehmen Bibeltexten zu beschäftigen. Es bedeutet, sich auch mit dem Sperrigen und Anstößigen in der Bibel auseinanderzusetzen.
Der vorgeschlagene Abschnitt aus dem 5. Kapitel des Johannesevangeliums enthält schroffe antijüdische Aussagen, die noch dazu Jesus in den Mund gelegt werden. Antijudaismus aus dem Munde Christi? Wie kann man über solche Sätze heute noch, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der Nazi-Diktatur und der Shoa wie in Anbetracht eines wiedererstarkenden Antisemitismus allen Ernstes in einer christlichen Kirche predigen wollen?
Damit nicht genug wird der verstörende Text für den 1. Sonntag nach Trinitatis vorgeschlagen. Er soll also ausdrücklich in Verbindung mit der altkirchlichen Lehre von der Dreifaltigkeit oder Dreieinigkeit Gottes gelesen werden, mit der sich heutzutage selbst viele Kirchenmitglieder schwertun. Das am vergangenen Sonntag begangene Trinitatisfest kam um das Jahr 1000 in den französischen Klöstern des Benediktinerorderns auf. 1334 wurde es von Papst Johannes XXII. als sogenanntes Ideenfest in den liturgischen Kalender aufgenommen.
Notwendigerweise antijüdische Stoßrichtung?
Weltweit und ökumenisch wird heute daran erinnert, dass vor 1.700 Jahren in Nizäa – dem heutigen Iznik, das in der Türkei gelegen ist – das ökumenische Glaubensbekenntnis von Nizäa feierlich verabschiedet wurde. Später wurde es im Jahr 381 zum Nizäno-Konstantinopolitanum erweitert. In diesem Bekenntnis, das an hohen Feiertagen auch in evangelischen Kirchen gesprochen wird, ist die christliche Trinitätslehre dogmatisiert worden.
Eine der in Fachkreisen vieldiskutierten Fragen lautet, ob dem christlichen Monotheismus mit seiner Lehre von der Dreieinigkeit Gottes notwendigerweise eine antijüdische Stoßrichtung innewohnt. Hat das Bekenntnis von Nizäa und Konstantinopel die Judenfeindschaft und Israelvergessenheit des Christentums befördert? Und setzt der heutige Predigttext dem nicht noch die Spitze auf?
Aber der Reihe nach: Das Johannesevangelium erzählt im 5. Kapitel, wie Jesus in Jerusalem am Teich Betesda einen Gelähmten geheilt habe, der schon seit 38 Jahren vergeblich auf Heilung gehofft hatte. Die Menschen glaubten, wer in das Wasser steige, wenn es sich auf besondere Weise bewege, würde gesunden. Der Gelähmte aber hatte in all den Jahren niemanden gefunden, der ihn ins Wasser gebracht hätte. Nun fand die Heilung durch Jesus am Sabbat statt. Als das, wie das Johannesevangelium sich ausdrückt, „den Juden“ bekannt wurde, trachteten diese mehr noch als schon zuvor Jesus nach dem Leben, und zwar nicht allein, weil er das Gebot der Sabbatruhe gebrochen hatte, sondern auch, weil er sagte, Gott sei sein Vater, womit er sich Gott selbst gleich mache. Das aber sei Blasphemie.
„ … der euch verklagt, ist Mose“
Jesus kontert diesen Vorwurf mit einer längeren Rede, wie wir sie auch sonst im Johannesevangelium finden. Einer seiner Spitzensätze lautet: „Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat.“ Jesus nimmt auch für sich in Anspruch, mehr als Johannes der Täufer zu sein. Damit nicht genug, behauptet er, die ganze Schrift Israels, also die hebräische Bibel, Mose und die Propheten, würde von ihm und seiner Gottessohnschaft Zeugnis ablegen. Dieser Abschnitt aus Jesu Rede ist nun der heutige Predigttext. Johannes zitiert Jesus in Johannes 5,39–47 mit folgenden Worten:
Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie sind’s, die von mir zeugen; aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet. Ich nehme nicht Ehre von Menschen an; aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen. Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht? Meint nicht, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; der euch verklagt, ist Mose, auf den ihr hofft. Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?
Mir verschlägt es bei diesen Worten den Atem. Dass der Tanach, die hebräische Bibel, auf Christus hin zu lesen ist, ist allerdings die christliche Grundüberzeugung, die ich teile. Ohne sie würde der Christusglaube in der Luft hängen. Ohne sie würde dem ganzen Neuen Testament der Boden entzogen. Soweit gelten die Worte Jesu im Johannesevangelium auch uns. Das Alte gegen das Neue Testament auszuspielen, den Gott des Alten gegen den Gott des Neuen Testaments, wie es als Stereotyp immer wieder begegnet, kann sich nicht auf Jesus den Juden berufen, wie besonders die reformierte Tradition betont. Dem schiebt auch das Johannesevangelium einen Riegel vor.
