Kaum ein Wimpernschlag

Die Neuentdeckung des Alten Testaments als Folge des christlich-jüdischen Dialogs
Hebräische Bibel aus dem Jahr 1709: Auszug aus dem 2. Buch Samuel.
Foto: epd-bild/Jens Schulze
Hebräische Bibel aus dem Jahr 1709: Auszug aus dem 2. Buch Samuel.

Vor 50 Jahren erschien die EKD-Studie „Christen und Juden“. Sie gab einem neuen, sachgemäßeren Verständnis des so genannten Alten Testaments für die christliche Theologie wichtige Impulse. Kristin Weingart, Professorin für Altes Testament in München, zeichnet den Weg nach und hofft auf weitere gemeinsame Erkundungen der Schrift im christlich-jüdischen Dialog.

Christen und Juden gründen ihren Glauben auf die gemeinsame ‚Schrift‘“. Einfach und unspektakulär kommt diese Eingangsthese daher, mit der die EKD-Studie „Christen und Juden“ (1975) den Abschnitt zur „Heiligen Schrift“ eröffnet. Doch ist sie weder das eine noch das andere: Alles andere als einfach berührt sie einen zentralen Zug des christlichen Selbstverständnisses, alles andere als unspektakulär führt sie mitten in eine der großen Herausforderungen aus dem jüdisch-christlichen Gespräch. Dass hier Fragen aufbrechen, zeigt sich schon daran, dass die Studie die „Heilige Schrift“ gleich zweifach thematisiert – einmal unter „Gemeinsame Wurzeln“, einmal unter der Überschrift „Das Auseinandergehen der Wege“. Wie gemeinsam ist also die „gemeinsame ‚Schrift‘“? Und wieso entscheidet der Umgang mit ihr nicht nur über gemeinsam oder einsam im christlich-jüdischen Verhältnis, sondern auch über das Alte Testament als Teil der christlichen Bibel?

Epochemachender Beschluss

„Christen und Juden“ erschien vor 50 Jahren, doch die Frage nach dem Schriftverständnis im jüdisch-christlichen Verhältnis erwies sich als ein Dauerbrenner. Sie hatte schon das II. Vatikanische Konzil in der Erklärung „Nostra Aetate“ (1965) beschäftigt, dann wieder die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland mit ihrem epochemachenden Beschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ (1980). Um die Jahrtausendwende wurde sie geradezu zu einem theologischen Brennpunktthema, traktiert in der Folgestudie „Christen und Juden III“ (2000), von der Päpstlichen Bibelkommission (2001: „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“), der Leuenberger Kirchengemeinschaft (2001: „Kirche und Israel“) und von amerikanisch-jüdischer Seite in der Erklärung „Dabru Emet“ (2001). Zuletzt flammte sie vor knapp zehn Jahren in der von Notger Slenczka angestoßenen Debatte um den kanonischen Rang des Alten Testaments wieder einmal öffentlichkeitswirksam auf. Es wird dies sicher nicht das letzte Mal gewesen sein.

Dabei scheint doch die jüdisch-christliche Gemeinsamkeit der „Schrift“ auf den ersten Blick offensichtlich: Beim ersten Teil der christlichen Bibel, dem Alten Testament, handelt es sich um dieselbe Sammlung von 39 Büchern, die auch die jüdische Bibel, den TaNaK (ein Akronym aus Tora – Neviim = Propheten – Ketuvim = Schriften), ausmacht. Offensichtlich ist zudem, dass sich die Verfasser der 27 Schriften des Neuen Testaments vielfach und vielfältig auf jene Bücher bezogen, die für sie bereits in weiten Teilen autoritativen Charakter hatten, eben „die Schrift“ waren. Neben diese stellten sie Schriften, die dann ihrerseits kanonisch wurden.

Auf den zweiten Blick tritt aber neben diese Gemeinsamkeit ein deutlicher Unterschied. „Die Schrift“ der neutestamentlichen Autoren war in den allermeisten Fällen die griechische und nicht die hebräisch-aramäische Version der biblischen Texte. Der sich ebenfalls in den ersten Jahrhunderten nach Christus etablierende griechische Bibelkanon enthält aber nicht nur mehr Bücher als der hebräische, sondern ordnet diese auch anders, beginnend mit den Gesetz- und Geschichtsbüchern, gefolgt von den Lehrbüchern und den Propheten als in die Zukunft weisendem Schlussteil. Dieser Kanon, dessen Zuschnitt und Anordnung auch die lateinische Vulgata übernahm, war über Jahrhunderte das Alte Testament der Kirche.

Kanonische Mischform

Dies änderte sich grundlegend mit dem reformatorischen Rückgriff auf den hebräischen Urtext. Die neuen Bibelübersetzungen, die im protestantischen Kontext die Vulgata aus Gottesdienst und christlicher Lehre verdrängten, sind für das Alte Testament eine kanonische Mischform. In Martin Luthers Übersetzung des Alten Testaments entspricht der Umfang des Kanons den 39 Büchern des TaNaK, die Anordnung der Bücher aber orientiert sich an der griechisch-lateinischen Tradition: Geschichtsbücher (1.–5. Mose; Josua – Esther), Lehrbücher (Hiob – Hoheslied) und Propheten (Jesaja – Maleachi).

