Permanente Grenzgänge

Menschliche Entwicklung und die Kunst der Selbstbegrenzung
Grenzüberwindungen sind in der niederländischen Stadt Baarle-Nassau Alltag. Die Stadt ist bekannt für den komplizierten Grenzverlauf zur belgischen Gemeinde Baarle-Hertog.
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Grenzüberwindungen sind in der niederländischen Stadt Baarle-Nassau Alltag. Die Stadt ist bekannt für den komplizierten Grenzverlauf zur belgischen Gemeinde Baarle-Hertog.

Jedes Menschenleben strebt nach Erweiterung seiner Möglichkeiten. Denn permanente Grenzerweiterung ist eine menschliche Grundmotivation, die lebendig erhält. Dennoch plädiert der Religionspsychologe und Therapeut Michael Utsch für die Tugend der Mäßigung. Sie könnte angesichts eines verbreiteten Fortschrittsdiktats in fröhlicher Selbstbegrenzung dem Irrtum grenzenloser Optimierung entgegentreten.

Der Weg zu sich selbst ist lang und steinig. Zahllose Programme und Ratgeberinnen versuchen, die individuelle Selbstfindung zu unterstützen und zu fördern. Die Entdeckungsreise zur eigenen Person kann als eine beständige Erweiterung der Möglichkeitsräume beschrieben werden. Die menschliche Persönlichkeitsentwicklung hat Autonomie und Selbstverwirklichung zum Ziel. Das ist nicht nur einhelliger psychologischer Konsens, sondern auch biblisch-theologisch gut begründet. Der Mensch wurde nach Gottes Ebenbild und Gegenüber geschaffen und mit Schöpferkraft ausgestattet – „Macht euch die Erde untertan“ (Genesis 1,28). Gott hat die Menschen „nur wenig geringer als die Engel gemacht und sie mit Ruhm und Ehre gekrönt“ (Psalm 8,6).

Besonders eindrücklich kann man den Expansions- und Entdeckerdrang bei Kindern und Jugendlichen beobachten. Wenn zuhause ein sicherer Halt und Geborgenheit verfügbar sind, lockt das Fremde, und Grenzen können leicht erweitert werden: Welche Räume hat die Wohnung noch außerhalb des Kinderzimmers? Wohin gelange ich, wenn ich die Wohnungstür verlasse und nach rechts oder links gehe? Wie sieht die Welt in der Nachbarstraße, dem Nachbarviertel aus? Wer oder was begegnet mir im Kindergarten und in der Schule? Welche Erfahrungen mache ich auf der ersten viertägigen Klassenfahrt? Und wenn ich nicht nur eine Fremdsprache in der Schule lerne, sondern dann die Gelegenheit zu einem Schüleraustausch in einem fremden Kulturkreis nutze, muss ich viele äußere und innere Grenzen überwinden und werde in meiner Identität gestärkt.

Der Mensch ist ein permanenter Grenzgänger, Grenzen überschreitend und doch sich immer wieder zurückziehend. Abgrenzungen zur Markierung der eigenen Individualität sind wichtig. Die schlichte Frage aus dem Kollegenkreis „Kommst Du mit in die Cafeteria?“ macht ein schnelles Abwägen und Entscheiden nötig: Ist mir im Moment das Teambuilding oder die Weiterarbeit am eigenen Projekt wichtiger? Eine Abgrenzung schützt und festigt die eigene Identität. Abgrenzungen gegenüber einem Du, dem Wir und der Welt sind notwendig, um sich nicht in bodenloser Vielheit zu verlieren.

Dabei gilt es, die eigene Mitte nicht zu verlieren und sich dieser immer wieder neu zu versichern. Wenn ich nur die Erwartungen und Wünsche anderer im Blick habe, etwa aus falsch verstandener „Nächstenliebe“, und mein Verhalten daran orientiere, besteht die Gefahr, die eigene Individualität zu übergehen. Nicht umsonst positioniert das Doppelgebot der Liebe die Selbstliebe auf Augenhöhe und in Gleichwertigkeit zur Nächstenliebe. Für die Selbstliebe ist eine klare Grenzlinie zum Nächsten nötig. Erst eine klare Abgrenzung ermöglicht Aushandlungsprozesse zwischen eigenen Bedürfnissen und denen des Gegenübers. Solche Prozesse sind oft nicht einfach, führen aber zu einer ehrlichen und verlässlichen Bindung zwischen Menschen, für die Selbstverwirklichung und gemeinschaftliches Leben kein Gegensatz sind.

