
Das erste Jahrzehnt der Hyperdigitalisierung hinterlässt prekäre Demokratien, zerstörte Wirtschaftszweige, erschöpfte Menschen und Seelen. Wie wir das gute Leben in der Digitalität gestalten, lernen wir gerade erst. Eine Grenzziehung von Philipp Greifenstein, Journalist und Gründer des kirchlichen Onlinemagazins „Die Eule“.
Herr Jauch, das ist eine Revolution!“ Die Schauspielerin Petra Zieser kann im Werbefilm für die App einer Online-Apotheke kaum an sich halten, als sie beobachtet, wie Deutschlands beliebtester Moderator mit Hilfe seines Smartphones ein Rezept einlöst: „Ich halt’ doch einfach nur die Karte dran.“ Das vertrauensselige Lächeln Günther Jauchs soll uns zum Mitmachen ermutigen: So schwer ist das mit der Digitalisierung gar nicht! Sie erleichtert uns das Leben und ist für Menschen jeden Alters und Backgrounds zu durchsteigen.
Während des letzten Jahrzehnts hat die Digitalisierung alle unsere Lebensvollzüge drastisch beeinflusst. Wir leben längst jene Digitalität, wie sie Felix Stalder in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ 2016 beschrieben hat. Analoges und digitales Leben sind miteinander verschmolzen. Das erleben wir bei der Bewältigung unseres Alltags, in der politischen Auseinandersetzung, im Wirtschaftsleben und bei der Gestaltung unserer (eigentlich privaten) Beziehungen.
Gefährliche Nebenwirkung
Vor 21 Jahren, 2005, ging Facebook ans Netz, das Zeitalter der Social-Media-Plattformen begann. Seit 2007 ist das iPhone auf dem Markt, heute trägt ein:e jede:r ein Smartphone in der Hosentasche mit sich herum – und hält es sich oft genug vor die Nase. Angesichts unserer Abhängigkeit von digitalen Werkzeugen ist es wohl nicht mehr sachgemäß, analoge und digitale Welt fein säuberlich trennen zu wollen: Wir leben in einer hybriden Welt. Das ist eine Revolution!
Die gefährlichen Nebenwirkungen der digitalisierten Gesellschaft wurden in den vergangenen Jahren gelegentlich alarmistisch, manchmal auch naiv beschwichtigend beschrieben. Es ist sicher nicht sachgemäß, gesellschaftliche, politische und soziale Veränderungen monokausal der Digitalisierung anzulasten. Auch sind nicht alle Veränderungen negativ. Die Auflösung hierarchischer, räumlicher und zeitlicher Grenzen in der Digitalität verspricht neue Freiheiten, die genutzt und gestaltet werden müssen.
Gesellschaftliche Großtrends wie die Vereinzelung von Menschen, die fortschreitende Auflösung traditioneller Gemeinschaftsformen, inklusive des bisherigen kirchlichen Gemeinschaftslebens, die Globalisierung, Transformationen des Wirtschaftslebens, die Beschäftigungsprofile verändern, und die mit alldem einhergehende Verwirrung über Begriffe, die uns eben noch selbstverständlich erschienen (Was ist Arbeit? Was bedeutet Nähe? Was ist überhaupt Handeln?), sind nicht allein der Digitalisierung zuzuschreiben. Wer hofft, diesen und weiteren Problemen durch Digitalabstinenz beikommen zu können, denkt zu kurz und hofft umsonst.
Wer Jugendlichen Smartphones verbieten will oder – als mildere Form der populistischen Digitalisierungskritik – beständig die Einführung eines Schulfachs „Medienethik“ fordert, drückt sich nicht selten vor wirklich sinnvollen und notwendigen politischen Reformen. Bildungsungerechtigkeit wird nicht dadurch abgestellt, dass wir alle Kinder und Jugendlichen vom Netz nehmen. Wer nach den Ursachen rechtsextremer Radikalisierung fragt, wird bei einer Vielzahl von Einflussfaktoren landen. Digitale Medien können Radikalisierungsprozesse ermöglichen und beschleunigen, aber eine Grunddisposition zum Verschwörungsglauben, familiäre Prägungen, Marginalisierungserfahrungen und mangelnde Herzensbildung sind noch bedeutsamer. Eine einseitige Digitalisierungskritik gereicht gerade konservativen politischen Akteur:innen und Profiteur:innen unserer gegenwärtigen Wirtschaftsweise zum Vorteil, weil andere Missstände und Ungerechtigkeiten vollständig aus dem Blick geraten, wenn allein das Smartphone oder Social Media Schuld sein sollen.
Zugleich steht uns im Jahr 2025 deutlich wie nie vor Augen, dass die Versprechen der Digitalisierung (bisher) viel zu selten eingelöst wurden. Eine vernetzte, gemeinschaftliche, hierarchiearme, kooperative und daher demokratisierte Gesellschaft ist durch die ständige Verwendung digitaler Werkzeuge und das Eintauchen in digitale Lebenswelten gerade nicht entstanden.
