Freiheit unter Druck

Brot für die Welt legt aktuellen „Atlas der Zivilgesellschaft“ vor und warnt vor wachsenden Einschränkungen
Weltkarte aus dem "Atlas der Zivilgesellschaft"
Foto: Brot für die Welt/Atlas der Zivilgesellschaft

Nur noch 3,5 Prozent der Weltbevölkerung lebt in Staaten, in denen Kirchen, Vereine, soziale Bewegungen und NGOs uneingeschränkt politisch arbeiten können. Das zeigt der aktuelle „Atlas der Zivilgesellschaft“, den Brot für die Welt jetzt vorgelegt hat. Deutschland zählt erneut nicht zu dieser Kategorie.

„Die Welt sieht rot“, lautet die Überschrift auf der Doppelseite. Darüber eine Weltkarte, die in der Tat geprägt ist von Orange und Rot und Gelb. Die Farben markieren Länder, in denen die Freiheit der Zivilgesellschaft beschränkt oder unterdrückt ist oder (rot) gar kein Handlungsspielraum mehr vorhanden ist. Etwa jeder dritte Mensch auf der Welt lebt in einem solchen Land, zum Beispiel in China, Russland, Afghanistan. Aber auch die Palästinensischen Gebiete zählen im neuen „Atlas der Zivilgesellschaft“, den „Brot für die Welt“ in diesen Tagen vorstellte, erstmalig zur Kategorie „geschlossen“: Und das bedeutet: Staatliche und mächtige nichtstaatliche Akteur*innen kommen ungestraft davon, wenn sie Menschen für die Wahrnehmung ihrer Rechte auf Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit inhaftieren, misshandeln oder töten. Jegliche Kritik am Regime wird schwer bestraft. Es gibt keine Pressefreiheit. Das Internet wird stark zensiert, und die meisten Webseiten sind blockiert. 

3,5 Milliarden Menschen, also 42 Prozent aller Menschen auf der Welt, leben in Ländern der zweitschlechtesten Kategorie „unterdrückt“, etwa in Indien, Ruanda, Tansania oder in der Türkei. Ein Anstieg um 42 Prozent im Vergleich zu 2018. „Über 72 Prozent der Weltbevölkerung ‒ das sind über 5,8 Milliarden Menschen ‒ leben heute in Ländern, in denen Machthabende die Zivilgesellschaft stark oder sogar komplett unterdrücken. Ohne Rede-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit fehlt das Lebenselixier zivilgesellschaftlichen Engagements“, erklärte Dagmar Pruin, Präsidentin von Brot für die Welt, zur Vorstellung des Berichts. 

Atlas_2025_Grafik_Auf-Absteiger

Am anderen Ende der Skala stehen die dunkelgrün markierten Staaten der Kategorie „offen“, in der die Zivilgesellschaft, also Nichtregierungsorganisationen, Verbände, Kirchen und soziale Bewegungen, ungehindert arbeiten kann. 3,5 Prozent der Weltbevölkerung leben in diesen 40 Staaten, Deutschland zählt nicht dazu. Denn wie bereits im Vorjahr stufte das Netzwerk CIVICUS, das die Daten zusammengetragen hat, Deutschland nur in die zweitbeste Kategorie („beeinträchtigt“) ein. Während die Abstufung im Vorjahr vor allem mit der Polizeigewalt gegen die Klimaschutzdemonstrationen der „Letzten Generation“ begründet wurden, geht es diesmal auch um Angriffe auf zivilgesellschaftliche Institutionen, für die es auch in Deutschland „alarmierende Vorzeichen“ gebe, heißt es im Bericht: „Im Februar 2025 stellte die Union-Bundestagsfraktion 551 Fragen zur ‚politischen Neutralität staatlich geförderter Organisationen‘. So werde versucht, das Engagement von Akteuren wie dem Recherchemedium Correctiv, der Amadeu Antonio Stiftung oder des BUND zu diskreditieren“, sagen Kritiker*innen. Zudem verweist der Bericht auf Thüringen, wo die AfD die Bestellung neuer Richter*innen blockierte, indem sie der Neubesetzung des Richterwahlausschusses ihre Zustimmung verweigerte. Damit wolle die Partei Einfluss auf die Kontrolle des Verfassungsschutzes bekommen. 

