Global solidarisch

Um der drohenden Klimakatastrophe zu begegnen, braucht es eine große Transformation im politischen und gesellschaftlichen Handeln und Leben. Eberhard Pausch, der das Grundsatzreferat im hessischen Ministerium für Arbeit, Jugend und Soziales leitet, skizziert diese gesellschaftliche Großaufgabe vor dem Hintergrund des Denkens der von Horkheimer und Adorno begründeten Frankfurter Schule.
"Ich würde mich freuen, wenn wir Intellektuellen etwas mehr ins Gelingen verliebt wären. Kritik ist wichtig, keine Frage, man muss aber auch zeigen, wie Dinge funktionieren, man sollte versuchen, andere zu inspirieren und etwas in Bewegung zu setzen.“ (Andreas Voßkuhle, von 2010 bis 2020 Präsident des Bundesverfassungsgerichts)
Etwas in Bewegung setzen wollten die Gründer der Frankfurter Schule ganz gewiss. Zumindest am Anfang, während der „Ersten Marxistischen Arbeitswoche“ im thüringischen Geraberg 1923, wollten sie die Gesellschaft verändern. Nicht so moderat wie die Sozialdemokratie in der Weimarer Republik, aber auf keinen Fall so disruptiv und gewalttätig wie die Clique der Verbrecher um Josef Stalin in der Sowjetunion. Nachdem das „Frankfurter Kränzchen“ um Paul Tillich, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno im Jahr 1931 die Frage der Institutsleitung geklärt hatte und gerade daran ging, ein eigenes Konzept der Verbindung von Philosophie, Sozialwissenschaften und Psychoanalyse zu entwickeln, kamen in Deutschland 1933 die Nationalsozialisten an die Macht. Das Institut, zum Glück durch den Mäzen Felix Weil finanziell einigermaßen unabhängig und organisatorisch beweglich, konnte sich im Ausland, schwerpunktmäßig in den Vereinigten Staaten, niederlassen und so die Doppelkatastrophe der Shoah und des Zweiten Weltkrieges überstehen.
Schon 1946 meldete sich der Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt, Walter Kolb, bei Felix Weil und bat darum, das IfS möge nach Deutschland zurückkehren. Das Land Hessen richtete Lehrstühle an der Goethe-Universität ein und ermöglichte ab 1950 Horkheimer und Adorno die Neugründung des Instituts an der Goethe-Universität, nun auch finanziert mit Landesmitteln. Horkheimer bekam sogar zeitweise den ehrenvollen Titel des Rektors der Frankfurter Universität übertragen.
Der Boden für einen fruchtbaren Neustart schien bereitet. Aber bereits mit ihrem 1944 fertiggestellten Gemeinschaftswerk Dialektik der Aufklärung hatten die beiden Protagonisten der Frankfurter Schule den Impetus der Gesellschaftsveränderung verlassen und ihre Tonlage von Dur auf Moll oder gar auf Zwölftonmusik umgestellt. Die marxistischen Theorien verschwanden wie manche Publikationen der 1930er-Jahre im Keller des Instituts. Wo einstmals die Hoffnung auf eine bessere, vernünftigere, gerechtere Gesellschaft blühte, da wurden jetzt dunkle Warn- und Mahnschilder platziert, Gedichte nach Auschwitz für unmöglich erklärt und begabte junge Marxisten wie Jürgen Habermas von Horkheimer wissenschaftlich kaltgestellt.
Natürlich war den führenden Theoretikern der Frankfurter Schule schon von ihrer (groß-)bürgerlichen Herkunft her das Proletariat fremd. Zudem hatte eine von Erich Fromm durchgeführte Studie am Vorabend des Dritten Reiches empirisch gezeigt, dass nur ein kleiner Teil der Arbeiterschaft wirklich auf „links“ gepolt war, vielmehr ein Großteil autoritär dachte und antisemitisch fühlte. Adorno und Horkheimer hielten eine Gesellschaftsveränderung durch die Arbeiterklasse somit für ausgeschlossen. Vor allem aber hatte sie ein tiefer Pessimismus ergriffen. Sie erwarteten nicht mehr, dass der Sozialismus in der Bundesrepublik Deutschland oder anderswo siegen könne und es eine gerechtere Gesellschaft geben werde.
