"Viele Europäer haben aufgehört, sich für sich selbst zu interessieren.“ Die Diagnose des kulturkritischen Therapeuten Peter Sloterdijk ist hart: Gleichwie Odysseus sich im Mythos gegen den einäugigen Riesen Polyphem mit dem Namen „Niemand“ aus der lebensbedrohenden Affäre zieht, haben sich die Europäer „nach der von ihnen ausgelösten Sequenz, die man die ‚Weltgeschichte‘ nannte, listig in die Niemandsposition zurückgezogen … Während die mittleren Europäer zwischen Lissabon und Stettin sich zunehmend der Verniemandung überlassen, bilden ihre Feinde von Peking bis Ankara eine Polyphemische Internationale.“
Der politische und kulturelle Ehrgeiz der Nachkriegseuropäer sei zwar keineswegs erloschen, er beschränke sich aber darauf, „dafür zu sorgen, dass der Unterschied zwischen Politik und Verwaltung beziehungsweise Demokratie und Versorgungswesen sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt so verkleinert“ wie in der zweiten Jahrhunderthälfte. Fazit: „Allzu oft ist der Europäer von heute der Endverbraucher eines Komforts, von dessen Entstehungsbedingungen er nicht mehr den geringsten Begriff hat.“
In diesem Zustand einer verdrossenen Saturiertheit manifestiere sich die „Inkarnation der Undankbarkeit“ gegenüber der eigenen Geschichte. Diesem Geist der Selbstvergessenheit und Selbstbezichtigung will Sloterdijk durch die Erinnerung an entscheidende Etappen des Lebenslaufs dieses Kontinents, der seine Eigenschaften zu verlieren droht, aber „die Welt erfunden“ hat, entgegentreten. Das hat er durch eine Reihe von Vorlesungen getan, die er 2024 am Collège de France in Paris gehalten hat. Sie kann man nun mit intellektuellem Vergnügen und zu politisch-moralischer Ertüchtigung nachlesen.
Die Grundlagen, zu denen auch die Gegenkräfte und die entsprechenden Ambivalenzen gehören, entfaltet Sloterdijk in sieben „Lektionen“, die er in Anbetracht des unermesslichen historischen Stoffes und der ausgreifenden, metaphernsatten Gesten seines philosophischen Interpreten bescheiden als „Lesezeichen im Buch Europa“ bezeichnet. Vor der Kulisse des „Lateineuropa“ der Kirche und der Wissenschaft wird das große Panorama einer Kultur als „Lernzusammenhang“ entfaltet, in dem sich durch steigernde Rückkoppelung der Lernerfahrungen die Evolution des zivilisatorischen Prozesses vollzieht.
Die letzte „Lektion“ ist den zunehmenden Gegenstimmen, dem Hass gewidmet, mit dem das heutige Europa konfrontiert ist. Diese „Export- und Missionsumkehrungen“ sind Sloterdijk zufolge meist Antworten auf Europas zwiespältige Botschaften: „Es hatte vorgegeben, das Vornehmste zu verbreiten, was es mitzuteilen hatte – die Aufforderung zur Entgrenzung der Liebe …; hingegen hat es nicht selten das Niederträchtigste exportiert, was eine Kultur auf nahe und ferne Zeitgenossen übertragen kann: die gewalttätige Unterwerfung der Anderen unter das Regime der Exporteure.“
Immerhin: Der lange, ambivalente Prozess dieser Ausdehnung führte die Europäer zur Demokratie, als einer pragmatischen Lebensform der politischen Reife: „Das heutige Europa hat den Begriff der Zivilisation restlos ins Positive gewendet – mit der Nuance, dass diese nun nicht mehr mit den Attributen eines herrschsüchtig sterilen Greisenalters vorgestellt wird, sondern mit denen der erwachsenen Reife, ja, der ausgeruhten Mediokrität.“
Vor diesem Hintergrund findet Peter Sloterdijk zu einer moderat positiven Prognose: Europas Zukunft sei „so lange halbwegs außer Gefahr, wie es seinen Bürgern gelingt, sich auch angesichts multipler Krisen dem Sog der mythischen Lösungen zu widersetzen, wie nationalkonservative „Sammlungen“, fiktive „Brüderschaften“ und erlogene „Alternativen“ sie versprechen. Das aufgeklärte Europa sei jedenfalls „so lange am Leben, wie die schöpferischen Leidenschaften die des Ressentiments in Schach halten“.
Hans Norbert Janowski
Hans Norbert Janowski ist Pfarrer i. R. Er lebt in Esslingen.