Von der Grenze her denken

Ein theologischer Essay über das Leben und Glauben am Rande
Grenzblickfenster im Saargau-Dörfchen Leidingen, durch den die deutsch-französische Grenze verläuft.
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Grenzblickfenster im Saargau-Dörfchen Leidingen, durch den die deutsch-französische Grenze verläuft.

Wer glaubt und mit Gott lebt, führt ein Leben angesichts und entlang einer Grenze, die oft erst im Nachhinein greifbar wird. Was das für die Theologie bedeutet, erläutert Hartmut von Sass, Professor für Systematische Theologie an der Universität Hamburg.

Die herkömmliche Vorstellung vom Duett zwischen Gott und Grenze ist so gängig wie zwiespältig: Religion stelle ein Grenzphänomen dar, während jener Gott, der selbst kein Phänomen sei, „jenseits“ der Grenze existiere – also „hinter“ den Grenzen der Sprache, des Verstehens, des Erkennens. Der Rest würde dann theologisch schon recht umweglos folgen. Im vorliegenden Text wird für eine etwas andere Sicht der Dinge geworben; denn wie gesagt: Dieses beliebte Bild mündet in Probleme, die man besser umschifft.

Nun gibt es Praktiken, die darauf angelegt sind, „an die Grenze“ zu gehen. Sie lassen aus ihren Teilnehmenden Grenzgänger werden. Sport und Kunst wären prominente Kandidat:innen, ebenso die Theologie. Sie stellt ja selbst so etwas wie eine halbwegs methodisch geregelte Grenzüberschreitung dar. Die Einsicht in ihre eigene Unmöglichkeit gehört deshalb zu den wesentlichen Bedingungen des Faches. Ihr Gegenstand – der Glaube an Gott – führt notwendig an überaus delikate Grenzen. Statt allerdings diese Bewegung nochmals mitzuvollziehen, um sich einer Grenze gleichsam asymptotisch zu nähern, werden wir hier die genau umgekehrte Richtung einschlagen. Wie denkt es sich theologisch von der Grenze her? Es wäre also nicht da capo, sondern de fine zu denken. Es folgt demnach etwas ganz Definitorisches!

Beginnen wir zunächst untheologisch von Grenzen zu sprechen, konfrontiert mit ihrer dicht besiedelten semantischen Nachbarschaft. Denn offensichtlich gibt es verwandte Begriffe, die Überlappungen aufweisen, ohne mit der „Grenze“ identisch zu sein. Oft spricht man auch von „Schwellen“, um Phänomene größerer Plastizität zu bezeichnen. So sind Praktiken, mit denen Grenzen als Übergänge durchzogen werden, als Schwellen oder als rites de passage terminologisch erfasst worden. Hier geht es im Kontrast zum Limit oder zu einer Abgrenzung nicht um eine Form des Unüberwindlichen, sondern gerade darum, wie man von der einen zur anderen Seite gelangt – und was bei dieser „kleinen Transzendenz“ geschieht.

Mit dem Tabu wiederum ist ein moralisch oder religiös aufgeladener Bereich im Blick, der abgegrenzt ist und als nicht anzutasten gilt. Das lässt die Überschreitung einer nicht ganz gesicherten Grenze umso verlockender erscheinen. Man kann das eine haben, ohne das andere lassen zu müssen, indem man sich in die Nähe des Tabuisierten begibt, ohne die meist unsichtbare Grenze übertreten zu müssen. Dann aber führt man eine marginale, nicht selten gar marginalisierte Existenz. Man begibt sich an den Rand, das Periphere, das gewollt Nicht-Zentrale. Es ist nicht ausgemacht, dass die Perspektive von dort – from the margins – ungünstiger sein müsste.

Etwas weniger abstrakt wird es, wenn wir uns klarmachen, wo Grenzen vorkommen und wie dauerbegrenzt unsere Existenz eigentlich ist. Dabei lauert im Hintergrund oft der Verdacht, der Urzustand des Menschen sei unbegrenzt gewesen, sodass die Idee der Grenze – etwa unseres Eigentums – erst dadurch zustande kam, dass jemand einen Pflock in den Boden gehauen hat, wie einst Rousseau behauptete. Der biblische Mythos optiert hier offenbar anders, die von Gott gesetzte Grenze war schon immer Existenz bestimmend. Der weitere Verlauf der Menschheit müsste sich nun gerade aus dem Sündenfall als einer fundamentalen Grenzverletzung ergeben (Genesis 3).