Wechselseitiges Auslegungsverhältnis
Zwischen der Hebräischen Bibel, die für uns Christen das Alte Testament unseres Doppelkanons ist, und den Schriften des Neuen Testaments besteht ein wechselseitiges Auslegungsverhältnis. Die neutestamentlichen Schriften deuten Jesu Leben und Wirken, sein Tod und seine Auferstehung im Licht der alttestamentlichen Schriften. Diese wiederum werden im Licht des Christusgeschehens mit neuen Augen gelesen. Wer Jesus von Nazareth ist und inwiefern in ihm das Heil der Welt beschlossen liegt, kann nicht ausgesagt werden, wenn nicht vom Gott Israels und seiner Geschichte mit seinem Volk Israel gesprochen wird. Vom Gott Israels kann wiederum nach christlichem Glauben im Licht von Ostern nicht anders gesprochen werden, als das von Jesus von Nazareth als dem Messias gesprochen wird. Im wechselseitigen Bezug von Altem und Neuem Testament werden der Gott Israels und Jesus von Nazareth auf einmalige und unerhörte Weise zusammengebunden, zusammengesprochen.
Auf diese Weise sind nun Christen und Juden zugleich unlösbar mit einander verbunden und doch auch getrennt. Der jüdische Gelehrte Schalom Ben Chorin hat es so ausgedrückt: Der Glaube Jesu an den Gott Israels eint Christen und Juden, der Glaube an Jesus aber trennt beide. Das christliche Ja zur Messianität und Gottessohnschaft Jesu von Nazareth und das jüdische Nein dazu stehen spannungsvoll nebeneinander. Wir können nicht das Ja zu Christus sprechen, ohne zugleich das jüdische Nein zu seiner Messianität und die dafür ins Feld geführten Gründe zu hören statt es zu unterdrücken. Nur so kann auch der christliche Glaube an die Dreieinigkeit Gottes vor antijüdischer Verdrehung bewahrt werden.
Was Christen und Juden verbindet, ist der Glaube an denselben Gott und das Bekenntnis zu seinem heilvollen Handeln in der Geschichte Israels. Was sie voneinander trennt, ist das Bekenntnis der Christen, das die Auferweckung Jesu von den Toten durch Gott zum Grunddatum einer neuen Epoche der Heilsgeschichte erklärt und in Entsprechung zur Befreiung des Volkes Israel aus Ägypten setzt. Es ist dies freilich seinem geschichtlichen Ursprung nach ein Bekenntnis von Juden, welches die prophetische Verheißung eines Neubeginns der Geschichte Gottes mit seinem erwählten Volk Israel mit Leben und Wirken Jesu von Nazareth identifiziert. Als „geschichtliches Credo“ (Gerhard von Rad zu Dtn 26,4– 10) ist das Christusbekenntnis in neutestamentlicher Zeit seiner Struktur nach jüdisch, seinem Inhalt nach zwischen Juden und Christen aber strittig.
Neue Erfahrung göttlichen Handelns
Nicht in der Behauptung der Messianität Jesu als solcher, sondern in der Erfahrung eines geschichtlichen Eingreifens Gottes, das von den ersten Christen als heilsgeschichtliche Wende begriffen wurde, liegt die gedankliche Voraussetzung unseres Glaubens. Wiewohl es auf dem Boden des spätantiken Judentums entstand, hat das Christentum mit seinem Verständnis des endgeschichtlichen Heilshandelns Gottes de facto die religiösen Grundannahmen des Judentums zur Zeit Jesu überschritten. In der Sprache Jesu besteht die in Verbindung mit ihm gemachte neue Erfahrung göttlichen Handelns im Anbruch des Reiches Gottes.
In den zurückliegenden Jahrzehnten haben die christlichen Kirchen, einen Lernprozess durchgemacht, in dem sie auf neue Weise begriffen haben, dass Gott seinen Bund mit Israel nicht gekündigt hat. Von der bleibenden Erwählung Israels können wir aber nicht sprechen, ohne auch die Schuldgeschichte der Kirche gegenüber den Juden, die Geschichte von Verfolgung und Pogromen und die Mitschuld am Holocaust zu bekennen.
