Gestatten: Minerva
Im Feuilleton der FAZ vom 13.5.2025 hat der Kulturjournalist Alexander Košenina im Parterre der Zeitungsseite von einer kleinen Entdeckung geschwärmt: Ein bislang unbekanntes Ölgemälde des Berliner Kupferstechers Daniel Nikolaus Chodowiecki ist aufgetaucht: Es feiert die römische Göttin Minerva, die als Göttin der Weisheit hier Schutz bietet für Vertreter hoch diverser Religionen und religiöser Gemeinschaften. Zunächst aus Privatbesitz auf Ebay angeboten, konnte das Deutsche Hugenotten-Museum, zu Hause im niedersächsischen Bad Karlshafen (es gibt ein zweites Hugenottenmuseum in Berlin), das Ölbild erwerben und der Öffentlichkeit zugänglich machen.
Bisher war allenfalls eine Miniaturradierung bekannt, die 1792 im „Göttinger Taschenkalender“ erschien. Auf dieser Miniatur ist Chodowiecki als Selbstporträt – anders als auf dem deutlich größeren Ölgemälde – nicht zu erkennen. Chodowiecki hat in einem Brief an die Gräfin von Solms-Laubach darüber aufgeklärt, wen er zu Füßen der Minerva platzierte, die ihren Umhang wie eine „Schutzmantelmadonna“ (Košenina) ausbreitet, um den Figuren, die zumeist an ihrer Berufskluft oder Haarmode identifizierbar sind, Obhut zu gewähren: ein Chinese, am Zopf zu erkennen; ein Herrnhuter mit ordentlich gefalteten Händen; dann ein Muslim mit Turban; daneben ein Jude mit Gebetsrolle (auf dem Ölgemälde ist es ein Buch) und Kaftan; ein Franziskaner mit Tonsur und Kreuz; ein Lutheraner mit prächtiger Halskrause; ein Reformierter mit streng geschlossenem Beffchen; mutmaßlich ein Quäker mit entsprechender Haartracht; und, auf dem Ölgemälde, Chodowiecki himself. Anders als beim großen englischen Kupferstecher William Hogarth hat Chodowiecki eher selten erst nach den kleinen Radierungen zusätzliche Ölgemälde angefertigt. Das macht den Fund in der Tat zur Sensation.
Jesus statt Frau Weisheit
Mich hat dieser Fund noch aus einem anderen Grund elektrisiert, weil ich seit geraumer Zeit auf der Suche nach Darstellungen der biblischen Frau Weisheit fahnde. Bisher habe ich nichts entdeckt, was sich zu präsentieren lohnt. Der Grund ist schnell erklärt: Das junge Christentum hat in einer wenig freundlichen Übernahme die Stelle der Frau Weisheit, die nach Prov. 8 bei der Schöpfung durchgängig zugegen war, ersetzt durch Jesus Christus. Damit war die Frau Weisheit für die christliche Ikonographie uninteressant. Der Kolosserbrief feiert, zugegeben: stilistisch großartig, Jesu Schöpfungsmittlerschaft, die Frau Weisheit ist damit aus dem Rennen (Vgl. Kol 1,15ff., vgl. Eph 1,3-14). Und folglich wird auch die Pointe der weisheitlichen Schöpfungserzählung kassiert, die deutlich machen kann, wie Gott zur Schöpfung durch die Frau Weisheit, die vor Gott tanzt und spielt, animiert wurde.
Der geniale Einfall von Chodowiecki ist es, die Weisheit in der Gestalt der römischen Göttin Minerva bildlogisch zu installieren. Schaut man genauer hin, dann wird damit die Ringparabel aus Lessings Drama Nathan der Weise, bisher als prächtigste Toleranzerzählung der Aufklärung gefeiert, nochmals überboten. Dieses Mal auf dem Gebiet der darstellenden Kunst. Und die weibliche Perspektive wird zurückerobert.