Das abwägende Betrachten der Digitalität im Schema von „Chancen und Risiken“ bleibt die einzig sinnvolle Weise, sich mit der Digitalisierung und ihren Folgen und Interdependenzen zu weiteren Transformationsprozessen auseinanderzusetzen. Zugleich aber hat das Denken in „Gefahren und Möglichkeiten“ – allzumal in der evangelischen Kirche und Theologie – zu einer weitgehenden Unfähigkeit geführt, missliebigen Folgen der Digitalisierung koordiniert und erfolgreich entgegenzuwirken. Man kann sich auch in der Reflexion verlieren.
Evangelische Ethiker:innen verweisen gerne darauf, es käme doch erst einmal auf das Beobachten und Beschreiben an. Gelegentlich ist man sich auch zu fein, (politische) Handlungsempfehlungen überhaupt zu formulieren. Hier wird eine abständige Beobachterposition konstruiert, die mit der Realität (nicht nur) des Wissenschaftsbetriebs wenig zu tun hat. Wem „die KI“ die Ergebnisse der eigenen Forschungsarbeit unter dem Hintern wegklaut, der ist auch selbst Akteur:in.
Über unser Leben in der Digitalität nachdenklich zu werden, müsste bedeuten, sich die Möglichkeit neu zu erarbeiten, auch einmal kräftig „Nein“ zu Entwicklungen der Digitalisierung sagen zu können – und sei es nur, um die Verheißungen der Digitalität gegen die real existierende Digitalisierung in Schutz zu nehmen. Dafür ist es definitiv noch nicht zu spät! Wir sind alle noch Digitalisierungs-Teenager! Wer die Digitalisierung für eine unabwendbare, sich stets beschleunigende Naturgewalt hält, hat sich von der Propaganda des Silicon Valley einnebeln lassen.
Heute benutzen Menschen jeden Lebensalters digitale Endgeräte, verbinden sich auch Senior:innen mittels Messenger-Gruppen mit ihren Familien, erledigen ihre Bankgeschäfte online – oder lösen Rezepte per App ein. Doch eine noch tiefere „Immersion“ (Einbettung) versprechende Geräte wie „Virtual-“ beziehungsweise „Augmented-Reality-Brillen“ oder das „Metaversum“ sind (nicht zuletzt wirtschaftliche) Rohrkrepierer. Eine „Smartwatch“ mögen einige Zeitgenoss:innen noch zum Schrittezählen nutzen, aber damit telefonieren? Und die gesammelten Gesundheitsdaten direkt an Ärzte und Krankenkassen überspielen? Davor schrecken die allermeisten Nutzer:innen zurück.
Die Digitalisierung ist sicher nicht an ihr Ende gekommen, aber die nächste Stufe der Revolution lässt auf sich warten. In Ermangelung neuer Ideen und Wertschöpfungsmöglichkeiten hat sich das Silicon Valley – und in seinem Gefolge die ganze Welt – in den vergangenen drei Jahren auf einen unfassbaren „KI-Trip“ begeben. Bis heute haben sich für LLMs (Large Language Models) und ihre Geschwister für die Bild- und Videobearbeitung, die sogenannte „generative Künstliche Intelligenz“, keine ausreichenden oder gar innovativen Erlösmodelle aufgetan. Die gesamte Branche lebt nur von Risikokapital. Der Entzug wird sehr kalt.
Bis es so weit ist, verschlimmert „KI“ bereits vorfindliche Probleme der Digitalisierung: Der Diebstahl geistigen Eigentums zum Zwecke des Trainings der Rechenmodelle wird als heroischer Dienst an der Menschheit verklärt. Die durch das gierige Agieren ihrer Betreiber ohnehin bereits fast unbrauchbaren Social-Media-Plattformen (Enshittification) werden auch noch mit KI-Schrott (AI-slop) überschwemmt. Menschen, die in Kreativbranchen, Journalismus und Wissenschaft tätig sind, werden noch effektiver ausgebeutet. Von Datensparsamkeit, Klima- und Umweltsensibilität kann sowieso keine Rede sein.
