Die mörderische Konsequenz von „Free Palestine“

Zum Attentat auf die Israelis Yaron Lischinsky und Sarah Milgrim in Washington
Gedenken an die am 21. Mai ermordeten israelischen Diplomaten Yaron Lischinsky und Sarah Milgrim in Washington D.C.
Foto: The Associated Press (ap)
Gedenken an die am 21. Mai ermordeten israelischen Diplomaten Yaron Lischinsky und Sarah Milgrim in Washington D.C.

Der Mörder der israelischen Diplomaten Yaron Lischinsky und Sarah Milgrim betrachtete den Washingtoner Mord an Juden als gerechten Kampf gegen den Genozid in Gaza. Dies ist kein kurioser Einzelfall, sondern vielmehr Ausdruck einer weitreichenden Verschiebung im Gedenken an die Shoah. Sie manifestiert sich nicht nur in der Umkehr von Tätern und Opfern, meint Alexandra Bandl vom Vorstand des liberal-jüdischen Vereins TaMaR Germany.

Yaron Lischinsky und Sarah Milgrim wurden am Abend des 21. Mai 2025 unmittelbar nach ihrer Teilnahme an einer Veranstaltung des American Jewish Committee (AJC) vor den Toren des Jüdischen Museums in Washington, D.C., vom linken Aktivisten Elias Rodriguez erschossen. Wenige Tage nach ihrem Besuch der AJC-Konferenz für junge Diplomaten hatten beide eine Reise nach Jerusalem geplant, bei der Lischinsky seiner Partnerin einen Antrag machen wollte. Mit ihrer Ermordung wurde nicht nur ihr eigenes Leben ausgelöscht, sondern auch das ihrer Kinder, Enkel und Urenkel. Wenn ein Mensch stirbt, verschwindet ein ganzes Universum. Allein wegen ihrer jüdischen Zugehörigkeit und ihres Bekenntnisses zu Israel wurde ihr Leben auf grausame Weise beendet.

Nach dem Anschlag wurde zu Recht gefordert, dass dieser willkürliche Hass endlich aufhören müsse. Für den Attentäter war es jedoch keine sinnlose Tat, sondern gezielter Terror gegen Juden im Namen der „Befreiung Palästinas“. In seinem Manifest beschrieb Rodriguez, wie ein Mensch gleichzeitig ein liebevoller Elternteil und ein Ungeheuer sein könne. Damit wollte er zeigen, warum Mitleid für seine geplante Tat fehl am Platz sei. Die Opfer mögen zwar wie normale Menschen wirken, seien in Wirklichkeit aber Monster, denen er das Handwerk legen müsse. Rodriguez stützte sich dabei auf eine verdrehte Lesart von Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem – als ließe sich sein mörderischer Antisemitismus mit der ‚Banalität des Bösen‘ rechtfertigen. Er stellte seine Tat in einen pseudohistorischen Kontext und sieht Israel als Wiedergänger des Nationalsozialismus. Die unter Studenten der Universität Leipzig populäre Pro-Hamas-Gruppe „Handala“ schlug denselben Ton an, indem sie Rodriguez in einer Geste der Bewunderung auf Instagram mit dem jüdischen Widerstandskämpfer Herschel Grynszpan verglich. Rodriguez betrachtete den Mord an Juden als gerechten Kampf gegen den Genozid in Gaza.

Dies ist kein kurioser Einzelfall, sondern vielmehr Ausdruck einer weitreichenden Verschiebung im Gedenken an die Shoah, die sich nicht nur in der Umkehr von Tätern und Opfern manifestiert. Der Versuch, die Einzigartigkeit des Holocaust infrage zu stellen und dessen Bedeutung als explizit jüdische Katastrophe herunterzuspielen, ist heute fester Bestandteil der Verleumdungskampagne gegen Israel, die hierzulande als Volkssport betrieben wird. Das vielbeschworene „Nie wieder“ bezieht sich schon lange nicht mehr nur auf die sechs Millionen ermordeten Juden, sondern dient lediglich als fadenscheinige Warnung dafür, was passiert, wenn Intoleranz zu weit geht. So stimmen rund 42 Prozent der Deutschen der Aussage zu, dass Israel im Prinzip mit den Palästinensern nichts anderes mache, als die Nationalsozialisten mit den Juden.[1] Zudem wird der Vorwurf erhoben, Juden würden ein Erinnerungsregime und unberechtigte Vorrechte gegenüber anderen Opfergruppen aufrechterhalten. Dies resultiere nicht aus ihrem besonderen Schicksal, sondern aus ihrem obskuren Einfluss auf die Politik.

