Was die Daten sichtbar machen
Tabea Ott hat eine theologische Ethik der Visibilität entwickelt. In ihrer Dissertation hat sich die 30-Jährige mit den ethischen Perspektiven auf den Einsatz von Künstlicher Intelligenz auseinandergesetzt.
Gebürtig aus Würzburg bin ich in der Nähe von Ansbach aufgewachsen und war dort in der christlichen Jugendarbeit aktiv. Während meines Freiwilligen Sozialen Jahres wurde mein Wunsch, Gymnasiallehramt für die Fächer Deutsch und Evangelische Religionslehre zu studieren, gefestigt. Nach meinem ersten Staatsexamen habe ich dann 2021 am Lehrstuhl für Systematische Theologie II (Ethik) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg unter der Leitung von Professor Peter Dabrock als wissenschaftliche Mitarbeiterin angefangen und im März 2025 meine Dissertation Zwischen Unsichtbarkeit und Exponiertheit. Zu einer theologischen Ethik der Visibilität im digitalisierten Gesundheitssystem abgeschlossen.
Mein Dissertationsprojekt ist im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs EmpkinS entstanden, dessen zentrales Ziel es ist, durch neue Messtechnologien und den Einsatz von Machine-Learning-Verfahren von äußeren, körperlich messbaren Parametern wie Gang, Hand- oder Gesichtsbewegungen auf innere Zustände des Menschen, also Schmerz, Depression, Stress, Krankheitsfortschritt, zu schließen.
In diesem interdisziplinären Forschungsverbund habe ich mir die Frage gestellt, wie durch diese und andere erzeugte Gesundheitsdatenbilder menschliche Selbstbezüglichkeit, menschliche Handlungsfähigkeit und menschliche Sozialität verändert werden. In meiner Dissertation habe ich insbesondere den Begriff der Sichtbarkeit untersucht. Wie verändern Datenbilder, wie wir einander wahrnehmen? Was wird sichtbar in den Datenbildern und für wen? Und was hat das letztlich für ethische Konsequenzen? Damit tangiert die Frage nach den Gesundheitsdaten Bereiche, die weit über das Medizinsystem hinausgehen. Daten, die innerhalb des Gesundheitssystems aufgenommen wurden, können auch außerhalb dieses Systems relevant werden – also zum Beispiel für politische Entscheidungsträger:innen, Versicherungen und Arbeitgebende. Und andersherum können so genannte Lifestyle-Daten, zum Beispiel Daten aus den Sozialen Medien oder das Klickverhalten im Internet, zu Gesundheitsdaten werden, weil durch sie Informationen über den Gesundheitszustand herausgefunden werden können. Zudem sind nicht mehr (nur) die eigenen Daten relevant für die eigene Sichtbarkeit, sondern die Daten anderer erlauben die Erstellung eines individuellen Profils über Korrelationen. Die Ausgangsbeobachtung meiner Arbeit ist die, dass in der Technikentwicklung „More data is better data“ vorherrscht, also: Mehr Daten bringen bessere Ergebnisse, was sehr häufig auf einer technologischen Entwicklungsebene auch tatsächlich der Fall ist. So gibt es zum Beispiel ein so genanntes Gender Data Gap. Das heißt, dass Daten von Frauen weniger in die Entwicklung von Algorithmen einbezogen werden und die Ergebnisse, die die Algorithmen liefern, dadurch schlechter für diese Gruppe ausfallen. Das heißt weiter, die Unsichtbarkeit auf einer Datenebene führt dazu, dass es hinterher zu einer Benachteiligung von bestimmten Personengruppen kommt. Die Besonderheit meiner Arbeit ist aber auch, nicht nur die Unsichtbarkeit kritisch zu reflektieren, sondern quasi auch das Gegenstück zur Unsichtbarkeit, nämlich die Exponiertheit, auszuleuchten. Es gibt eine bestimmte Form der Sichtbarmachung durch Datenbilder, die Nachteile mit sich bringt, genauer: Stigmatisierung, Stereotypisierung und Hypervisibilität hervorruft. Sie entsteht zum Beispiel dadurch, dass persönliche Profile mittels KI erstellt werden können, ohne auf die eigenen Daten zurückgreifen zu müssen. Bestehende Datenschutzregularien werden so aus den Angeln gehoben. Dadurch entsteht ein großes Problem für den Schutz unserer Privatsphäre und darüber hinaus unserer Anerkennung und Handlungsfähigkeit. Die extern entworfenen Bilder produzieren Sichtbarkeiten, und die Person, um die es geht, kann sich zu dieser Sichtbarkeit nicht mehr verhalten.