Zur knappen Erinnerung: Die Schlüsselszene in Gotthold Ephraim Lessings Ideen-Drama Nathan der Weise (1773) versucht eine Antwort zu geben auf die vom Sultan Saladin aufgeworfene Frage, welche Religion denn die wahre Religion sei, bitteschön. Nach einer kurzen Phase der Überlegung erzählt Nathan ein “Geschichtchen“, später ist auch vom „Märchen“ die Rede. Das Geschichtchen handelt von einem fantastischen Ring: „Vor grauen Jahren lebt' ein Mann in Osten / Der einen Ring von unschätzbarem Wert / Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein / Opal, der hundert schöne Farben spielte, / Und hatte die geheime Kraft, vor Gott / Und Menschen angenehm zu machen, wer / In dieser Zuversicht ihn trug.“
Klar strukturiert
Weitergereicht wurde der Ring stets an den liebsten Sohn, bis der Ring an einen Vater gelangte, der drei Söhne besaß, die er alle drei gleich liebte und – eine kleine, milde Schwäche – jedem Sohn den Ring versprach. In seiner Not ließ er noch zwei Ringe herstellen, die dem echten Ring zum Verwechseln ähnlich sahen. Der Vater starb und alle drei Söhne fühlten sich im Besitz des märchenhaften Ringes, auch der hinzugezogene Richter konnte kein Urteil sprechen, gab aber allen Brüdern einen weisheitlichen Rat. „Mein Rat ist aber der: ihr nehmt / Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von / Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: / So glaube jeder sicher seinen Ring / Den echten. (…) / Wohlan! / Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach! / Es strebe von euch jeder um die Wette,/ Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag / Zu legen!“
Das Märchen ist klar strukturiert: Den Protagonisten auf der Bild-Ebene: Vater; drei Ringe; Richter, entsprechen auf der Sachebene: Gott; drei Religionen; Nathan als später Salomo-Nachfolger oder Weisheitslehrer. Das Tertium Comperationis ist der Toleranz- oder: Gleichwertigkeitsgedanke. Die Ringe symbolisieren die Ewigkeit oder Unendlichkeit, der Opal ist überzeitliches Symbol für die Liebe Gottes. Beide Elemente stehen für den Transfer und die Verkettung von Bildebene und Sachebene. Die Intention der Lehrerzählung zielt darauf, die Ideen der Aufklärung umzusetzen, nämlich sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (Kant), Vorurteile abzubauen und Toleranz und Humanität zu üben. So wie in der Parabel der Vater alle drei Söhne gleich stark liebt, so liebt auch Gott die drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam gleichermaßen.
Grandiose Pointe
Wenn man diesen Hintergrund ausleuchtet, erkennt man sofort die grandiose, sogar revolutionäre Pointe in Chodowieckis Gemälde. Die Weisheit, für die die Aufklärung wirbt, ist traditionell weiblich. Und: Die Stärke der internationalen Weisheit besteht darin, alle Menschen zu adressieren. Ganz entschieden greift Chodowiecki zu einer römischen Göttin, traditionell auch Schutzpatronin der Dichter und Lehrer, und sprengt die Engführungen auf die monotheistischen Religionen, die in Lessings Ringparabel wie selbstverständlich im Zentrum des Interesses standen. Minerva selbst und der Chinese stehen für diese Öffnung zur Diversität der Religionen, die auch nichtmonotheistische Religionen in den Blick nimmt. Freilich: Der römische Götterhimmel ist längst leer, gut aufklärerisch ist Minerva eine Personifikation der Weisheit, steht für eine Transzendenz in der Immanenz. Und wie Salomo und Nathan verkörpert sie Toleranz, wirbt für Kompromisse und erteilt den Menschen lebensdienliche Ratschläge.
Das wäre ein schönes kleines Forschungsprojekt: Hat sich die biblische Frau Weisheit ikonographisch in der römischen Personifikation der Weisheit, in Minerva, versteckt und gerettet? ChatGTB bietet mir sofort 6 Beispiele für Darstellungen der Minerva in der Kunstgeschichte an. Meine Wahl fällt auf Rembrandt van Rijn, der die Minerva als Gelehrte präsentiert. (1635) Die Eule, Symbol der Weisheit, ist offenbar ausgeflogen. ChatGTB macht mir zusätzlich das Angebot, ein eigenes Bild zu generieren. Ich schätze die Kreativität der KI nicht hoch ein und lehne dankend ab.

Daniel Chodowiecki, 1792. Das danach angefertigte Ölgemälde ist leider noch nicht gemeinfrei.

Rembrandt van Rijn, Minerva beim Studium, 1635.
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.