Krisen bewältigen

Für ein gelingendes Miteinander sind immer wieder Grenzüberschreitungen zwischen Ich, Du und Welt nötig. Diese Durchlässigkeit ist das Prinzip des Lebendigen, ohne Grenzüberschreitungen würde das Leben erstarren. Wir Menschen sind angewiesen auf Berührung, Begegnung und Beziehung. Mitgefühl, Kommunikation und das Bemühen um Verständnis des anderen sind unverzichtbare Hilfsmittel, Grenzen zu überschreiten, obwohl sie Mut erfordern.

Eine Grenzüberschreitung verunsichert, weil unbekanntes Land mit neuen Regeln betreten wird. Es gilt herauszufinden, welche Gewohnheiten noch passen und welche neuen Verhaltensweisen eingeübt werden müssen. Die Unsicherheit löst häufig einen Krisenzustand aus. Aber Krisen sind ein elementarer Bestandteil jedes Entwicklungsprozesses und deshalb unverzichtbar, will man nicht auf der Stelle treten. Aufgrund der anthropologischen „Unfertigkeit“ des Menschen muss jeder Mensch in seinem Wachstums- und Reifungsprozess Entwicklungskrisen bewältigen. Für alle krisenhaften Durchgangsstadien gilt es, sich von überholten, nicht mehr passenden Denk- und Verhaltensmustern zu trennen, die Grenzen des Gewohnten zu überschreiten und neue Umgangsformen mit sich und der Umwelt einzuüben. Erst indem die alters- oder situationsspezifische Krise bewältigt und die damit zusammenhängende Entwicklungsaufgabe gelöst wird, findet eine Weiterentwicklung statt.

Häufig nehmen Entwicklungskrisen großen Einfluss auf das Leben und die Lebenspläne einer Person. Viele Krisen werden noch lange als große Herausforderungen oder auch Wendepunkte erinnert, die dem Leben eine neue Richtung gaben, eine Reorganisation der Lebenspläne notwendig machten und aus denen man vielleicht mit neuem Selbstkonzept und neuer Weltsicht hervorging. Solche Veränderungen können sowohl Gewinne darstellen als auch Störungen verursachen. Es ist empirisch erwiesen, dass wesentliche Veränderungen und inneres Wachstum in der menschlichen Entwicklung aus einer erfolgreichen Auseinandersetzung mit Krisen und Grenzerfahrungen resultieren und dadurch ein neues Niveau der intellektuellen, sozialen und persönlichen Organisation erreicht wird.

Trotz aller Sehnsucht nach Grenzerweiterungen ist jede Person beschränkt auf definierte geschichtliche, kulturelle und gesellschaftliche Situationen, die ihre Existenz rahmen und ausmachen. Jeder noch so weltoffene Geist einer Person mag auf das Ganze ausgerichtet sein, erreicht aber immer nur Teile oder Fragmente. Oftmals bleibt die Person weit hinter ihren Möglichkeiten zurück und muss zugeben, das anvisierte Ziel verfehlt zu haben. Dabei kann Scheitern als eine Chance begriffen werden, wenn der Mut zum Neuanfang besteht.

Aus evolutionspsychologischer Sicht ist die expansive Grenzerweiterung Programm, das eng mit der Überlebensstrategie und dem Reproduktionserfolg des Individuums zusammenhängt. Die Erweiterung sozialer Beziehungen kann das Individuum vor Gefahren schützen, Ressourcen teilen und die Wahrscheinlichkeit der Fortpflanzung erhöhen, wenn sie neue Partner oder Unterstützungssysteme aufbaut. Die Exploration neuer Gebiete kann zu Zugang zu mehr Ressourcen, wie Nahrung oder Häusern, führen, was die Überlebenschancen verbessert. Die Entwicklung neuer Fähigkeiten wie Jagdtechniken oder Werkzeuggebrauch kann ebenfalls zu einem Vorteil im Wettbewerb um Ressourcen und beim Schutz vor Bedrohungen führen. Auch die Erweiterung des eigenen kulturellen Verständnisses und die Integration neuer Ideen können dazu beitragen, dass ein Individuum flexibler auf Veränderungen in der Umwelt reagieren kann und seine Überlebensstrategien anpasst.