Ausweis von Autorität

Das deutet schon auf die unterschiedlichen Arten der Grenze. Die von Gott bestimmte Grenze gilt wohl kaum als temporär, sondern sogar als „ewiglich“. Ob wir es hier mit einer artifiziell gesetzten und gegebenenfalls veränderbaren, gar auszuhandelnden oder eben einer „natürlichen“ Grenze zu tun haben, wäre selbst nochmals theologisch zu ermitteln. Hier schimmert bereits die Alternative zwischen der Grenze als einer sichtbaren oder ideellen Institution und der Praxis des Begrenzens oder der Ent-Grenzung durch. Es kommt dann darauf an, wer mit Macht ausgestatteter Autor und wer Adressat jener Grenze ist, der dieser Macht unterlegen bleibt.

Grenzen zu setzen oder bestehende ignorieren zu können, ist ein Ausweis von Autorität, zuweilen von Souveränität. Damit sind stets Fragen der Inklusion und des Ausschlusses auf dem Plan, denn nicht allen ist es gewährt oder möglich, sich innerhalb der Grenzen zu bewegen oder aber diese Grenzziehung ohne größere Konsequenzen übergehen zu können. Souverän ist, wer sich zur Grenze in Gelassenheit verhalten kann.

Ein interessanter Fall im Zwischenbereich von Selbstbestimmung und Fremdeinwirkung ist die Selbstbegrenzung. Sich selbst Grenzen zu setzen, lebt gerade von der Möglichkeit, es nicht tun zu müssen. Wir haben es also mit einem Exemplar von Autonomie zu tun, zuweilen in Bedrängnis (wenn das Geld nicht mehr reicht, legt sich der Verzicht nahe) oder aber in gänzlicher Freiheit (wenn der Besitz zur Last wird, ziehen manche die Reduktion vor).

Delikater sind aber die externen Grenzen – solche also, die nicht wir gesetzt haben und zunächst anzuerkennen sind, selbst wenn sie stören, wehtun, belasten. Es bleiben dann nur zwei grundsätzliche Optionen: akzeptieren oder ankämpfen. Und dieser Kampf kann wiederum unterschiedliche Facetten annehmen: vom Bestreiten als impliziter Ignoranz bis zur produktiven Verschiebung der Grenzen. Dazwischen liegen ganz verschiedene Reaktionen: vom Unterdrücktsein durch fremde Begrenzung in Ohnmacht trotz Unrecht über ein stoisches Annehmen bis zur „Politik der kleinen Schritte“ innerhalb der „Grenzen der bloßen Vernunft“.

Bevor man sich aber zur Grenze verhalten kann, müsste sie erst einmal bestimmbar sein. Oft sind Grenzen einfach sichtbar als ein Gegen-Stand. Zuweilen aber werden Grenzen erst greifbar, wenn man sich zu ihnen verhält. „Die Grenzen auszutesten“, wie man so sagt, ist solch eine Visibilisierung der Grenze durch testendes, auch tastendes Verhalten zu ihr. Bleibt man also im Rahmen des Erlaubten oder überhaupt Möglichen, nähert man sich der Grenze von einer bestimmten Seite, zumal die andere zum unbetretbaren Ort geworden ist. Häufig aber liegen die Dinge weit verworrener, sodass die Grenze gar nicht feststeht, erst im Experiment sich abzeichnet und also erst rekursiv feststellbar ist. Bis wohin Regeln, Gesetze, Bestimmungen, Bedeutung oder Sinn reichen, ist nicht immer ausgemacht und müsste erst einmal ausprobiert werden. Das Leben ist leider kein Fußballspiel, eher ein Experiment, das zuweilen sogar glückt.