Streitfall Gaza-Proteste

Aber wie bedroht ist die zivilgesellschaftliche Freiheit in Deutschland wirklich? Darüber streiten in einem lesenswerten Interview auf den hinteren Seiten des Berichts Kyrill-Alexander Schwarz, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Würzburg, und Nora Markard, Professorin für Internationales Öffentliches Recht und Internationalen Menschenrechtsschutz an der Universität Münster sowie Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Für Markard ist klar: Die Lage der Zivilgesellschaft in Deutschland verschlechtert sich. „Insgesamt sehen wir einen zunehmenden Generalverdacht gegen die Zivilgesellschaft: Sie gilt als Ort der Gefährdung, ihr wird die Ausübung von Gewalt zugeschrieben, und ihr wird vorgeworfen, auf illegitime Weise partikulare Interessen durchsetzen zu wollen, ohne die dafür vorgesehenen demokratischen Wege einzuhalten.“ Sie verweist etwa auf die Gaza-Proteste, bei denen es „sehr starke Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit gegeben habe. „Das war von Verhältnismäßigkeit teilweise weit entfernt.“ Dass „bestimmte Demos“ stattfinden, sei für manche Menschen beängstigend und verletzend, was sie „extrem gut“ nachvollziehen könne. „Trotzdem müssen wir bei der Freiheitlichkeit im Umgang des Staates mit solchen Veranstaltungen bleiben.“

Schwarz kommt mit Blick auf die Versammlungsfreiheit zu einer anderen Einschätzung. Weniger als ein Prozent der zwischen Oktober 2023 und März 2024 angemeldeten Versammlungen seien verboten wurden. „Die Versammlungsfreiheit als kollektive Meinungskundgabe funktioniert also ‒ auch im Kontext von palästinensischen Demos“, meint Schwarz. Kritik am israelischen Vorgehen müsse selbstverständlich nicht automatisch Antisemitismus darstellen. „Gleichzeitig waren bestimmte Demonstrationen an der Grenze des Ertragbaren, etwa eine Demo in Frankfurt am 7. Oktober, bei der die Veranstalter erkennbar eine große Sympathie für die Hamas hatten.“

Menschenrechte als koloniales Konzept?

Die Freiheit der Zivilgesellschaft in Deutschland wird von CIVICUS ähnlich eingeschätzt wie in Frankreich, Spanien, Italien und Rumänien. Die Niederlande sind in die gleiche Kategorie abgestiegen, auch wegen überharten Vorgehens der Polizei gegen Klimaschutzdemonstrationen. Polen ist hingegen im vergangenen Jahr in diese Stufe aufgestiegen, da sich die Regierung unter Donald Tusk bemüht habe, die „demokratischen Institutionen zu reparieren und das Vertrauen in die Zivilgesellschaft wiederherzustellen“, so CIVICUS. Inwieweit dieser Prozess nun durch die am Sonntag erfolgte Wahl des Rechtsnationalen Karol Nawrocki zum Präsidenten fortgesetzt werden kann, bleibt abzuwarten. 

Abschließend noch ein Blick auf den Süden der Welt und auf einen Vorwurf, dem sich der nicht nur deswegen lesenswerte aktuelle „Atlas der Zivilgesellschaft“ widmet: Sind Menschenrechte ein koloniales Konzept? So sieht es etwa der kenianisch-amerikanische Rechtswissenschaftler Makau Mutua. Mit diesem „neo-kolonialen Projekt“ versuche der Westen, den Rest der Welt nach seinem Vorbild zu transformieren. Gleichzeitig würden Probleme und Verletzungen von Menschenrechten im Globalen Norden ignoriert.

Die Autor*innen des entsprechenden Textes im Atlas (deren gute Arbeit bei einer Neuauflage ruhig mit Namensnennung nicht nur in generalisierter Form im Impressum gewürdigt werden könnte) räumen ein, dass „Doppelmoral und Instrumentalisierung dem Ansehen der internationalen Menschenrechte massiv geschadet habe“. Etwa der völkerrechtswidrige Irakkrieg 2003, Demütigungen, Misshandlungen und Folter in Guantanamo Bay und Bagram im Namen des Kriegs gegen den Terror sowie illegale Pushbacks an den EU-Außengrenzen. Sie alle hätten der weltweiten Akzeptanz der internationalen Menschenrechte geschadet. Gleichzeitig seien weder Menschenrechte noch Rechtsstaatlichkeit eine reine Erfindung des Westens. Vorstellungen von „Rule of Law“ reichten bis ins Indien vorchristlicher Zeit zurück. „Die traditionelle „Usos y Costumbres“-Rechtsordnung in Mexiko oder die Ubuntu- Grundsätze zur Menschenwürde in Südafrika fanden Eingang in die jeweilige Verfassung“, schreiben die Autor*innen. „Menschenrechte und Dekolonialisierung haben dasselbe Ziel: Sie stehen für Freiheit und Emanzipation - und engagieren sich gegen Machtmissbrauch.“

 

Der Atlas steht unter folgendem Link zum Download bereit:

https://www.brot-fuer-die-welt.de/atlas-der-zivilgesellschaft/

 

 

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Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 

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