Vertane Chance

Pädophilie und die Kirchen

Es war eine ehrenvolle und eine Mammutaufgabe, die sich der Evangelische Kirchentag mit diesem Plan gegeben hat: ein unabhängiger Historiker hat Archive der Evangelischen Kirche gewälzt, um Spuren von Gerold Becker und Helmut Kentler nachzugehen. Auch nach Hartmut von Hentig wurde gesucht. Doch so ehrenvoll der Versuch des Evangelischen Kirchentages und seinem Gutachter Uwe Kaminsky war, dafür reichen 200 Seiten nicht. 

Die Bedeutung von Kentler und Becker für den sexual- und reformpädagogischen Missbrauch auf Augenhöhe kann man gar nicht überschätzen. Kentler war Täter, Schreibtischtäter und ein unheimlich effizienter Organisator sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Gerold Becker wiederum wird des Missbrauchs in Hunderten Taten an der Odenwaldschule bezichtigt - und war zugleich ein Wanderer zwischen den Missbrauchswelten von Jugendbewegung, Reformpädagogik und womöglich auch evangelischer Kirche. Die Rolle von Hartmut von Hentig in diesem Zusammenhang ist noch nicht geklärt. Und wird es wahrscheinlich nie.

So hoch der Anspruch des Büchleins von Kaminsky ist, so anspruchslos geht dieses Vorhaben zu Ende. Ein unbedarfter Leser, der wenig Vorkenntnis von den so grausamen wie klandestinen Taten und Tatsystemen hat, wird in dem Buch wenig Erhellendes finden. Der Autor hat gewissermaßen eine vertextete Fundliste angelegt, aber wenig Kontext geliefert. Ohne die kann Ottilie NormalleserIn aber nicht verstehen, warum Becker und Kentler die beiden Paten  pädokrimineller Milieus der 1970er- und 1980er-Jahre waren. Gleichzeitig bringt Kaminskys so wichtige Arbeit wenig für die Tiefenschärfe einer bewegungsübergreifenden Aufklärung. 

Wichtige Belege

Denn eines war von vornherein klar: die Tatorte von Becker und Kentler sind nicht oder kaum bei evangelischen Kirchentagen zu suchen. Die Bedeutung dieser beiden zentralen intellektuellen Figuren liegt jenseits der Kirche. Becker wie Kentler kommen ursprünglich aus der Jugendbewegung bzw. deren bündischen Nachfolgegruppen. Von dort haben sie ihre Überhöhung so genannter invertierter Liebe mitgebracht - also pädosexuelle Kontakten Erwachsener zu Kindern und/oder Jugendlichen.  Beide haben den Missbrauch von Macht zum Zwecke der Vergewaltigung von Minderjährigen nie als solchen angesehen. Für sie waren die - in ihren Worten - erotischen Beziehungen etwas ganz normales, ja etwas, das gerade Jungen hilft, zu richtigen Männern zu werden. Die Missbrauchsideologie von Becker und Kentler ist deswegen keine evangelische. Sondern sie geht auf den Wandervogel Hans Blüher zurück, der die aus heutiger Sicht einigermaßen verrückte Idee hatte, das aus einer mann-männlichen Beziehung keine Kinder, sondern ein pädophiler Staat erwachsen würde. 

Hier steuert Kaminsky wichtige Belege bei, etwa, wenn er Gerold Becker mit den Worten zitiert, Sexualspiele zwischen Erwachsenen und Kindern kämen „in der Regel wohl ohne Orgasmus - in südlichen Ländern gar nicht so selten vor. Oft sind, soweit ich beobachten konnte, die Kinder selbst die Anstifter, aber auch das umgekehrte kann vorkommen.“ Becker berichtet von sehr leidenschaftlichen, oft langdauernden stark sexuell betonten Freundschaften. Und er wiederholt – mit eigenen Worten und offenbar eigenen Erfahrungen - die Legende von Blüher, Gustav Wyneken und, viel später, Helmut Kentler, dass pädosexuelle Handlungen Kindern nützten. Wie Kaminsky angesichts dieser Schilderungen Beckers darauf kommt, dass dieser ein Homosexueller gewesen sei, verstört geradezu. Die Aufarbeitungsgruppe der Odenwaldschule tat das nicht. Sie sah Becker als einen geradezu fanatischen Pädosexuellen, der auch gewalttätig gewesen sei. 

Was war in Linz?

