Die Suche nach der Weltformel

Die Naturwissenschaft hat immer wieder die Grenzen des Wissens erweitert. Eine grundsätzliche Grenze ist dabei nicht in Sicht, meint der Physiker und Autor Jörg Resag. Die Frage aber ist: Verstehen wir auch in Zukunft, was wir wissen werden?
"Ignoramus et ignorabimus – wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen.“ Diesen Grundsatz verkündete der Physiologe Emil Heinrich Du Bois-Reymond im Jahr 1872 in seinem vielbeachteten Vortrag Über die Grenzen des Naturerkennens. Es sei unmöglich, jemals das Rätsel zu lösen, was Materie und Kraft wirklich sind. Erst recht würden wir niemals verstehen, wie Atome zu denken vermögen. Denn welche denkbare Verbindung könne es zwischen den Bewegungen der Atome in unserem Gehirn und Empfindungen wie Schmerz, Lust oder dem Duft von Rosen geben?
Die Ansichten von Du Bois-Reymond beruhen auf einem damals weitverbreiteten Verständnis, was Naturwissenschaft sei. Es ginge darum, die Natur als das Wechselspiel unzähliger Atome aufzufassen, deren Mechanik alles bestimmt. Ein allwissender Dämon, dem die aktuellen Positionen und Bewegungen aller Atome genauestens bekannt sind, sei mithilfe der mechanischen Bewegungsgesetze in der Lage, die Zukunft vorherzusagen und auch die Vergangenheit zu rekonstruieren. „Nichts wäre für ihn ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen klar vor seinen Augen“, sagte der französische Gelehrte Pierre-Simon Laplace bereits im Jahr 1814 – er hatte diesen Laplaceschen Dämon ersonnen.
Der Dämon verfügt über eine mechanische Weltformel aller Atome, die nichts Naturwissenschaftliches unbeantwortet lässt. Doch so mächtig dieser Dämon auch sei, er kann laut Du Bois-Reymond weder erklären, was Bewusstsein ist, noch wie Materie ihre Eigenschaften erwirbt. Punktförmige Atome könnten schließlich kein Materievolumen erschaffen. Und wenn Atome nicht punktförmig seien, sondern winzige elastische Kugeln mit einer gewissen Ausdehnung, was erklärt dann ihre Größe oder ihre Elastizität? Was geschieht, wenn wir eine solche Atom-Kugel in der Mitte durchschneiden? „Alle Fortschritte der Naturwissenschaft haben nichts dawider vermocht, alle ferneren werden dawider nichts fruchten“, behauptet Du Bois-Reymond. Ignorabimus! Mit seiner Meinung lehnte sich Du Bois-Reymond aus heutiger Sicht weit aus dem Fenster. Sie entsprach dem damals weit verbreiteten mechanistischen Weltbild. Mit der Zeit mehrten sich jedoch auch kritische Stimmen. So widersprach der berühmte Mathematiker David Hilbert im Jahr 1930 deutlich mit den Worten: „Wir dürfen nicht denen glauben, die heute mit philosophischer Miene und überlegenem Tone den Kulturuntergang prophezeien und sich in dem Ignorabimus gefallen. Für uns gibt es kein Ignorabimus, und meiner Meinung nach auch für die Naturwissenschaft überhaupt nicht. Statt des törichten Ignorabimus heiße im Gegenteil unsere Losung: Wir müssen wissen! Wir werden wissen!“
Hilberts Optimismus können wir gut verstehen, wenn wir an die enormen Erfolge denken, die der Naturwissenschaft in den sechs Jahrzehnten seit dem Vortrag von Du Bois-Reymond gelungen waren. Albert Einstein hatte zwischen 1905 und 1916 in seiner speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie herausgefunden, wie Raum und Zeit zu einer gemeinsamen Raumzeit verschmelzen, in der sich nichts schneller als das Licht bewegen kann. Materie kann die Raumzeit krümmen und ruft so die Gravitation hervor. Physiker wie Ernest Rutherford und andere hatten um 1910 herausgefunden, dass Atome aus einem winzigen massiven Atomkern im Zentrum und darum herumschwirrende punktförmige Elektronen in der Atomhülle bestehen.
Um 1925 erkannte man durch die Entwicklung der Quantenmechanik, wie sich die Elektronen in der Atomhülle bewegen. Anders als bis dahin angenommen kreisen sie nicht wie Planeten um den Atomkern, sondern es gibt eine Elektronenwelle, die im elektrischen Anziehungsfeld des Atomkerns schwingt, analog zu einer schwingenden Gitarrensaite. Besonders diese Erkenntnis, dass Elektronen und letztlich alle Teilchen zugleich auch Wellen sind, hat unser Naturverständnis nachhaltig verändert.
Heute können wir mithilfe der Quantenmechanik sehr gut erklären, wie Atome ihre Größe und ihre Eigenschaften erhalten und wie sie sich zu Materie zusammenfinden. Es bedurfte also lediglich neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, um das scheinbar ewig unlösbare Rätsel der Materie zu knacken.