Altes Testament und TaNaK sind damit keineswegs identisch. Die jeweiligen Schlussworte, mit denen sie den Blick ihrer Leserinnen und Leser über sich hinaus-lenken, unterstreichen dies: Das Alte Testament endet mit der Ankündigung einer Wiederkehr Elias (Maleachi 3,23–24), der TaNaK mit dem Aufruf an die judäischen Exulanten zur Rückkehr nach Jerusalem (2. Chronik 36,22–23).

Diese wenigen Schlaglichter zeigen: In ihrer materialen Gestalt ist „die Schrift“ Christen und Juden zugleich gemeinsam, und sie ist es nicht. Sie zeigen ebenfalls: Was Christinnen und Christen als Altes Testament gelesen haben, hat im Laufe der Kirchengeschichte tiefgreifende Umbrüche erfahren. Letztere hingen auch damit zusammen, wie das Alte Testament gelesen wurde. Die Geschichte des christlichen Bibelkanons ist zugleich eine Geschichte der mehrfachen Neu-Entdeckung des Alten Testaments.

Eine erste Neu-Entdeckung markiert den Anfang der Geschichte. Der Jude Jesus von Nazareth lehrte, die Evangelisten und Apostel erzählten seine Geschichte und reflektierten das mit ihm Erlebte unter Rückgriff auf „die Schrift“. Diese lieh ihnen die Sprache und die Bilder für ihre frohe Botschaft, hier fanden sie die Deutehorizonte, um Jesus als den Christus und das mit ihm anbrechende Heil zu verstehen. Im Schreiben der eigenen Schriften, entdeckten sie zugleich „die Schrift“ neu, nunmehr als eine, die auf Jesus Christus hindeutete und von Jesus Christus her zu verstehen war. Im Gegenüber und im Verbund mit dem Neuen Testament wurde „die Schrift“ somit zum Alten Testament.

Damit begann aber auch das, was in „Christen und Juden“ als „das Auseinandergehen der Wege“ bezeichnet wird. Es lässt sich innerlich an der christologischen Perspektivierung festmachen, die Juden und Jüdinnen nicht teil(t)en, und führte äußerlich zur Präferenz für eine Kanongestalt, die den Brückenschlag zum Neuen Testament erleichterte. In der christologischen Perspektive lag aber zugleich ein Keim des Verhängnisses im jüdisch-christlichen Verhältnis – nicht schon dort, wo die neutestamentlichen Autoren und die Kirche die Texte als in dieser Weise sprechend erlebten und verkündigten, aber dort, wo die christologische Perspektive als die einzig textgemäße gelten sollte. Die aus diesem Irrweg resultierende antijüdische Polemik beginnt bereits im Neuen Testament (wenn etwa der Evangelist Lukas deshalb Ochs und Esel an die Krippe stellt, um damit unter Rückgriff auf Jesaja 1,3 Israel zu kritisieren, denn dort steht – natürlich ursprünglich in völlig anderem Zusammenhang –: „Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt‘s nicht, und mein Volk versteht‘s nicht.“ ). Antijüdische Polemik zieht sich durch die Kirchengeschichte (man denke nur an die verbreitete Darstellung der Synagoge als Frau mit verbundenen Augen) und ist Teil der christlich-theologischen Schuldgeschichte, die zu den fatalen Wegbereitern der Schoa gehört.

Reformatorische Neujustierung

Eine weitere Neu-Entdeckung des Alten Testaments steckt hinter der reformatorischen Neujustierung des Bibelkanons. Martin Luther hat das Alte Testament zugleich christlicher und jüdischer gemacht und damit ein Paradox angelegt. Christlicher wurde es, da er die christologische Perspektive noch einmal verstärkte: In seiner „Vorrede auf das Alte Testament“ (1523) bezeichnet er es als „Windeln und Krippe Christi“, und sein Kriterium dafür, was kanonisch sein soll, ist das bekannte „was Christum treibet“. Jüdischer wurde es in der Begrenzung des Kanons auf jene 39 Bücher, die auch im TaNaK zu finden sind, und im Rückgriff auf den hebräisch-aramäischen Text. Textgrundlage der Arbeit am Alten Testament wurden damit die frühen Drucke der Rabbinerbibel und die großen mittelalterlichen Bibelhandschriften – jeweils Früchte jüdischer Schriftgelehrsamkeit. Es waren die Masoreten, die über Jahrhunderte an der sorgsamen Weitergabe des TaNaK arbeiteten, den ursprünglich reinen Konsonantentext mit Vokalen und Akzenten versahen und ihn damit auch interpretierten, und dafür sorgten, dass der Text mit einer Genauigkeit tradiert wurde, die kulturgeschichtlich einzigartig ist. Auch deshalb basieren die heute gebräuchlichen wissenschaftlichen Textausgaben wie die Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) oder die Biblia Hebraica Quinta (BHQ) auf dem aus dem Jahr 1008 stammenden Codex Petropolitanus (Leningradensis) einer Handschrift des masoretischen Texts.