In meiner Dissertation greife ich empirische Studien auf, die genau diese Benachteiligung durch digitale Exponiertheit aufzeigen. Verschiedene Studien zur Gesundheitsversorgung indigener Gruppen, zur Transgender-Gesundheitsversorgung oder zum Thema HIV-Stigma verdeutlichen, dass durch eine größere Sichtbarkeit tatsächlich gesundheitliche Nachteile entstehen können – nicht zuletzt, weil Gesundheitsversorgung immer auch ein sozialpolitisches Thema ist und weil Sichtbarkeit nicht mehr nur von den „eigenen“ Daten abhängt.
Über diese empirischen Arbeiten zeige ich, warum das Thema eine große gesellschaftliche Relevanz hat. Von dort aus bin ich weiterhin der Frage nachgegangen, was es eigentlich theologisch-ethisch heißt, als Person sichtbar zu sein. Leibphänomenologisch lässt sich zunächst festhalten: Wir sind Leib und können darum niemals unsichtbar sein. Was heißt es aber, vor dem geglaubten Gott sichtbar zu sein? Und wie lassen sich aus der theologisch-ethischen Rekonstruktion von Sichtbarkeit Handlungsimpulse für die Gestaltung zwischenmenschlicher Sichtbarkeit ableiten? Visibilität, wie ich sie in der Arbeit vorstelle, ist eng mit Anerkennungsfragen verbunden sowie mit Handlungsfähigkeit und Vulnerabilität. Exemplarisch verdeutliche ich dies an der Hagar-Geschichte in Genesis 16,13, die dezidiert den Blickaustausch zwischen Mensch und Gott verhandelt. Über diese Trias, die mit der Visibilität verbunden ist, konnte ich aufzeigen, was für mögliche Governance-Perspektiven sich daran anschließen. Wie müssen Räume der Visibilität gestaltet werden, dass Anerkennung, Handlungsfähigkeit und Vulnerabilität nicht kompromittiert und verletzt werden? Oder anders gefragt: Wie kann gerechtes Sehen gelingen? Gerechtes Sehen, so analysiere ich, changiert zwischen Automatismus, individueller Anstrengung und übergreifenden Strukturen, die das Sehen bestimmen. Einen Antwortversuch, den damit verbundenen Herausforderungen zu begegnen, liefert eine theologische Ethik der Aufmerksamkeit, die für Strukturen plädiert, die Unterbrechung, Sensibilisierung und Perspektivübernahme ermöglichen.
Die auf abstrakter Ebene formulierten ethischen Analysen münden schließlich in einer konkreten Governance-Perspektive für den Umgang mit digitalen Daten im Gesundheitssystem. Dabei lote ich Schutzmechanismen aus, die Datensouveränität ermöglichen und damit Handlungsfähigkeit in Bezug auf die eigene digitale Sichtbarkeit (wieder-)herstellen sollen.
Aufgezeichnet von Kathrin Jütte
Informationen
Das Buch erscheint im Oktober 2025 open access in der Reihe Perspektiven der Ethik bei Mohr Siebeck.
Tabea Ott
Tabea Ott ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Systematische Theologie II der Universität Erlangen-Nürnberg.
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.