Dennoch ist die Frage wichtig, ob der Evangelische Kirchentag Tatort von Becker oder Kentler gewesen ist. Allerdings ist der Freispruch, den Kaminsky und auch Kirchenobere nach der Recherche der Akten durch den Autor erteilt haben, so nicht zu belegen. Nur weil es keine Akteneinträge über Missbrauch etwa bei einem Kirchentag gibt, ist überhaupt nicht gesagt, dass er dort nicht stattgefunden hat. Dazu hätte man Zeitzeugen befragen müssen, das konnte Kaminsky nicht leisten - was er zurecht bedauert. Aber das wäre umso wichtiger gewesen. 

Es gab aber tatsächlich einen Ort, bei dem man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass Gerold Becker auch innerhalb der Kirche Täter war. Das ist seine überraschende Station in Linz, wo er zum evangelischer Pfarrer ordiniert wurde. Hier lässt sich exemplarisch zeigen, wie wertvoll und gleichzeitig blind die Recherche von Uwe Kaminsky ist. Der Historiker stellt den Aufenthalt von Becker als eine mehr oder weniger mirakulöse Auslandsstation dar - aber er vergisst, den Indizien nachzugehen, die sich beim Aufenthalt von Becker in Österreich gezeigt haben: der junge Vikar war in Linz für eine Gruppe von Jungen zuständig, und es gibt einige Hinweise darauf, dass dort etwas vorgefallen ist. Auch die überstürzte Rückrufung Beckers hätte Anlass für weitere Recherchen auch unter Zeitzeugen gegeben. Aber natürlich wäre es auch interessant gewesen, wie die Akten begründen, warum Gerold Becker erst ohne ersichtlichen Grund nach Linz geht oder gehen muss. Und genau so rätselhaft wieder zurückkehrt - ohne jedes Tatwissen der Kirche. Kaminsky protokolliert allzu nüchtern: die Akten im landeskirchlichen Archiv „decken diese Vermutung allerdings nicht.“ Lässt sich daraus ableiten, dass die Kirche nichts wusste? Gewiss nicht. 

Die Erforschung der Taten und organisatorischen wie geistigen Einflüsse der Paten Becker und Kentler ist eigentlich keine Frage der evangelischen Kirche. Denn beide sind keine evangelischen Pädokriminellen. Es sind auf grausame Art geniale Seitenwechsler: Gerold Becker hat die pädophilen Theorien von Jugendbewegung und Reformpädagogik (Gustav Wyneken) an seinem idealen Tatort Odenwaldschule auf kriminelle Weise vereint. Er deckte ein halbes Dutzend Pädokrimineller an der Schule - und organisierte sich, so brutal das klingt, ständig Nachschub an Opfern. Hier gibt es einen wichtigen Berührungspunkt zwischen Becker und Kentler – der aber mit der Kirche wiederum nichts zu tun hat. 

Endlich zusammenarbeiten

Kentler inspirierte und organisierte nicht nur eine schlagkräftige Pädokriminellen-Lobby, er schaffte es in Berlin mithilfe der Jugendbehörden, ein heute absurd anmutendes Projekt zu starten: die Leihväter. Das bedeutet, dass man Jugendliche, die von der Bahn abgekommen waren, ausgerechnet bei Pädophilen zur Obhut unterbrachte. Aus dieser Quelle schöpfte irgendwann auch Becker: in dem er die Odenwaldschule für diese Klientel öffnete - und sich von Kentler jugendliche zuweisen. Seine bekam dafür auch noch teure Schulgebühren für seine Odenwaldschule von Kentler, genauer vom Staat. 

Das alles zeigt, dass die so wichtige Erforschung der pädokriminellen Netzwerke um Gerold Becker und Helmut Kentler nicht eine isolierte Aufgabe der Kirche sein kann. Es wäre wichtig, dass die Forschenden endlich zusammenarbeiten, um ihre Kontexte, ihr Studienmaterial und ihre Akten zu teilen.  Und so wird man den Verdacht nicht los, dass der Auftrag der Archivsichtung nicht etwa einem wissenschaftlichen oder  kriminalistischen Erkenntnisinteresse gefolgt ist - sondern einen Freispruch produzieren sollte. Einen Freispruch für den Evangelischen Kirchentag, der vor den Augen der großen Öffentlichkeit funktionieren mag. Allerdings nur dort. In der Fachwelt bleiben große Fragezeichen. 

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