Allein dem Wahn entsprungen

Auch im akademischen Diskurs wird die Präzedenzlosigkeit der Shoah seit Jahren infrage gestellt – sei es durch die Verwischung von Unterschieden innerhalb der Opfergruppen des Nationalsozialismus oder durch Gleichsetzungen mit den Verbrechen westlicher Kolonialmächte. Wer sich über Alexander Gaulands Aussagen empört, aber gleichzeitig die Thesen von A. Dirk Moses oder Michael Rothberg als verdienstvolle Beiträge zur „kritischen Genozidforschung“ lobt, argumentiert widersprüchlich – oder schlicht: scheinheilig.[2] Die Shoah war jedoch kein Verbrechen wie jedes andere, sondern der gezielte und systematische Versuch, das jüdische Volk auszulöschen. Sie folgte weder ökonomischen noch militärischen Erwägungen, sondern entsprang allein dem Wahn, die Welt von den Juden „erlösen” zu müssen. Entfernen wir die Juden aus dem Zentrum dieser Geschichte, verlieren wir mehr als nur historische Fakten, wir verlieren unsere moralische Urteilskraft. Und mit ihr die Fähigkeit, Antisemitismus auch in seinen heutigen Formen zu erkennen. „Nie wieder“ wird in dem Moment bedeutungslos, in dem wir aufhören zu sagen, wem es passiert ist.

Elias Rodriguez wählte seine Opfer nicht zufällig aus, sondern zielte bewusst auf Juden in der Diaspora, die er als Repräsentanten der angeblich genozidalen Politik Israels in Gaza betrachtete. In seinem Fenster prangte nicht ohne Grund ein Schild mit der Aufschrift „Tikkun Olam means Free Palestine“. So wurde aus dem jüdischen Grundsatz zur „Reparatur der Welt“ auf perfide Weise eine Vernichtungsdrohung gegen den einzigen jüdischen Staat. In dieser Vorstellung sei Frieden auf der Welt und ein Ende des Rassismus nur ohne Israel – also ohne Juden – möglich.

Yaron Lischinsky und Sarah Milgrim entschieden sich trotz der offensichtlichen Gefahren für eine diplomatische Laufbahn. Sie wollten Israel auch in schwierigen Zeiten repräsentieren, Brücken bauen und Verständnis schaffen. Umso zynischer ist es, dass das antisemitische Motiv unmittelbar nach der Tat heruntergespielt wurde, als wäre der gezielte Terror gegen Juden und den Staat Israel ein bedauerlicher, aber letztlich erklärbarer „Kollateralschaden“ des Nahostkonflikts.

 

 


 

[1] Zur den Ergebnissen, siehe die aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/GIYLE_PB_final3.pdf

[2] Eine kritische Auseinandersetzung mit A. Dirk Moses’ und Michae RothbergsThesen bietet der Sammelband Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-)Deutungen des Holocaust und der „Historikerstreit 2.0“. Herausgegeben von Andreas Stahl, Jakob Hoffmann, Marc Seul und Stephan Grigat, versammelt der Band Beiträge namhafter Wissenschaftler wie Yehuda Bauer, Jeffrey Herf und Lars Rensmann. Ergänzend dazu analysiert der Band Ein Verbrechen ohne Namen von Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher, Dan Diner und Jürgen Habermas die Besonderheiten des Holocaust im Vergleich zu anderen Gewaltverbrechen.

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Dubnow Institut

Alexandra Bandl

Alexandra Bandl ist im Vorstand des jüdischen Vereins TaMaR Germany. Aktuell ist sie Doktorandin am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur - Simon Dubnow und arbeitet zudem als Bildungsreferentin im jüdischen Kulturzentrum Ariowitsch-Haus in Leipzig.

Weitere Beiträge zu „Gesellschaft“