Nicht zuletzt wird unsere Empfindsamkeit für eine gemeinsame, geteilte Realität erneut auf die Probe gestellt. Es ist kein Zufall, dass die faschistoiden Populisten unserer Tage von „der KI“ begeistert sind. Der „KI“-Hype zeigt im Extrem, wie die Digitalisierung den Gewinnerzielungsinteressen der ohnehin schon Privilegierten und Mächtigen dient, während ihre negativen Folgen von uns allen getragen werden. Man wünscht sich eine:n Europäer:in, die jetzt aufsteht und sagt: „I am not convinced!“
Konsequente Regulierung
Wie können wir in dieser Phase der digitalen Revolution gutes Leben für alle gestalten? Zunächst einmal gehört dazu, das konsequente „Nein“-Sagen überhaupt wieder in den Möglichkeitsraum des eigenen Denkens und Handelns zu rücken. Das bedeutet, sich zur Hoffnung aufzuraffen, dass Digitalisierung gesteuert, Wirtschaftszweige und nicht zuletzt auch Rüstung reguliert und unser persönliches Nutzungsverhalten geübter werden können. Es geht also um persönliche, gemeinschaftliche und politische Aktion, die sich stärker an den eigenen Überzeugungen orientiert als am nächsten Hype. Christ:innen und Kirchen haben dazu eigene Traditionsbestände im Gepäck. Warum sollten Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung bei der Gestaltung der Digitalität ad acta gelegt werden? Ist die hybride Welt etwa jenseits christlicher Hoffnung?
Politisch sollten sich die Kirchen in Zusammenarbeit mit weiteren Akteur:innen der digitalen Zivilgesellschaft weiterhin für eine menschenwürdige Digitalisierung einsetzen, vor allem für eine konsequente Regulierung auf europäischer Ebene. Im Zentrum müssen die Rechte von Endkonsument:innen und Erzeuger:innen sowie das Wohlergehen unserer demokratischen Rechtsstaaten stehen, nicht die Gewinnerzielungsinteressen von Digitalkonzernen.
Zu einem gedeihlichen politisch-gemeinschaftlichen Leben können Kirchen und Christ:innen auch durch ihr lokales Engagement beitragen: Wo schaffen Menschen gemeinsam etwas? Während der Coronapandemie haben wir beobachten können, wie manchenorts die Chancen für eine wirkliche hybride Vergemeinschaftung ergriffen wurden. Zugleich haben wir gesehen, dass sich längst nicht alles digitalisieren lässt – das gemeinsame Singen und Musizieren zum Beispiel.
Kirchen und Christ:innen sollen digitale Werkzeuge zur Bereitstellung und Organisation vielfältiger glaubenskommunikativer Anlässe nutzen, die sich sowohl analog als auch digital ereignen können. Wie bekomme ich eigentlich als Otto Normalbürger:in Wind von der Sache, zum Beispiel von den Proben der Kantorei oder des Gospelchores? Damit leisten Kirchen auch einen wichtigen Beitrag in einer Gesellschaft, die zunehmend durch Vereinzelung geprägt ist – mit allen Konsequenzen, die diese auch für die Demokratie mit sich bringt.
Digitale Pfade müssen nicht zwingend ins Analoge führen. In einer Kirche in der hybriden Welt geht es um andere Kriterien, die für analoge wie digitale Formate gleichermaßen gelten: Eine möglichst hohe Qualität kirchlichen Handelns und das Hineinführen in eine vertiefte Auseinandersetzung und Begegnung. Den Vorzug sollten hierbei digitale Werkzeuge erhalten, die christlichen Überzeugungen vom guten Leben entsprechen: Open-Source-Lösungen; dezentrale, plattformunabhängige Verbreitungskanäle; regionale und lokale, in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Partnern ermöglichte Infrastrukturen. Und nicht zuletzt im Sinne der „Zeitenwende 2.0“: europäische Produkte.
Selbst für das persönliche Nutzungsverhalten und darum mittelbar auch für die Gestaltung pädagogischer Prozesse in Familie, Gemeinde und Schule hält die christliche Tradition nützliche Wegweiser parat, angefangen bei der Jahreslosung: „Prüfet alles, das Gute behaltet!“ Wir können und sollten miteinander darüber nachdenken, was ein selbstbestimmtes gutes Leben in der Digitalität ausmacht. Was heißt eigentlich „sich nah sein“? Was bedeutet, schöpferisch tätig zu werden? In all diese Diskurse haben evangelische Christ:innen eigene Traditionsbestände einzubringen, die weit über medienethische Wegweisungen hinausgehen.
Digital Detox als inzwischen weit verbreitete Fastenpraxis deutet darauf hin, dass viele Menschen ihr eigenes digitales Nutzungsverhalten durchaus selbstkritisch als problematisch empfinden. In der hybriden Welt müssen wir das Maßhalten neu lernen. Dabei sind wir Erwachsenen als Vorbilder gefordert! Omas und Opas, Vatis und Muttis: Hört damit auf, auf eure Smartphones zu starren! Lasst uns lieber eine Runde „Uno-Flip!“ spielen.
Literatur
Philipp Greifenstein/Hanno Terbuyken: Vernetzt und zugewandt – digitale Gemeinde gestalten. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2024, 208 Seiten, EUR 24,–.
Philipp Greifenstein
Philipp Greifenstein ist freier Journalist sowie Gründer und Redakteur des Magazins für Kirche, Politik und Kultur „Die Eule“: https://eulemagazin.de