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Christen im Irak

Nein, die opulente Dissertation des Sprechers der katholischen Deutschen Bischofskonferenz (DBK) ist kein Nachruf, kein Abgesang auf die christlichen Kirchen in ihrem biblischen Kernland zwischen Euphrat und Tigris. Zwar führen die Verwüstungen durch Krieg, Terror und konfessionalistische Gesellschaftsstrukturen, welche eine echte Entwicklung verhindern, immer wieder zu neuen Wellen christlicher Auswanderung aus dem Irak. Doch im Fazit spricht Matthias Kopp die verhaltene (und dabei trotz allem kühne) Hoffnung aus, dass die Kirchen im Zweistromland auch zukünftig weiter präsent sein werden, um ihren verbliebenen Gläubigen Halt und Orientierung zu geben sowie in Bildungsarbeit und Gesundheitsversorgung ihr diakonisches Profil zu zeigen.

Dieser Hoffnung nähert sich Kopp in vier Kreisen: Im ersten Teil schlägt er einen weiten historischen Bogen von den biblischen Überlieferungen und der Antike bis hinein ins 19./20. Jahrhundert. Dem folgt ein eher konfessions- und religionskundlich ausgerichteter Teil, bevor im dritten Teil die Geschichte des 20./21. Jahrhunderts thematisiert wird. Im vierten Teil schließlich geht es ausschließlich um die im März 2021 stattgefundene Reise von Papst Franziskus in den Irak, die hier minutiös dokumentiert wird, und die offenkundig der Dreh- und Angelpunkt dieses Promotionsprojektes ist.

„Der Irak: Geschichte – Religion – Politik“: Dieser Titel des Klappentextes umreißt den Inhalt des Werkes im Grunde besser als der Buchtitel selbst. Bemerkenswert sind nämlich vor allem auch die detaillierten Exkurse zu Schiiten und Sunniten als islamischen „Konfessionen“, zum Syrienkrieg, zum „Islamischen Staat“, zum Schicksal der Jesiden und zur modernen Gegenwartsgeschichte des irakischen Staates. Überaus detailreich ist die Darstellung mancher kirchenpolitischen Entwicklungen. Die Schilderung der vatikanischen Diplomatie im Vorfeld der Golfkriege von 1991 und 2003 nimmt dabei zuweilen die Form eines veritablen Politkrimis an. Man spürt, dass Kopp heute nicht allein Pressesprecher, sondern selbst Teil dieser Kirchendiplomatie ist.

Ja, es ist eine ganz und gar katholische – manchmal gar: vatikanische – Perspektive auf das Geschehen im Zweistromland. Zwar scheint immer wieder auf, wie bunt das Christentum im Irak ist; etwa dann, wenn die zahlreichen Unabhängigkeitsbestrebungen assyrischer Christinnen und Christen kontrastiert werden mit dem zumeist auf den Gesamtstaat zielenden Engagement der Chaldäer. Aber im Kern geht es vor allem um die Frage, was die katholischen Kirchen zu Frieden und Versöhnung im Irak beitragen. Dies spiegelt sich auch in der Auswahl der Referenzpersonen, auf die häufig rekurriert wird – etwa auf den chaldäischen Patriarchen Louis Raphael I. Kardinal Sako, der trotz zahlreicher Anfeindungen gegen seine Person bis heute einer der christlichen Hoffnungsträger im Land ist.

Zwei kritische Anmerkungen seien zum Schluss erlaubt: Zahlreich sind die in diesem Buch referierten Stimmen, welche sich gegen das Konzept eines „Minderheitenschutzes“ für Christinnen und Christen wenden und stattdessen volle und gleiche Staatsbürgerrechte für alle einfordern. Hier wäre es für Verständnis und Einordnung sinnvoll gewesen, die Konnotationen des Begriffes der „Minderheit“ im Nahen Osten einmal grundsätzlich und im geschichtlichen Kontext darzulegen. Und schließlich: Wer es wagt, der Öffentlichkeit ein Opus von sage und schreibe 872 Seiten vorzulegen, der sollte dem zur besseren Orientierung wohl auch ein Namens- und Sachregister beifügen. Ohne ein solches mag man sich leicht in der Materialfülle verlieren. Dennoch: ein absolut lesenswertes Buch.

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Foto: EMS

Uwe Gräbe

Pfarrer Dr. Uwe Gräbe ist Nahostreferent der Evangelischen Mission in Solidarität und Geschäftsführer des Evangelischen Verein für die Schneller-Schulen.

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