Als könnte Käthe Kollwitz sprechen

Auf einem steinernen Sockel hat die Bronzeskulptur von Gustav Seitz (1906–1969) vor dem Theaterbau am Charlottenburger Schloss Platz genommen. Sie zeigt Käthe Kollwitz (1867–1945) sitzend mit einer Zeichenmappe in ihrer linken und einem Kohlestück in ihrer rechten Hand. Der Bildhauer hatte die Figur Ende der 1950er-Jahre geschaffen. Der Rücken ist gekrümmt, der Kopf streckt nach vorne, die Haare sind nach hinten zu einem Knoten zusammengebunden, der Körper in ein bodenlanges Gewand gehüllt. Die Bronzeskulptur weist den Besucher:innen den Weg ins Berliner Käthe-Kollwitz-Museum. Hier eröffnet sich heute eine neue Generation der bildhaften Vermittlung: Ein Bildschirm zeigt Käthe Kollwitz in Lebensgröße als 3D-animierten Avatar, mit Chat- und Voicebotfunktionen, die zum Gespräch einladen.
Die Künstlerin erscheint im abstrahierten Duktus als lilafarbene Gestalt. Kaum merklich bewegt sich ihr Kopf, die Augen scheinen zu klimpern. Die Ähnlichkeit mit der Plastik am Eingang schwingt hier nach. Geschaffen hat den Avatar Alla Popp, eine Medien- und Performancekünstler:in aus Berlin. „Das war zunächst nicht einfach, denn die KI hat ein standardisiertes Frauenbild generiert, das sehr sexualisiert war“, erläutert Alla Popp. So scannte Popp mit Kamera- und Videoaufnahmen Gesichtszüge, Nase, Haut und Bewegungen und wandelte sie mittels KI-Werkzeugen in ein 3D-Modell um: „Wir haben uns im Team gemeinsam für eine Übersetzung entschieden und weniger für eine Interpretation, wie Kollwitz heute tatsächlich aussehen könnte“, erläutert die Künstler:in.
Was steckt nun hinter diesem innovativen Chatbot? Ein erster Praxisversuch, sich mit der virtuellen Käthe Kollwitz zu unterhalten, zeigt: Auf die Frage „Welche Kunstwerke würden Sie heute schaffen“, antwortet der Avatar nach einer kurzen Pause: „Heute würde ich mich wohl mit den Themen der modernen sozialen Ungerechtigkeit, der Flüchtlingskrise und dem Klimawandel auseinandersetzen. Ich würde versuchen, das menschliche Leid und die Hoffnung in diesen Kontexten darzustellen.“
Chat und Voicebot
Das Faszinierende ist, den Kollwitz-Avatar in ein Gespräch zu verwickeln, wie zum Beispiel nach Kollwitz politischen Einstellungen, nach ihrem künstlerischen Denken oder was sie in ihrer Zeit umgetrieben hat. Zum Beispiel: „Was hast Du gedacht, als 1933 die Nazis die Macht übernommen haben?“ Die Antwort: „Ich war tief besorgt, ich sah die Gefahren für die Freiheit und die Menschlichkeit. Das machte mir Angst.“ Damit die Antworten vom Chatbot generiert werden konnten, hat das Museumsteam um Irena Mijatovic und den App-Entwickler Florian Trautmann die Tagebucheinträge von Käthe Kollwitz sowie biografische Informationen und Texte zu ihren Werken in die KI eingearbeitet. Ein Vorteil ist auch die Mehrsprachigkeit, denn der Avatar kommuniziert in 55 Sprachen. Und die hinterlegten Inhalte können erweitert werden.
Zunächst will das Museum mit dem Kollwitz-Avatar die Schließzeit für den Umbau und Ausbau der Ausstellungsräume bis Mitte August überbrücken, denn dann soll in den neu ausgebauten Räumen im Obergeschoss des Theaterbaus die Dauerausstellung „Aber Kunst ist es doch“ zu Leben und Werk von Käthe Kollwitz wieder zu sehen sein. Damit zieht auch der Avatar in die neuen Räume ein. Vielleicht sind dann auch kleine Startschwierigkeiten behoben. Denn auf die Frage, wie sie mit dem Tod ihres im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohnes Hans umgegangen sei, bezieht sich die Antwort auf den ebenfalls gefallenen Enkel: „Der Schmerz war unermesslich. Diese Erfahrung prägte mein Werk tief und verstärkte mein Streben nach Frieden und Gerechtigkeit. Kunst wurde für mich ein Mittel, um Trauer und Protest auszudrücken.“
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.