Terror und Gewalt
In der restaurativen Atmosphäre der Adenauer-Ära setzte Horkheimer vielmehr auf die CDU-Wahlkampfparole „Keine Experimente“. Entsprechend verhalten bis ablehnend waren die Reaktionen auf die Studentenrevolte seit Mitte der 1960er-Jahre. Jürgen Habermas‘ düstere Prophezeiung eines „linken Faschismus“ im Anschluss an die Ermordung von Benno Ohnesorg 1967 erfüllte sich in Gestalt der RAF, die ausgerechnet die sozialliberalen 1970er- Jahre mit Terror und Gewalt blutrot färbte.
Während Adorno und Horkheimer Geschichte als „permanente Katastrophe“ verstanden, versuchte Habermas, das Projekt einer linken Gesellschaftstheorie zunächst erkenntnis-, später kommunikationstheoretisch wiederzubeleben. Als einer der beiden Direktoren des Starnberger Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt (neben Carl-Friedrich von Weizsäcker) setzte er dabei auf Wissenschaft und Aufklärung.
Parallel zu seinen Bemühungen um einen gesellschaftstheoretischen Neuansatz mischte Habermas sich immer wieder in aktuelle politische Debatten ein. Der Historikerstreit 1986/87, die Auseinandersetzung um den Modus der deutsch-deutschen Vereinigung 1990, die weiträumige bioethische Diskussion um die Jahrtausendwende, die Impulse zur Würdigung einer mit der Aufklärung vereinbaren Form von Religion nach dem 11. September 2001 und zuletzt seine friedensethischen Interventionen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine sind Beispiele dafür.
Klar ist: An Habermas muss sich messen lassen, wer heute als Exponent der Frankfurter Schule auftritt. Nicht nur das von ihm gesetzte intellektuelle Niveau ist dabei Maßstab, sondern auch sein Ethos, Veränderungen durch den „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ zu bewirken. Dabei ging er – ebenso wie Kant und Popper – davon aus, dass die Zukunft als offen gedacht werden müsse.
Die heutige Generation der Forschenden am Institut für Sozialforschung unter der Leitung von Stephan Lessenich und Sarah Speck hat sich programmatisch vorgenommen, sich auf gesellschaftliche und politische Praxis einzulassen und sie im Blick auf die Leitidee der globalen Solidarität zu gestalten. Globale Solidarität meint: Ziel allen Handelns muss es sein, Leben und Würde der Menschen und die Integrität der Natur als deren Lebensraum unter Beachtung der gegebenen wechselseitigen Abhängigkeiten zu bewahren.
Im aktuellen Perspektivtext des Instituts aus dem Jahr 2023 werden vor diesem Hintergrund zwei wesentliche Themenfelder benannt, denen sich die Mitarbeitenden in den kommenden Jahren widmen wollen. Das erste Themenfeld gilt einer „Krisentheorie des Funktionierenden“: Der globalisierte Kapitalismus agiert nahezu ungebremst und durchläuft und/oder produziert dabei selbst eine Krise nach und neben der anderen: die Finanzkrise, die Krise des Euro, die Flüchtlings-, die Klima-, die Pandemiekrise und zuletzt Krisen durch Kriege und Konflikte (Ukraine, Israel/Palästina). Diese Krisen häufen und überlappen sich und verstärken einander gegenseitig. Man kann somit von einer Krisenüberlappung und Krisensynchronie sprechen – wobei die drohende Klima-Katastrophe wohl den Rahmen für die übrigen Krisen setzt.
Half vor einiger Zeit noch das Wegsehen, als die Sintflut scheinbar nur neben uns wütete (Neben uns die Sintflut, 2016 von Lessenich veröffentlicht), so hilft es heute längst nicht mehr. Denn die Fluten kommen überall in Europa (und nicht nur im Ahrtal) an. Und dennoch scheint irgendwie alles zu funktionieren, die Rendite des „militärisch-industriellen Komplexes“ (Eisenhower) rollt weltweit und mit ihr im wahrsten Sinne des Wortes der Rubel. „Es funktioniert alles. Das ist das Unheimliche, dass es funktioniert und dass das Funktionieren immer weiter treibt zu einem weiteren Funktionieren […].“ Das könnte so im Perspektivpapier des IfS (oder sogar bei Adorno) stehen. Tatsächlich stammt das Zitat aber von Martin Heidegger. Erstaunlich? Es zeigt nur, dass das erste Analysefeld seine Berechtigung hat – erst recht natürlich in der marxistischen Tradition.