Wo ist das Paradox? Es lag in Luthers Zuspitzung der christologischen Perspektive und seiner gleichzeitigen Fokussierung auf den Literalsinn. Auch mit diesem Fokus hat er das Alte Testament in gewisser Weise jüdischer gelesen. Auch den überaus sorgfältigen scholastischen Bibelkommentatoren des Mittelalters war es selbstverständlich nicht entgangen, dass ein Prophet Jesaja noch nicht von Jesus Christus reden konnte. Sie suchten daher den eigentlich relevanten – also den christologischen – Gehalt der alttestamentlichen Texte nicht im buchstäblichen, sondern in einem übertragenen, also geistlichen oder allegorischen Sinn. Damit hier nicht jedweder Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet würde, denn man berief sich auf das kirchliche Lehramt als Entscheidungsinstanz. Dem widersprach Luther dezidiert mit dem reformatorischen Schriftprinzip Sola Scriptura: Entscheidend ist der Literalsinn, kein vom Lehramt an den Text herangetragener geistlicher Sinn. Damit rückte er näher an die jüdischen Bibelkommentatoren heran, deren Arbeit von jeher stärker auf den Literalsinn, den pschat, fokussiert war.

Auflösung des Solus Christus

Bei Luther sollte aber dieser Literalsinn nun Christum treiben. Dass sich hier für das Alte Testament ein Spannungsfeld auftat, liegt auf der Hand. Die methodische Textarbeit im Sinne des Sola Scriptura führte auf lange Sicht auch zur Auflösung des Solus Christus als kanonhermeneutisches Prinzip. Nimmt man nämlich den historischen Literalsinn der alttestamentlichen Texte ernst, so reden sie gerade nicht von Christus. Die Konsequenz der reformatorischen Neu-Entdeckung des Alten Testaments war schwerwiegend, sie führte zur Auflösung seiner bis dahin selbstverständlichen, christologisch fundierten Zusammengehörigkeit mit dem Neuen. An dieser Stelle kommt nun jene weitere Neu-Entdeckung ins Spiel, für die die EKD-Studie „Christen und Juden“ steht und die sich aufs engste mit dem jüdisch-christlichen Gespräch verbindet: Das Alte Testament nicht allein vom Neuen Testament her zu lesen, eröffnet den Raum nicht nur für die Wahrnehmung, sondern auch für die Einsicht in die theologische Bedeutsamkeit anders perspektivierter Lesarten. Wie viel Christinnen und Christen von der jüdischen Auslegungstradition auch für das tiefere Verständnis der eigenen Tradition lernen können, hat sich in den vergangenen 50 Jahren nachdrücklich gezeigt. Hier gibt es eine christlich-jüdische Erfolgsgeschichte: von „Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext“ bis zu gemeinsamen Lehrhäusern, Tora-Lernwochen und anderem mehr. Diese Saat ist vielfach aufgegangen, wobei es für die christlichen Partner im Blick zu behalten gilt, dass die Früchte und Lasten häufig ungleich verteilt sind.

Anderes jedoch bleibt eine Herausforderung: Ist es möglich, das Alte Testament als Teil der christlichen Bibel und zugleich als jüdisch-christlich „gemeinsame ‚Schrift‘“ zu lesen? Wir sehen heute klarer, wie es nicht geht: nicht über eine Entkoppelung des Alten Testaments vom Judentum, nicht über eine nur selektive Aufnahme dessen, was zum Neuen Testament passt oder es ergänzt, nicht über seine Degradierung zur Negativfolie oder zum bloßen Hintergrundwissen oder Ähnliches – all dies ist in „Christen und Juden I–III“ klug herausgearbeitet und nachzulesen. Wir suchen und entdecken andere Verbindungslinien, wie jene aus Römer 9–11 abgeleitete: der Kanon als die Geschichte des einen Gottes mit seinem Volk Israel, in die wir Christinnen und Christen mit hineingenommen sind. Wir hören im Gespräch aber auch, dass dieser Gedanke, der aus christlicher Sicht Perspektiven eröffnet, aus jüdischer Sicht durchaus eine Zumutung sein kann. Diese aktuelle Neu-Entdeckung (50 Jahre sind angesichts von 2 000 Jahren Kanongeschichte ja kaum mehr als ein Wimpernschlag) ist also noch längst nicht abgeschlossen, sie ist vielmehr Gegenstand einer noch andauernden Erkundung. Insofern ist es zu wünschen, dass die Frage nach der „gemeinsamen ‚Schrift‘“ auch weiterhin aufflammt und dass „Christen und Juden“, anders als bei den früheren Neu-Entdeckungen, gemeinsam auf der Suche nach Antworten sind. 

 

INFORMATION 
In der nächsten Ausgabe schreibt der Leipziger Praktische Theologe Alexander Deeg über die Problematik des so genannten Israelsonntags.

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Foto: privat

Kristin Weingart

Dr. Kristin Weingart ist Professorin für für Literaturgeschichte des Alten Testaments und Geschichte Israels an der Universität München.

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