Geschichtensatt

Über Gefängnisseelsorge

Lebenslänglich ist ein wichtiges und erfreuliches Buch, denn es nimmt sonst rundweg Vergessene in den Blick. Aus Alltagssicht eines Seelsorgers zeigt es eine Welt, die den meisten zum Glück, jedoch auch leider, unbekannt ist. Autor Rolf Stieber war 25 Jahre evangelischer Pfarrer in der nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalt Werl, in Deutschland mit mehr als tausend Männern eine der größten geschlossenen JVAs. Im Buch zieht er eine Art Lebensarbeitssumme, angenehm frei von Selbststilisierung, oft kritisch nachdenklich in Bezug auf das Haftsystem, wie auf sich selbst, in exemplarischen Episoden und Begegnungen fließend erzählt. Ohne apologetische Tendenz legt er zugleich unprätentiös und entwaffnend fromm theologisch Rechenschaft ab. Empfehlenswert. 

Manches hat das Buch indes gar nicht nötig, etwa das betont herausgestellte paraphrasierende Grußwort des prominenten Theologen Fulbert Steffensky. Daran ist nichts falsch, doch vor allem ist es werbewirksam – was zu jener Welt gehört, die auf Ansehen setzt. Dies gerade zu unterlaufen, ist aber eines von Stiebers Anliegen. Er will den Menschen sichtbar machen, auch in zuallermeist zurecht Verurteilten. Ebenfalls besser unterblieben wäre der wirsche Untertitel „literarisches Sachbuch“. Was soll das heißen? Man halte sich also an das facettenreiche informative Buch. Es fesselt unspektakulär.

Ungekränkt und bescheiden

Gefängnispfarrer haben denselben Status wie Militärpfarrer. Die Kirche stellt sie, doch sie sind Staatsbeamte, bloß mit dem Privileg Seelsorgegeheimnis. Das heißt, dass sie zwar im System arbeiten, doch zugleich außerhalb stehen. Anders als bei Sozial- oder psychologischem Dienst kommt nichts, was sie im Gespräch erfahren, in Vollzugsakten. Endlich etwas, was man an der „hinkenden Trennung“ von Staat und Kirche vorbehaltlos schätzen mag – und ein Konstrukt, von dem Inhaftierte immens profitieren können, soweit sie es denn nutzen. Auch davon berichtet Stieber so ungekränkt wie bescheiden. 

Ebenfalls scheint durch, wie das dem System nutzt. Harte Konflikte gab es für ihn offenbar kaum. Vergleiche mit Kollegen unterlässt er. Ähnlich wie beim Militär gilt indes auch hier: Die Person prägt das Amt, nicht umgekehrt. Neben kompetent Engagierten stehen jene mit internalisierter Komm-Struktur. Insofern war es mutmaßlich ein Glück, dass er nach Knastmaßstäben „lebenslänglich“ drin war und nun derart reflektiert und unaufgeregt sowie oft sehr bewegend darüber berichtet.

"Der geilste Satz"

Um der jetzt hoffentlich geweckten Neugier nichts vorwegzunehmen, hier statt beispielhaft angerissener, durchweg lohnender Stories bloß eine, auch Stiebers Dienst prägende Anekdote: Ein von ihm lange als vierschrötig empfundener Gefangener spendete mehrfach Geld von seinem knappen Lohn („Ihr wisst schon, wer Hilfe braucht“). Stieber rechnete absehbar mit einer Frage nach Gegenleistung. Die kam indes nie, stattdessen ein Satz, der ihn berührte: „Das wollte ich Ihnen mal sagen: Das, was Sie immer am Anfang des Gottesdienstes sprechen, ist der geilste Satz, den ich je im Knast gehört habe!“ Er meinte das „im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“. 

Für Herrn Brinker, wie er ihn nennt, offenbar ein Signum dafür, dass es selbst hinter „Im-Namen-des-Volkes“ -Gittern noch einen anderen, erlebbaren Freiraum geben kann. Stieber machte darin den Kern der befreienden Botschaft von der Liebe Gottes aus. Wie er sich bemühte, das in seiner Arbeit zu beherzigen, erzählt er so intim wie eindrucksvoll und geschichtensatt. Sein Buch ist insofern auch ein Statement dafür, was Seelsorge diesseits von Finanzplänen und Orga-Kram leisten kann. In den Kirchenämtern mag es als Memento dienen: Tut, was ihr können solltet, und tut es mit Leidenschaft.

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