Das zweite im Perspektivpapier benannte Themenfeld ist die avisierte „Praxistheorie des Möglichen“. Mit ihrer Hilfe sollen die realen Chancen gesellschaftlicher Transformation ausgelotet werden. Das Stichwort „Transformation“ bezeichnet dabei einen Prozess, der zwar weniger als eine Revolution, aber mehr als eine Liste von bloß unverbundenen Reformen umfasst. Transformation wagen heißt, Handlungsoptionen systematisch zu verbinden und mit Hoffnung auf eine gute Zukunft zu füllen.
Wer Transformation wagt, der muss postulieren, dass die Zukunft zumindest teilweise noch offen ist, dass es also so etwas wie Freiheit gibt und das Leben – der Menschen, aber auch der anderen irdischen Geschöpfe – noch eine Chance hat. Die Realisierung dieser Chance hängt allerdings davon ab, ob es gelingt, eine globale Solidarität zu entwickeln.
Warum muss die Solidarität global sein? Weil globale Solidarität erstens eine Folge der Kant’schen Einsicht ist, dass die Bürgerinnen und Bürger dieser Welt auf einem räumlich begrenzten Erdball existieren, wo sie einander nicht ausweichen können, sondern sich immer wieder begegnen werden. Global muss diese Solidarität zweitens sein, damit sie der kaum einzuhegenden ökonomischen Globalisierung und damit dem weltweiten Raubtierkapitalismus wirksam entgegentreten kann. Aber drittens muss sie auch global sein, weil die internationale Solidarität offenbar noch niemals hinreichte, um Nationalismus und Bellizismus einzuhegen. Wer den Weltfrieden will, muss Nationalismus ablehnen – und Internationalismus setzt Nationalismus voraus, überwindet ihn aber nicht. Und schließlich muss die neue Form von Solidarität viertens auch deshalb global sein, weil sie nur so die den ganzen Globus bedrohende Klima-Katastrophe im Blick haben und vielleicht in allerletzter Nanosekunde noch abwehren kann.
Das zweite große Anliegen des neuesten „Updates“ des Instituts für Sozialforschung, die „Praxistheorie des Möglichen“, wird somit auch weiterhin eine Kritik des Kapitalismus einschließen, „aber dies nicht im Katastrophenmodus des Blicks in den Abgrund, sondern im Geiste eines neuen Aufbruchs“, wie Lessenich dies programmatisch formuliert.
Herausgefordert und bedroht
Dieser neue Aufbruch steht im Zeichen der Leitidee der globalen Solidarität. Er ereignet sich zu einer Zeit, in der die offene und demokratische Gesellschaft, in der wir leben, zutiefst herausgefordert und bedroht ist. Dafür sind vor allem Rechtspopulisten und Rechtsextremisten verantwortlich. Wie in der Weimarer Republik gilt: „Der Feind steht rechts.“ Es ist daher nötig, dass alle der Vernunft und der Wahrheit (also der Aufklärung) verpflichteten Bewegungen und Kräfte zusammenwirken – global solidarisch. Wir brauchen die ungefilterte Wahrnehmung der Herausforderungen und Gefahren unserer Gegenwart. Wir brauchen den prinzipiell unabschließbaren, selbstreflexiven Prozess des kritischen, auf Befreiung zielenden Denkens. Und wir brauchen den Mut, unsere Gesellschaft und diese Welt gestalten zu wollen.
Ein „Kategorischer Klima-Imperativ“ ist zwar denkbar. Er würde das denkende Individuum darauf festlegen, nie mehr mit einem Flugzeug zu fliegen, auf Fleischkonsum konsequent zu verzichten und auch nicht mehr in einen Pkw zu steigen. Ein solcher Imperativ kann aber nicht ausreichen, da ihn sich erfahrungsgemäß zu wenige Personen aneignen würden und ein entsprechender Transformationsprozess sehr viel mehr Zeit brauchen würde, als wir zur Verfügung haben.
Deshalb braucht es ein entschlossenes politisches und zivilgesellschaftliches Handeln aller Kräfte, Bewegungen und Personen, die sich dem Erbe der Aufklärung verpflichtet wissen. Dazu zähle ich auch die christlichen Kirchen. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule kann dafür ihre reichhaltigen Ressourcen einbringen. Ihre Rolle sollte darin bestehen, Menschen zu ermutigen, zu inspirieren und sie vor allem in Bewegung zu setzen – in Richtung der globalen Solidarität.
Eberhard Pausch
Eberhard Pausch ist Pastor und Referatsleiter im hessischen
Sozialministerium in Wiesbaden.