Christlicher Judenhass hat sich dabei immer wieder auf Stellen wie unseren heutigen Predigttext berufen, der alle antisemitischen Vorurteile zu bestätigen scheint: den Vorwurf der Verblendung, der Ehr- und Geltungssucht, der Abkehr von Gott und der fehlenden Liebe zu ihm. Ich sage es offen heraus: Nach meiner Überzeugung kann man über diesen Text nur predigen, in dem man ein Stück weit gegen ihn predigt. Dazu gehört, dass man die unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Lesarten von Juden und Christen im Blick auf das Alte Testament, den hebräischen Tanach, gelten lässt und ihr spannungsvolles Nebeneinander als Ausdruck des göttlichen Ratschlusses begreift. Insofern gibt es nach meiner festen Überzeugung eine legitime Aneignung der Hebräischen Bibel im Christentum, zumal die ersten Christen sich ja als gläubige Juden verstanden. Das Johannesevangelium und der heutige Predigttext propagieren hingegen die völlige Inbesitznahme des Alten Testaments durch die christliche Gemeinde und stellt damit die Legitimität jüdischer Bibelauslegung gänzlich in Abrede.
Antisemitismus entschieden entgegentreten
Nun steht das Verhältnis der neutestamentlichen Schriften zum Judentum in der Fachwissenschaft seit geraumer Zeit auf dem Prüfstand. So wird von manchen Bibelwissenschaftlern die These vertreten, wie Paulus sei auch das Johannesevangelium noch ganz im Rahmen des zeitgenössischen, in sich vielstimmigen Judentums geblieben. Die scharfen Worte Christi in unserem Predigttext seien Zeugnis von einem innerjüdischen Konflikt um die richtige Bibelauslegung und nicht etwa eine antijüdische Polemik einer christlichen Gemeinde, die sich schon ganz vom Judentum gelöst habe. Die jüdische Exegetin Adele Reinhartz wendet sich freilich mit guten Gründen gegen solche apologetische Relativierung der antijüdischen Invektiven des Johannesevangeliums durch christliche Bibelwissenschaftler. Reinhartz bezeichnet die johanneischen Ausfälligkeiten als das, was sie tatsächlich sind: Schmähungen, die in ihrer Auslegungsgeschichte verheerende Wirkungen entfaltet haben. Gewiss kann man dem Johannesevangelium nicht jene Gewalttaten zu Last legen, die von Christen an Juden im Verlauf der weiteren Geschichte begangen worden sind. wohl aber können wir Texte wie Johannes 5 nicht lesen und auslegen, ohne ihre verhängnisvolle Wirkungsgeschichte stets mitzubedenken. Jeder Form des Antisemitismus haben wir als Christen entschieden entgegenzutreten.
Die fortdauernde Existenz des Judentums trotz seiner Ablehnung des neutestamentlichen Evangeliums vom endzeitlichen Heilshandeln Gottes in Jesus von Nazareth ist auch christlicherseits als Stand der Gnade zu begreifen, insofern das jüdische Nein nicht nur wie jedes Nein zum Evangelium unter Gottes Gericht, sondern unter der bleibenden Verheißung für Israel steht, die mit seiner Erwählung gegeben ist. Ich bin davon überzeugt: Aufgrund der Erwählung Israels ist das jüdische Nein zur Messianität Jesu im Sinne des Paulus (Röm 9–11) kein heilloses, sondern ein verheißungsvolles. Es steht unter der Verheißung, dass sich Jesus von Nazareth am Ende der Zeiten auch den Juden als der Messias Israels erweisen wird.
Bußfertig und dankbar
Nicht nur für es selbst, sondern auch für die Kirche ist der eigenständige Fortbestand des Judentums ein Erweis von Gnade, waren es doch gerade die Christen, welche die Juden – und zwar religiös motiviert – im Verlauf der bisherigen Kirchengeschichte immer wieder verfolgt haben und auch an dem von den Nationalsozialisten verübten Genozid an den europäischen Juden Mitschuld tragen. Angesichts christlicher Judenfeindschaft und schuldig gebliebener Solidarität mit der Judenheit kann die Kirche nur bußfertig und dankbar bekennen, dass auch sie oft gedachte, es böse mit Israel zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen (vergleiche Genesis 50,20: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“).
Zugleich darf die Kirche im Überleben des jüdischen Volkes ein Zeichen der Treue Gottes nicht nur zur Erwählung Israels, sondern auch zur Erwählung der in Christus berufenen Nichtjuden sehen. Nicht etwa nur die Bewahrung der christlichen Kirche, sondern auch diejenige des jüdischen Volkes soll die Christen in ihrem Glauben bestärken, dass Jesus als der Christus Gottes endgültiges Ja zu all seinen Verheißungen ist, und soll sie zum Lobpreis Gottes bewegen, welches durch Christus das Amen spricht (vergleiche 2. Korinther 1,20: „Denn auf alle Gottesverheißungen ist in ihm das Ja; darum sprechen wir auch durch ihn das Amen, Gott zur Ehre.“).
Ulrich H. J. Körtner
Dr. Ulrich Körtner ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien.