Ungläubiger Thomas?

Über die Erfahrung von Gnade im Spätwerk von Thomas Mann
Thomas Mann
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In diesem Jahr jährt sich der Geburtstag von Thomas Mann zum 150. Mal. Mann hat seit den „Buddenbrooks“ nicht viel gehalten vom real existierenden Kirchenprotestantismus seiner Herkunft. Aber er hat genau verstanden, worin das Zentrum der „Rechtfertigungslehre“ besteht, erläutert der emeritierte Tübinger Theologieprofessor Karl-Josef Kuschel.

Als Thomas Mann (1875–1955) wie ein Komet am literarischen Himmel aufgestiegen ist, wird er einer der schärfsten Diagnostiker des Verfalls des Christentums als gesellschaftlicher Größe. Ganze 26 Jahre ist Mann alt, als er 1901 mit seinem ersten großen Roman Buddenbrooks so gnadenlos präzise wie kein anderer nicht nur den Verfall einer Kaufmannsfamilie beschreibt, sondern auch den Verfall der kirchlich verfassten Religiosität, die das bisherige geschäftliche Selbstbewusstsein von Familie und Firma gestützt hatte. Das praktizierte „Christentum“? Einstmals kraftvoll und die Gesellschaft beherrschend, am Ende auf einer zukunftslosen Schwundstufe. So stellt der Verfasser es dar. Die kirchlichen Rituale? Sinnentleert. Die Botschaft? Verbraucht. Die Moral? Bigott. Der religiöse Gehalt der urchristlichen Botschaft? Verdampft. Das kirchliche Schlüsselpersonal? Je länger, desto stärker nur noch satiretauglich.

Sein frühes „Erweckungserlebnis“ vollzieht sich bei diesem Dichter daher auch nicht im Raum des Christlich-Kirchlichen, sondern in einer völlig anderen Welt als der der Lübecker Pastoren: unter dem Eindruck der Musik eines Richard Wagners und von Philosophen wie Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer. Insbesondere Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819/1844) macht auf den jungen Thomas Mann den stärksten Eindruck, vor allem das Kapitel: „Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich“.

Entsprechend identifiziert er schon früh „das Religiöse“ nicht mit einem transzendenten, personalen Gegenüber im Sinne des biblischen Gottesverständnisses, sondern mit dem elementaren Grauen vor den Naturgewalten (Meer, Gebirge) und mit dem Gedanken an den Tod. Wahre Religiosität wird nicht durch die veräußerlichen Riten der Kirche erlebbar oder durch Lektüre heiliger Schriften, sondern durch Heimsuchungen und Erschütterungen. Sie können aus der Bahn des gewohnten Lebens werfen wie Erfahrungen von Liebe oder Tod.

Grauen vor den Naturgewalten

„Was ist denn das Religiöse?“, fragt Thomas Mann öffentlich und antwortet: „Der Gedanke an den Tod“, so noch im „Fragment über das Religiöse“ von 1931. Da ist er schon 56 Jahre alt. Will sagen: Angesichts der prekären, geheimnisvollen „Stellung des Menschen im Kosmos“ betrachtet Thomas Mann zu diesem Zeitpunkt „das religiöse Problem“ nicht als „Frage nach Gott“, sondern als „die Frage des Menschen nach sich selbst“. Seinen zweiten großen Roman Der Zauberberg (1924) nennt er denn auch „ein religiöses Buch“, weil in seinem Zentrum „das humane Problem“ stehe, „das Rätsel des Menschen“ als „fleischlich-geistigem Doppelwesen“. Entsprechend weiß er sich in einem offenen Suchprozess: „Glaube? Unglaube? Ich weiss kaum, was das eine ist und was das andere. Ich wüsste tatsächlich nicht zu sagen, ob ich mich für einen gläubigen Menschen halte, oder für einen ungläubigen.“

Doch er wird Wandlungen durchmachen. Zunächst kommt es nach Ende des Ersten Weltkriegs zu einer entschiedenen Absage an einen von ihm lange, allzu lange vertretenen unpolitischen Ästhetizismus und einem „Bekenntnis zur Demokratie“ angesichts des zunehmenden politischen Terrorismus auf deutschen Straßen. 1922: Ermordung von Reichsaußenminister Walther Rathenau. Bei gleichzeitigem Erstarken totalitärer oder kollektivistischer Kräfte, die in Deutschland an die Macht drängen und dann auch an die Schalthebel der Macht gelangen. Unter dem Eindruck der faschistischen NS-Diktatur nimmt die inhaltliche Beschäftigung mit religiösen Überlieferungen weiter konkrete Gestalt an. Es folgt zwischen 1927 und 1943 ein über 16 Jahre und dunkle Zeiten sich erstreckendes literarisches Unternehmen über einen biblischen Stoff im Kontext der Religions- und Kulturgeschichte der Menschheit. Am Ende steht ein Riesenwerk in vier Bänden: Joseph und seine Brüder und ein literarisches Gespräch mit der Bibel, das in der Weltliteratur seinesgleichen sucht. 

Zugleich findet Thomas Mann den Mut zu öffentlichen Äußerungen: gegen faschistische Propagandalügen, die Rassismus, Militarismus und kriegerische Raumeroberungen rechtfertigen, um dann Europa in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Sein Bekenntnis zur „Wiedergeburt der Anständigkeit“ ist das zu einer verbindenden und verbindlichen Werteordnung, geleitet von der Überzeugung: Der Faschismus mit all dem, was er anrichtet, zwingt gerade auch komplexe Intellektuelle und feinsinnige Ästheten wie ihn zu Bekenntnissen, zu einer klaren Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Bis dahin unerhörte Sätze aus einer Rede von Thomas Mann stammen aus dem Jahr 1939, und sie stehen für viele in dieser Zeit: „Ich habe Ihnen von Wahrheit, Recht, christlicher Gesittung, Demokratie gesprochen – meine rein ästhetisch gerichtete Jugend hätte sich solcher Worte geschämt, sie als abgeschmackt und geistig undistinguiert empfunden. Heute spreche ich sie mit ungeahnter Freudigkeit. … Ja, wir wissen wieder, was Gut und Böse ist. Das Böse hat sich uns in einer Krassheit und Gemeinheit offenbart, dass uns die Augen aufgegangen sind für die Würde und schlichte Schönheit des Guten – dass wir uns ein Herz dazu gefasst haben und es für keinen Raub an unserer Finesse erachten, es zu bekennen.“ In diesem Zusammenhang kommt es bei Thomas Mann auch zu einer selbstkritischen Neubewertung des Christlichen und dessen Wertekanon.

Jetzt, ab Mitte der 1930er-Jahre, spricht er in seinen antifaschistischen Essays und Reden aufs Neue vom Christentum, aber nicht mehr von dessen schwach gewordener, verbürgerlichter Gestalt. Jetzt kämpft er mit seinen Mitteln für das jüdisch-christliche Ethos als Widerstands- und Orientierungskraft gegen die Verrohung des Sittlichen durch Faschismus, Rassismus und Militarismus.

Existenzielle Auseinandersetzung

In dem Jahrzehnt zwischen 1945 und 1955 dann sind Spuren einer existenziellen Auseinandersetzung des alt gewordenen Dichters mit religiösen Urthemen unübersehbar. Das ist auch neuen persönlichen Erfahrungen geschuldet, Widerfahrnissen, die sich der rein rationalen Erklärung entziehen. Ich rufe dafür eine Grundaussage des autobiografischen Essays „Meine Zeit“ von 1950 zum Zeugen auf und damit ein religiös besetztes Ur-Wort, das so gar nicht in Thomas Manns bisherige Humanitätswelt passen will. Der Verfasser kommt hier gleich am Anfang „zur Sache“. Ein „geistliches Gremium“ habe seinem „Lebenswerk jede Christlichkeit abgesprochen“, erklärt er, was Thomas Mann durchaus nicht gefallen will. Denn wenn es „christlich“ sei, hält er jetzt selbstbewusst dagegen, „das Leben, sein eigenes Leben, als eine Schuld, Verschuldung, Schuldigkeit zu empfinden, als Gegenstand religiösen Unbehagens, als etwas, was dringend der Gutmachung, Rettung und Rechtfertigung“ bedürfe, dann hätten jene Theologen „mit ihrer Aufstellung, ich sei der Typus des a-christlichen Schriftstellers, nicht so ganz recht“.

Leben als „Gegenstand religiösen Unbehagens“? Eine bemerkenswerte Wortwahl aus dem Mund eines damals nach dem Krieg mit seinen 75 Jahren national Vielgelobten und international Vielbewunderten. Solche und ähnliche Texte aber lassen nur den einen Schluss zu: Je mehr der Altgewordene auf sein Leben zurückblickt, umso intensiver bringt er einen Grundgedanken zur Sprache, der seine Herkunft aus dem Protestantismus nicht verleugnen kann: Leben ist schuldig werden und steht unter der Notwendigkeit der Rechtfertigung, der Gutmachung. Wie aber kann ein Künstler sein Leben gutmachen, wenn nicht durch die eigenen Werke? Wer aber auf seine eigenen Werke setzt, gerät immer tiefer in den Strudel von Ungenügen, Versagen und Schuld. Schuld zum Beispiel auch anderen gegenüber, auf deren Kosten man gelebt hat. Die Spirale droht, ins Unendliche sich zu drehen. Ein Kreislauf, gnadenlos. 

Daher die Sehnsucht nach Gnade, nach Gnädigsein, nach Gerechtfertigt-Sein, nach Nichtanrechnen der Schuld. Er weiß ja: Für einen Künstler setzt sich der Drang nach Gutmachung in jedem Werk fort, das er geschrieben hat. Da gebe es kein Rasten und kein Genügen. Jedes neue Unternehmen sei der Versuch, für das vorige aufzukommen, es herauszuhauen und seine Unzulänglichkeit gutzumachen. Und so werde es gehen bis zuletzt. Was also? Drohe „Verzweiflung“ als das „Lebensend“, hatte Thomas Mann öffentlich gefragt, um darauf gleich den „Trostgedanken“ anzufügen: Es bleibt am Ende nur der Gedanke „an die Gnade, diese souveränste Macht, deren Nähe man im Leben schon manchmal staunend empfand und bei der allein es steht, das Schuldiggebliebene als beglichen anzurechnen“. Woraus folgt: Thomas Mann hat seit den Buddenbrooks nicht viel gehalten vom real existierenden Kirchenprotestantismus seiner Herkunft, aber er hat genau verstanden, worin das Zentrum der „Rechtfertigungslehre“ besteht, die historisch nun einmal das Herzstück „protestantischer“ Theologie ist.

Wurzelgrund im Biografischen

Martin Luther hatte aus verengter, angstmachender kirchlicher Frömmigkeit die Befreiungskraft der paulinischen Gnadentheologie entdeckt und kirchenkritisch zugespitzt. „Im Leben“, im persönlichen Leben, hatte Thomas Mann gesagt. In seiner Ansprache vor Hamburger Studenten 1953 wird er an diesem Punkt noch konkreter. In einer für ihn so ungewöhnlichen, öffentlichen, emotionalen Bewegung kann er – in Erinnerung an Gottesdienste seiner Lübecker Kindheit und Jugend – erklären: „Gnade. Nicht umsonst spielt dieser Begriff in meine späteren dichterischen Versuche – schon in die Josephs-Geschichten, dann in den ‚Faustus‘, dann in die Wiedererzählung der Gregoriuslegende [im Roman Der Erwählte 1951] – immer stärker hinein. Gnade ist es, was wir alle brauchen, und jenes ‚Gnade sei mit euch‘, mit dem in der Lübecker Marienkirche allsonntäglich die Predigt begann, wie mein Blick über Sie hingeht, möchte ich es, das Herz bedrängt von dieser gefährlichen Zeit, jedem Einzelnen von Ihnen persönlich, der deutschen Jugend insgesamt, Deutschland selbst und unserem alten Europa wünschend, zurufen: dass Gnade mit ihm sei und ihm helfe, sich aus Wirrnis, Widerstreit und Ratlosigkeit ins Rechte zu finden.“ Die im Spätwerk nun auffallend häufig auftretende Rede von der Gnade hat hier, im Biografischen, ihren Wurzelgrund. Sie ist Thomas Mann zur besonderen Erfahrung, buchstäblich zur Lebens-Erfahrung geworden, hatte er doch während der Ausarbeitung seines „Teufels“-Romans Doktor Faustus (1947) eine schwere gesundheitliche Krise durchzustehen.