In dieser Hinsicht sind „Grenzerfahrungen“ gar nicht die sagenhafte Ausnahme, sondern der gängige Standard. Nimmt man dabei die Grenze nicht einfach hin, könnte man versuchen, sie zu beugen, ohne sie zu brechen (wie Gene Hackman in dem Film Die Firma einmal treffend sagt); oder man überschreitet sie tatsächlich, sei es legal, sei es auf Verheißung hin oder eben durch Verschiebung der Grenze nach ausgiebigem Training. Von hier aus ließe sich eine kleine Emotionslehre entfalten, mit der bestimmte Gefühle beiden oben unterschiedenen Haltungen zuzuordnen wären: dem Hinnehmen der Grenze entspräche Demut und Zufriedenheit, während die Kritik der Grenze mit Ärger und Empörung, aber auch mit (Über)Mut, Aufregung oder Hoffnung einherginge.

Was hat das alles mit Glaube, Gott und Religion zu tun? Wir sind längst mittendrin im Thema, weil alle entwickelten Unterscheidungen hier nochmals ihren eigentümlichen Auftritt haben. Das theologisch gewöhnliche Verfahren ist das der Annäherung an die Grenze. Religion und ihre Vollzüge gelten dann als Grenzphänomene, sodass von vorfindlichen Gegebenheiten wie dem Ende des Lebens oder den limitierten Vermögen der Menschen auf eine allgemeine religiöse Dimension der Existenz geschlossen wird. Religion ist dann höchstens der Verstärker genereller Vorgänge angesichts der Begrenztheit des Lebens. Das hat den Vorteil, dass ein (angeblich) religiöses Element schon überall vorkommt. Es hat aber das Problem, dass jenes Element gerade durch seine Allgemeinheit kaum mehr als spezifisch religiöses verständlich zu machen ist. Die Grenze führt hier nirgends zu Gott, sondern zurück zum mehr oder weniger limitierten Erdenbewohner.

Grenze als Einsicht

Die theologische Gegenreaktion darauf nimmt an, dass dieser „kleine Grenzverkehr“ mit dem Menschen als Akteur zu ersetzen ist durch Gott als absolute Transzendenz. Damit ist seine übernatürliche und gerade nicht geschaffene Unerreichbarkeit benannt, sodass der Übertritt dieser zwar austestbaren, aber nie und nimmer verschiebbaren Grenze allein von göttlicher Seite zu erfolgen hätte. Für diese souveräne Bewegung sind unterschiedliche Großkonzepte im Umlauf: Offenbarung des Vaters, Inkarnation des Sohnes oder das Einwohnen des Geistes in der Welt. Bei allen Differenzen dieser Programme ist ihnen eines gemeinsam: Nicht der Sünder, sondern der Erlöser vermag allein die Grenze zwischen ihnen zu überschreiten.

Beide Richtungen – sagen wir recht grob: „von unten“ versus „von oben“ – teilen noch die Ansicht, Gott liege „jenseits“ der Grenze, sodass der Theologie ein supranaturaler Affekt eingeschrieben wäre. Nur, wie und von welcher Seite aus diese Demarkation transzendiert werden könnte, führt dann zu den unterschiedlichen Ansichten sich bekämpfender Programme der Dogmatik.

„Von der Grenze aus“ zu denken, setzt ganz anders an. Hier nähert man sich nicht einer künstlichen oder schon immer bestehenden Grenze. Vielmehr sind die Grenze und das Anerkennen dieser Markierung bereits coram Deo mitgesetzt. Die Grenze als Einsicht in die eigene Begrenztheit ist demnach fundamentaler Bestandteil dessen, was den Glauben ausmacht. Wie zu diesem Glauben Liebe, Vertrauen und Hoffnung gehören, so auch das „religiöse Bewusstsein“, wesentlich begrenzt zu sein: Man verdankt sich nicht selbst; in den Vermögen ist man limitiert; als Sünder hätte man sich zu verstehen, ohne sich jemals davon selbst befreien zu können; angewiesen ist man auf den anderen, der im Glauben bei aller Ferne der Nächste wird. Dann aber ist die Grenze nichts, das angesichts von epistemischen, hermeneutischen oder sprachlichen Hindernissen erst noch überwunden werden könnte. Im Gegenteil, das nicht zu Überwindende wäre anzuerkennen, weil hier nichts räumlich oder zeitlich zu verschieben ist.

