Schon für die fast unfassbar umfangreiche Recherche muss man der Autorin größten Respekt zollen. Um eine möglichst detaillierte Geschichte der Bioethik in Deutschland zu erstellen, hat Petra Gehring, streitbare Philosophin, zeitweise Vizepräsidentin der TU Darmstadt, tausende sehr unterschiedliche Quellen von Büchern über Medienbeiträge bis hin zu Mailinglisten gesichtet, knapp 90 Interviews geführt und am Ende ein über 1300 Seiten starkes Buch verfasst.
Geradezu detektivartig seziert sie die Geschichte nach disziplinären Zugängen, von den Rechtswissenschaften über Kirchen und Theologie, Medizin und Naturwissenschaft bis hin zu Philosophie und Sozialwissenschaften sowie ihrer Wirkung auf Politik, in Medien, aber auch der Kritik, die die Bioethik beispielsweise von feministischer oder technikkritischer Seite auf sich gezogen hat. Neben der Rekonstruktion der Geschichte der Bioethik in Deutschland hat die Philosophie-Professorin den Anspruch, positionsstark zu erläutern, welche Funktion diesem von Wissenschaft, Politik, Medien und zivilgesellschaftlichen Akteuren gleichzeitig beackerte Arbeitsfeld in der Geschichte der Bundesrepublik vor allem zwischen 1970 und 2010 zukommt. Immer wieder geht sie, wo es ihr nötig erscheint, weiter zurück und nimmt Ausblicke bis in die jüngste Gegenwart vor.
Mehr als 100 Seiten reserviert Gehring für das Fazit ihres Rekonstruktionsversuchs. Weil vermutlich nur wenige Personen sich Zeit und Muße nehmen werden, die knapp 1 200 Seiten Fließtext zu lesen, helfen nicht nur Personen-, Begriffs- und Sachregister, sondern ein siebenseitiges ausführliches Inhaltsverzeichnis, die Passagen zu finden, die einen besonders interessieren: seien es einzelne Personen oder Institutionen, Themen oder politisch wie medial inszenierte Debatten. Als jemand, der an diesen Prozessen (jedenfalls der zweiten Hälfte) selbst regen Anteil genommen hat (mit diesem Hinweis setze ich zugleich einen Disclaimer), bin ich nicht nur erfreut, mich an so manch Vergessenes wieder zu erinnern. Vielmehr war ich bei der Lektüre durchaus an manchen Stellen erstaunt, welche Personen, die ich kannte oder kenne, eine doch andere Rolle gespielt hatten, als ich es selbst wahrgenommen hatte.
So sehr das Buch ein Referenzwerk für die Geschichte der Bioethik in Deutschland, vor allem zwischen 1970 und 2010, sein und bleiben wird, lässt es einen auch mit Unbehagen zurück. In ihrem Methodenmix aus Interview-, Literatur- und Diskursanalyse und -deutung orientiert sich Gehring zu stark an den doch teils sehr lockeren Aussagen der anonymisierten Interviewten. Diese sind für Kenner:innen der Materie trotz Anonymisierung teils recht leicht identifizierbar.
Das ganze Werk vermittelt den Eindruck, Bioethik sei fachlich und methodisch ein hölzernes Eisen und trage vielfach unter – ihres Erachtens – oft miserablen Standards zur Entpolitisierung von gesellschaftlichen Politikfragen bei. Der These, dass dem Feld deshalb die Rolle eines „Stoßdämpfers der Politik“ zugewachsen sei, begegnet Gehring mit Sympathie. Große Freude hat sie an der (bisweilen verschwörungstheoretisch anmutenden) Rekonstruktion von Hinterzimmerentscheidungen und Einflusssphären. So schenkt sie dem Bochumer Ethiker Hans-Martin Sass auf weit über fünfzig Seiten Aufmerksamkeit, um dann doch zu konstatieren, so wichtig sei er nicht gewesen. Viel einflussreichere Akteure wie beispielsweise die langjährige Vizepräsidentin der Leopoldina, Bärbel Friedrich, werden nicht mal erwähnt. Gehrings Kenntnis der evangelischen Bioethik ist bescheiden. Dass Wolfgang Huber seine Position zur Stammzellforschung gewechselt hat, wird – eher abfällig – protokolliert. Die Argumente, die Huber für diese Positionsänderung vorgetragen hat, werden marginalisiert. Überhaupt kommt den vielen Argumentationssträngen – trotz eines über 100 Seiten starken Literaturverzeichnisses – zu wenig Raum zu.
Mit ihrem schon in anderen Werken vorgestellten Foucault’schen Ansatz einer Überhöhung der Bioethik zu einem Quasisubjekt kann die Autorin je nach Gusto alles und nichts kritisieren: „Irgendwie“ ist alles Mittel der Macht … Das lässt den Leser am Ende unbefriedigt zurück und gespannt auf die Ergebnisse der bereits laufenden Forschungsprojekte warten, die die jeweiligen Argumente in den Kontroversen stärker hinzuziehen. Vielleicht ist weniger manchmal mehr.
Peter Dabrock
Peter Dabrock ist seit 2010 Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2012 bis 2020 war Dabrock Mitglied des Deutschen Ethikrates und von 2016 bis 2020 dessen Vorsitzender.