Wörtlich in einem Brief an Ida Herz vom 10. September 1951: „Ich kenne die Gnade, mein Leben ist lauter Gnade, und ich bestaune sie. Ist es denn nicht auch pure Gnade, dass es mir vergönnt war, nach dem ‚Faustus’, der mich fast umgebracht hätte, noch dieses in Gott vergnügte Büchlein zu schreiben?“ Eine weitere Anspielung auf den Heiligen- und Papstroman Der Erwählte, den Thomas Mann 1951 veröffentlichte und der bis heute zu den unbekanntesten Werken Thomas Manns gehört. So wenig seine Leserinnen und Leser, so sehr nahm er ihn auch persönlich ernst. Und doch hüten wir uns, Thomas Manns Rede von der Gnade für einen biblischen Gottesglauben zu vereinnahmen. Dass er beim Motiv der Gnade zwischen mehr personaler und mehr apersonaler Redeweise changiert, wollen wir ernst nehmen und es weder zur einen noch zur anderen Seite hin verrechnen. Er spricht einmal von Gnade als „Macht“, also unpersonal, und dann auch von Gnade als „Helfer“, also personal.

Erneuertes Verhältnis

Als Schriftsteller bleibt Thomas Mann bei den von ihm gewählten Umschreibungen. Was er – offenbar in kalkulierter Selbstbegrenzung – vornimmt, ist bestenfalls ein Verweis auf Transzendenz – ohne weitere kategorial-begriffliche Ausdeutung oder direkte Anleihen an eine biblische Gottesrede. Ein Leben lang hütet er sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den Gottesnamen direkt auszusprechen. Diese Zurückhaltung aber ist bei Thomas Mann keinem Versagen, sondern den Prämissen neuzeitlicher Religionskritik geschuldet. Er hatte, im Widerstreit seiner beiden religionskritischen Kronzeugen, Schopenhauer und Nietzsche, Wandlungen durchgemacht, weil die Zeitwenden ihn zu eindeutigen „Bekenntnissen“ herausgefordert hatten: Bekenntnisse zur Demokratie gegen den völkischen und sozialistischen Totalitarismus, zur Unterscheidung von Gut und Böse gegen den alles relativierenden Nihilismus, zum christlichen Ethos wider die Sittenschänder und Kriegsverbrecher, die „das Christentum“ durch einen Rassismus und Imperialismus hatten ersetzen wollen. Er hatte sich nicht gescheut, Antisemitismus Antichristlichkeit zu nennen und selbstkritisch eingestanden, dass es in Zeiten einer menschenverachtenden, die Menschenrechte schändenden Ideologie an der Zeit sei, „unser etwas lässig gewordenes Verhältnis zum Christentum zu erneuern und zu aktivieren“.

Gemeint ist nicht das real existierende „Christentum“ in verkirchlicht-verbürgerlichter Gestalt, deren Schwäche und Verfall er in seinem ersten Roman gnadenlos beschrieben hatte, sondern die „Idee des Christentums“, verwirklicht in einem „religiös fundierten Humanismus“, konkret: einer praxis pietatis. In Sachen Gottesrede, in Sachen Transzendenz aber geht Thomas Mann – im Wissen um die Unverfügbarkeit des Lebens und die Unverfügbarkeit des Göttlichen – kategorial nicht weiter als bis zur Rede von der „Gnade als der souveränsten Macht“. Er bleibt dabei: Von „Gnade“ redet er, nicht vom „Gnädigen“ als einer transzendenten „Größe“ im biblischen Sinn. Dass aber dieser Dichter den Namen Gottes nicht ausspricht, hat „seinen Grund“, so der Göttinger Literaturwissenschaftler Heinrich Detering, „gewiss vor allem in der anthropologischen Grundierung dieses Nachdenkens über die Religion und mit der vergleichend-religionstypologischen Perspektive, die lieber die ‚Einheit des Menschengeistes‘ auch in Religion und Frömmigkeit betont als religiöse und konfessionelle Differenzen. Aber es mag, bedenkt man ans Bekenntnishafte reichende Texte wie ‚Meine Zeit‘, auch etwas zu tun haben mit der Scheu vor der Profanierung des Heiligen und der Ansicht, worüber man nicht reden könne, davon solle man besser erzählen.“ 

 

Literatur
Karl-Josef Kuschel: Weltgewissen. Patmos-Verlag, Stuttgart-Ostfildern 2025, 448 Seiten, Euro 46,–.

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