Komplexes Gesamtwerk
Wie sieht es mit der Behauptung aus, wir würden niemals verstehen, wie Atome zu denken oder zu fühlen vermögen? Auf den ersten Blick hat Du Bois-Reymond Recht, denn die Bewegungen einzelner Atome in unserem Gehirn verraten uns tatsächlich nichts darüber, was wir gerade denken. Um die Funktionsweise des Gehirns verstehen zu können, müssen wir uns von der atomistischen Beschreibungsebene lösen. Den Grund erkennen wir, wenn wir uns den Aufbau des Gehirns näher anschauen. In unserem Gehirn befinden sich rund 86 Milliarden Neuronen, von denen jedes Einzelne mit gut 1 000 anderen Neuronen verknüpft ist. Das ergibt ein unglaublich komplexes neuronales Netzwerk mit rund 100 Billionen Verknüpfungen. Ein einzelnes Neuron in unserem Gehirn hat keine Ahnung davon, wer wir sind, das gesamte Netzwerk dagegen schon.
Das Gehirn zeigt auf wunderbare Weise, was geschieht, wenn sich sehr viele relativ einfache Bausteine zu einem komplexen Gesamtwerk miteinander verbinden. Es treten emergente Phänomene auf, die sich nur durch das Zusammenspiel der Bausteine beschreiben lassen. Es sind die komplexen Muster der Neuronenaktivität in unserem Gehirn, die uns denken und fühlen lassen. Zerstören wir diese komplexen Muster, beispielsweise durch ein Narkosemittel wie Propofol, so sinken wir in tiefe Bewusstlosigkeit.
Kann die Naturwissenschaft hier etwas ausrichten? Die Antwort ist ein eindeutiges „Ja“! Wir können die neuronalen Aktivitätsmuster vermessen und analysieren, ohne das Verhalten jedes einzelnen Atoms kennen zu müssen. Wir können herausfinden, welches Muster sich einstellt, wenn wir den Duft von Rosen wahrnehmen. Wie sich dieser Duft für uns „anfühlt“, können wir allerdings nur aus unserem eigenen Erleben heraus beurteilen. So haben wir auch keine Ahnung davon, wie es sich anfühlt, die Welt in vier statt nur drei Grundfarben zu sehen. Die meisten Vögel sind dazu sehr wohl in der Lage, da sie vier verschiedene Farbrezeptoren in ihrer Netzhaut haben. Es hätte wohl keinen Zweck, wollte ein Vogel uns die Farbigkeit seiner Welt nahebringen.
Bei komplexen Systemen ist das Ganze also mehr als die Summe seiner Teile. Das bedeutet aber nicht, dass in unserem Gehirn mehr vorhanden ist als nur Atome. „A physicist is just an atom‘s way of looking at itself”, hat der große dänische Physiker Niels Bohr einmal gesagt. Auch unser Gehirn basiert letztlich auf Physik und Chemie. Nur so ist es möglich, dass eine einfache Chemikalie wie Propofol es schafft, unser Bewusstsein auszuschalten.
Der wissenschaftliche Fortschritt konnte die scheinbar unüberwindlichen Grenzen von Du Bois-Reymond also durchaus überwinden. Hilbert scheint Recht zu haben, wenn er dem Ignorabimus entschlossen entgegnet: „Wir müssen wissen! Wir werden wissen!“
Ob dieser Optimismus für alle Zeiten gerechtfertigt bleibt, ist heute schwer zu sagen. Bisher hat sich die Naturwissenschaft jedenfalls als sehr erfolgreich erwiesen. Wir wissen heute, wie Quantenwellen Atome formen, wie Elementarteilchen aus Energie erschaffen werden können, und wir können sogar bis wenige Sekundenbruchteile an den Urknall heran zurückrechnen, wie sich unser Universum entwickelt haben muss.
Zwei grundlegende physikalische Theorien sind es, die uns das ermöglichen. Auf der einen Seite haben wir Einsteins Relativitätstheorie. Sie zeigt uns, wie Raum, Zeit und Gravitation zusammenhängen und wie sie die großräumige Struktur und Entwicklung unseres Universums bestimmen. Auf der anderen Seite verfügen wir seit den 1970er-Jahren über das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik, mit dem wir bisher alles erklären können, was Atome und Teilchen nach den Regeln der Quantenmechanik zu tun vermögen. Doch noch sind viele Fragen offen. Wir haben keine Ahnung, warum ein Elektron ausgerechnet die Masse hat, die wir in der Natur vorfinden. Wir wissen nicht, woraus die sogenannte dunkle Materie besteht, die in riesigen unsichtbaren Schwaden durch unsere Galaxien wabert und sich alleine durch ihre Gravitation bemerkbar macht. Ebenso ist unbekannt, was die dunkle Energie sein soll, die den leeren Raum wie ein Äther lückenlos zu durchdringen scheint und die mit ihrer abstoßenden Gravitation unser Universum immer schneller expandieren lässt. Und auch von einer einheitlichen Weltformel sind wir weit entfernt, denn die Relativitätstheorie der Gravitation und die Quantenmechanik der Atome und Teilchen passen nicht gut zusammen. Diese beiden Grundpfeiler miteinander zu vereinen ist eine der Hauptaufgaben der modernen theoretischen Physik.
