Es gibt auf dieser zu besprechenden (oder vielmehr zu erhoffenden) CD viele wunderschöne Momente, aber es gibt einen magischen Moment. Und das ist der Moment des Übergangs vom Schlusschoral der Bachkantate „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende“ (BWV 27) zu den ersten Takten von „Ein Deutsches Requiem“ von Johannes Brahms. Warum magisch? Weil zum einen der Schlusschoral „Welt, ade! Ich bin dein müde“ zu den wirklich mystischen Momenten barocker Ausdruckstiefe gehört: erst die elegische Legato-Deklamation des Textes von Johann Georg Albinus, die in einem schnelleren Dreier auf dem urbarocken „hienieden – dort oben“ endet: „Welt, bei dir ist Krieg und Streit, nichts denn lauter Eitelkeit / in dem Himmel allezeit: Frieden, Freud und Seligkeit“. Und dann? Dann beginnt einfach mit pulsenden Basstönen und den weltberühmten Streicherseufzern das Brahmsrequiem. Ein Erlebnis! Und fast ist man versucht zu sagen, allein für dieses Erlebnis lohnt sich diese CD.
Nun muss der Autor dieser Zeilen zugeben, dass er sogar das Glück hatte, diesen magischen Moment „in echt“ mitzuerleben: Vor gut einem halben Jahr, am Abend des 5. November im schweizerischen Schaffhausen, als sich der durch sein Mega-Bachprojekt legendäre Rudolf Lutz mit Chor und Orchester der in St. Gallen ansässigen J. S. Bach-Stiftung erstmals offiziell an Brahms wagte. Das Orchester besetzt mit historischen Instrumenten der Brahms(!)-Zeit, zahlenmäßig viel üppiger besetzt als bei Bach, klar. Und da man mitten im Konzert nicht das Orchester auswechseln kann, hieß es für den Bach „mitgehangen – mitgefangen“, und auch die Kantate erklang im romantischen Gewande, inklusive Harfe statt Cembalo. Was für eine wunderbare Weltverschmelzung und Reminiszenz an die Bachinterpretationen von Mendelssohn, Schumann und Brahms, die Bachs Vokalwerke im 19. Jahrhundert bewundernd wiederentdeckten. Dazu überzeugende Solisten, von denen besonders Bassist Peter Harvey zu loben ist, und ein frischer, kraftvoller, aber an den entscheidenden Pianostellen hoch sensibler Chor – alles eben Lutz-like.
Deshalb muss diese CD unbedingt empfohlen werden – wenn es sie hoffentlich bald gibt. What? Ja, leider ist das noch nicht sicher, da das Projekt außerhalb der normalen „Bachgeschäfte“ von Ruedi Lutz läuft, muss die Hardware-Produktion dieser „Außer-der-Reihe-CD“ über Crowdfunding finanziert werden. Bis Ende Mai sollte es geschafft sein, hoffen die Verantwortlichen. Das ist/war nach unserem Print-Redaktionsschluss; der Autor drückt die Daumen und regt alle Interessierten an, doch auch ab Juni gerne mal bei www.bachstiftung.ch vorbeizuschauen, wie die Sache steht. Vielleicht kann man ja noch etwas tun … Und sollte es nicht geklappt haben, sei folgendes Geheimnis verraten: Auf Streamingdiensten (zum Beispiel Spotify) ist die Produktion schon jetzt zu hören – welch ein Glück!
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.