Wurzeln

Der sechste Sinn

Was hält Menschen in einem pluralistischen und demokratisch verfassten Gemeinwesen zusammen? In ihrem noch vor dem Tod Jan Assmanns 2024 gemeinsam verfassten Buch gehen die Friedenspreisträger Aleida und Jan Assmann dieser Frage nach. Sie sind davon überzeugt: Es braucht so etwas wie Gemeinsinn, einen Sinn für das, was Menschen miteinander verbindet und eine Demokratie resilient macht. Doch worin speist sich dieses Ethos, das vom Staat weder erzwungen noch hoheitlich durchgesetzt werden kann? Das Böckenförde-Diktum von 1964 über die Voraussetzungen des weltanschaulich neutralen Staats stimmt weiterhin, doch hinsichtlich seiner Konkretionen braucht es offenkundig ein Update.

Als Ausgangspunkt dafür dient der Begriff „Gemeinsinn“ mit seinen Wurzeln im sensus communis und seiner Nähe zum Gemeinwohl. Sprach- und motivgeschichtliche Erörterungen zum Begriffspaar „Gemeinschaft und Gesellschaft“ bei Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner leiten über zu einer Würdigung von Christian Thomasius, dem Begründer einer rationalen Naturrechtslehre. In der Folge werden benachbarte Begriffe wie Solidarität, Brüderlichkeit und Nächstenliebe sowie Staatstheorien und ihre anthropologischen Grundlagen beleuchtet. Die Goldene Regel und Immanuel Kants kategorischer Imperativ werden als Leitlinien einer gemeinwohlfördernden Praxis gewürdigt sowie unterschiedliche Menschenbilder mit ihren Implikationen in den Blick genommen. Den Gegenpol bildet dazu das antiliberale, antidemokratische und antisemitische Politikverständnis Carl Schmitts, dessen Wiederkehr in aktuellen Auseinandersetzungen zu beobachten ist. Ganz anders hat Schmitts jüdischer Zeitgenosse Karl Löwith in seiner heute nahezu vergessenen Schrift „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928) die wechselseitige Angewiesenheit von Individuum und sozialem Miteinander herausgearbeitet. Mit großer Sympathie folgen Aleida und Jan Assmann Löwiths Analysen, insbesondere der Einsicht, dass die Vorstellung eines autonomen Subjekts eine Abstraktion ist, so wie die Gegenüberstellung von positivem und negativem Menschenbild zu kurz greift, wenn es um das Verstehen und Verhindern zerstörerischer Entwicklungen geht.

Im Streit zwischen Identitätspolitik und dem Pochen auf universal geltenden Menschenrechten plädieren Aleida und Jan Assmann für einen multiperspektivischen Blick, der sowohl die multiplen Gruppenzugehörigkeiten der Individuen als auch die in der Interaktion erfahrbare gemeinsame Menschlichkeit wahrnimmt, kollektive Identitäten respektiert, jedoch universalen Werten unterordnet: „Solidarität besteht darin, soziale und kulturelle Unterschiede anzuerkennen, jedoch auf der Grundlage einer erkannten und anerkannten Gemeinsamkeit praktischer Ziele oder allgemeiner Ziele auch … zurückstellen zu können.“

Auf vielfältige, gegen Ende weniger systematische Weise zeigen die Assmanns auf, wie Menschen auch in zunehmend heterogenen Gesellschaften füreinander einstehen können. Dabei nehmen sie Forschungen aus den Neurowissenschaften ebenso auf wie Praxisbeispiele aus verschiedenen Ländern zu Themen wie Gedenkarbeit, Wohnungslosigkeit, Flucht und Migration. „Die resiliente Demokratie braucht kein Feindbild, aber einen starken Sinn für das, was Menschen miteinander verbindet und zusammenhält … Ihr moralischer Kern sind die Menschenrechte. Deshalb ist das Positive, das die Demokratie in den Mittelpunkt stellt, das Bekenntnis zur Achtung und Würde des Menschen. Daran muss sie sich messen lassen.“

Kritisch lässt sich einwenden: Bei diesem kulturwissenschaftlichen Blick bleibt die Tatsache unterbelichtet, dass das Funktionieren einer Demokratie genauso von akzeptierten Verfahren wie von wirksamen Problemlösungen abhängt. Doch erweisen sich demokratische Verfahren nur so lange als stabil, wie ein hinreichender Wille vorhanden ist, diese Regeln in ihrer Substanz zu achten und sie nicht durch taktische Manöver oder gezielte Disruption auszuhebeln. Andernfalls können Demokratien sehr wohl von innen ausgehöhlt werden, wofür Geschichte und Gegenwart hinreichend Beispiele liefern. Darum lohnt es sich, mit Aleida und Jan Assmanns Buch den Wurzeln und der Bedeutung des Gemeinsinns nachzugehen.

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