Von den Sinnen entfernt
Eine grundsätzliche Grenze ist dabei nicht in Sicht. Aber ein anderes Phänomen beginnt zunehmend, den weiteren Fortschritt zu behindern. Es wird zumindest in der Physik immer mühsamer, noch entscheidende Fortschritte zu erzielen. Unsere grundlegenden Theorien sind mittlerweile so gut geworden, dass wir bis auf wenige Ausnahmen (Stichwort dunkle Materie und dunkle Energie) nahezu alles Messbare mit ihnen beschreiben können. Das gilt für astronomische Beobachtungen ebenso wie für die Experimente, die wir an den großen Teilchenbeschleunigern wie dem Large Hadron Collider (LHC) bei Genf durchführen können. Mit großem Aufwand suchen wir mit immer größeren Teleskopen und neuen Großbeschleunigern nach dem Unbekannten, das uns weiterbringen könnte.
Am LHC war es ein großer Erfolg, als im Jahr 2012 das bereits fünf Jahrzehnte zuvor vorhergesagte Higgs-Teilchen nachgewiesen werden konnte. Damit hatte man den letzten noch fehlenden Baustein im Standardmodell der Teilchen endlich gefunden. Aber bei der Suche nach neuen unbekannten Teilchen, aus denen beispielsweise die dunkle Materie bestehen könnte, blieb man bisher erfolglos. Rufe nach einem noch größeren Beschleuniger, an dem das vielleicht gelingen könnte, werden laut. Erste Planungen für einen Future Circular Collider (FCC) laufen bereits. Mit 90 km Ringumfang wäre er mehr als dreimal so groß wie der LHC (27 km Ringumfang). Aber sind wir noch bereit, viele Milliarden Euro in den Bau einer solchen Riesen-Maschine zu investieren?
Neben dieser eher praktischen Grenze des Machbaren gibt es noch eine andere, auf die bereits Max Planck, einer der Wegbereiter der Quantenmechanik, im Jahr 1941 in seinem Vortrag Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft hinwies. Wenn wir nach den Grundlagen unseres Naturerkennens fragen, liegen diese zuallererst in dem, „was wir selber an unserem eigenen Leibe erfahren“. Wir sehen, hören und fühlen die Welt um uns herum und formen so in unserer Vorstellung ein Bild von der Realität, die uns umgibt.
Mit den modernen Messinstrumenten erweitern wir dann die begrenzten Möglichkeiten unserer Sinne und versuchen zugleich, „Ordnung und Gesetzlichkeit hineinzubringen“ in die vielfältigen Messergebnisse, wobei wir uns die ausgefeilten Methoden der Mathematik zu Nutze machen. So entsteht Schritt für Schritt eine naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt, die sich immer weiter von unserer ursprünglichen Sinneswelt entfernt.
Als Grenzfall ist diese Sinneswelt zwar immer noch Teil des naturwissenschaftlichen Weltbildes, doch letzteres geht weit über die Welt unseres unmittelbaren Erlebens hinaus. Denn es muss ja auch all das umfassen, was wir zwar messen, aber nicht mehr direkt sehen oder fühlen können. Die abstrakten Begriffe, die wir dabei formen müssen, sind mathematischer Natur und unserer Anschauung oft kaum noch zugänglich. Wer kann sich schon eine Welt vorstellen, die aus unzähligen eng miteinander verflochtenen und verschränkten Quantenwellen besteht, aus denen sich unsere Sinneswelt in einem komplizierten, noch nicht gut verstandenen Prozess erst herausschälen muss?
Max Planck schreibt, dass wir angesichts dieser Abstraktheit niemals imstande sein werden, das Wesen der Welt vollständig zu begreifen. Die „metaphysisch reale Welt“, der wir uns mit unseren ausgefeilten Messinstrumenten und komplexen Formeln zu nähern versuchen, sei das in unerreichbarer Ferne winkende und richtungweisende Ziel aller wissenschaftlichen Arbeit.
Ich bin mir nicht sicher, ob er im Punkt Unerreichbarkeit Recht hat oder ob wir nicht eines Tages doch so etwas wie das mathematische Grundprinzip des Universums – die Weltformel – finden können. Die spannende Frage wird dann sein, in welchem Sinn wir eine solche abstrakte „Theorie von Allem“ noch wirklich verstehen können. Aber vielleicht ist „verstehen“ auch ein zu großes Wort. So erklärte der bekannte Mathematiker John von Neumann einst einem befreundeten Physiker: „Junger Mann, in der Mathematik versteht man die Dinge nicht. Man gewöhnt sich einfach an sie.“
Literatur
Jörg Resag: Grenzen der Wirklichkeit: Kosmologie, Quantenwelten und die Suche nach der Unendlichkeit. Springer, Berlin/Heidelberg 2023, 226 Seiten, Euro 29,99.
Jörg Resag
Jörg Resag ist Physiker und Autor. Er wohnt in Leverkusen.