Offenbar handelt es sich nicht einfach um bloße Steigerung nur allgemeiner Erfahrungen, die man ohne Glaube genauso gut (oder schlecht) machen könnte. Nehmen wir zwei konkrete Beispiele: Sünde etwa bezeichnet keine Schuld, die verziehen werden könnte, sondern ein Selbstverständnis, das allein auf Gottes Vergebung hoffen könnte. Ohne diesen Glauben, in dem Gott am Menschen vergebend (und nicht nur verzeihend) handelt, gibt es überhaupt gar keine Sünde. Erst mit der Sicht des Glaubens auf alles ist sie gleichsam mitgesetzt. Schafft der Glaube also die Probleme, von denen er zugleich behauptet, nur mit ihm wären sie lösbar? Ja, ganz genauso ist es! Aber das ist kein bedauerlicher Zirkel, sondern einer, in den es im Glauben hinzukommen gilt.

Oder nehmen wir das Sprachspiel der Schöpfung: Alles, was uns umgibt und wozu wir selbst unweigerlich gehören, als Gottes (gute?) Schöpfung zu verstehen und zu erleben, ist offenbar nichts, was den Dingen einfach so ablesbar wäre. Erst mit dem oculus fidei (dem „Auge des Glaubens“, wie die altprotestantische Tradition sagte) wird alles zur Schöpfung; und wer in Gottes Gegenwart lebt, für den ist alles Element ebendieser alles umfassenden Schöpfung geworden – all inclusive, sozusagen. Damit ist eine Grenze gesetzt – des Handelns, Eingreifens, des Benutzens, Ausbeutens –, die nicht bedrängt, sondern schützt und im Handeln anleitet und orientieren kann. In beiden Fällen – nehmen wir nochmals obige Unterscheidungen auf – handelt es sich weder um eine „natürliche“ noch um eine künstlich gesetzte Grenze. Vielmehr haben wir es mit einem Implikat des Glaubens zu tun, sodass von einer impliziten Markierung zu sprechen wäre. Wer glaubt und mit Gott lebt, führt das Leben angesichts und entlang dieser Grenze, die oft erst im Handeln und also Nachhinein greifbar wird.

Alle „Symbole des Christentums“ – Schöpfung, Sündenfall, Exodus, Auferstehung, Reich Gottes – sind lebendiger Ausdruck einer nicht immer lebendigen Erinnerung daran, de fine zu denken, zu empfinden, mit anderen und sich zu leben. Und die Hoffnung des Glaubens an und auf der Grenze bestünde darin, dass diese Anerkennung letzter Grenzen unbedingt befreiend wirkt, dass also das Annehmen unserer Grenzwertigkeiten zu neuem Leben und Handeln befähigt und uns gelassener, gar souveräner werden lässt. Was das konkret heißen könnte? Vielleicht schafft der so entgrenzte Glaube zunächst einmal einen Raum, um dies überhaupt aushandeln, herausfinden, ausprobieren zu können? Genau hier wäre der Ort der Kirchen!

Kleine Emotionslehre

Auch hier könnte sich nun eine kleine Emotionslehre im Namen der Theologie anschließen. Wie etwa der Schöpfung das Gefühl des Dankes zugeordnet werden mag, so der mit dem Glauben mitgesetzten Grenze die Emotion der Demut. Und kann diese Grenze entlasten, orientieren, befreien, mag sich die Freude des Glaubens einstellen. Eine dementsprechende Theologie hält sich folglich am Rand, den Marginalien auf, indem sie mit Analogien, Metaphern und Gleichnissen von der Grenze her denkt. Auf diese Weise versucht sie zu sprechen, ohne „jenseits“ theologischer Grenzbegriffe agieren zu müssen. Gott liegt nicht „hinter“ einer Grenze. Gott ist die Grenze! Eben darin liegt das Definitorische der Theologie. 

 

Literatur
Thomas Nail (Hg.): Theory of the Border. OUP, Oxford 2016. 

Jürgen van Oorschot: Gott als Grenze. Eine literar- und redaktionsgeschichtliche Studie zu den Gottesreden des Hiobbuches (BZAW 187). De Gruyter, Berlin/New York 1987.

Paul Tillich: Religiöse Verwirklichung. Furche-Verlag, 
Berlin 1930.

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