In einer angeblich grenzenlos freien, expandierenden Welt aber gewinnt die Tugend der Mäßigung an Bedeutung. Bei den zukunftsweisenden Bemühungen um Nachhaltigkeit, Klimagerechtigkeit und sozialen Frieden wird immer häufiger der Ruf nach Mäßigung laut, beispielsweise bei Debatten um maßlosen Konsum oder überzogene Managergehälter. In jüngeren Generationen ist hier schon ein Gesinnungswandel festzustellen, weil der Wert von Freizeit höher gewichtet wird als Gewinnmaximierung.

Alle Religionen und Philosophien versuchen, die richtigen Wege zum guten Leben und Wohlbefinden zu beschreiben. Im Buddhismus wird Gier als eines von drei „Geistesgiften“ identifiziert, die den Geist verschmutzen und Unheil für den Einzelnen und die Gemeinschaft stiften. In der christlichen Tradition zählt die Habgier zu den „Wurzelsünden“, die das menschliche Zusammenleben stören und den Einzelnen zugrunde richten können. Auch in der griechischen Philosophie zählt die Mäßigung neben Gerechtigkeit, Tapferkeit und Weisheit zu den vier Kardinaltugenden. Unmäßigkeit oder Hybris wird dort als ein Vergehen gegenüber den Göttern und der kosmischen Harmonie beschrieben. Trotz aller religiösen und philosophischen Einsichten hat sich ungehemmte Gier heute in vielen Bereichen wie ein Virus eingenistet. Die Zunahme von Suchterkrankungen, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sowie die Klimakatastrophe sind einige wenige Beispiele dafür.

Trotz der Aktualität dieses Themas hat sich die Psychologie bisher wenig mit der Tugend der Mäßigung befasst. Eine Ausnahme bildet die Positive Psychologie, die sich seit mehr als zwanzig Jahren mit der Beschreibung von Glücksempfinden, Charakterstärken und dem guten Leben beschäftigt. Grundidee dabei ist es, dass Menschen durch die gezielte Förderung von Tugenden und Charakterstärken zur Selbstregulation ihrer Gefühle und ihres Verhaltens befähigt werden. Durch die Förderung von maßvollem Tun und freiwilliger Selbstbegrenzung soll es gelingen, sich den Trends des „schneller, höher, weiter“ und des verbreiteten Optimierungsstresses zu widersetzen.

Vier Charakterstärken

Durch die Einübung bestimmter Charakterstärken lassen sich die oben genannten vier Kardinaltugenden gezielt fördern. Im Fall der Tugend „Mäßigung“ sind dies die Charakterstärken Vorsicht, Bescheidenheit, Vergebungsbereitschaft und Selbstregulation. Vorsichtige Menschen treffen Entscheidungen sorgfältig und denken über mögliche Konsequenzen nach, bevor sie handeln. Sie planen Ziele längerfristig und sind zurückhaltend bei kurzfristigem Vergnügen mit langfristigen Kosten. Bescheidene Menschen stehen nicht gerne im Mittelpunkt und prahlen ungern mit eigenen Erfolgen, lieber lassen sie ihre Fähigkeiten für sich sprechen. Sie zeichnen sich durch eine demütige Haltung aus, was sie vor Arroganz schützt. Vergebungsbereite Menschen können anderen leichter ihre Fehler vergeben. Sie sind in der Lage, Vergangenes ruhen zu lassen, sind nicht rachesüchtig und geben sich und anderen eine zweite Chance. Menschen mit ausgeprägter Selbstregulation sind in der Lage, ihre Gefühle und ihr Verhalten zu regulieren. Sie ziehen den langfristigen Erfolg dem kurzfristigen vor und haben genügend Abstand von sich selbst, um auch einmal über sich lachen zu können.

Selbstbegrenzung zu erlernen, fällt besonders in einer „barrierefreien“ Umwelt schwer. Es kostet Überwindung und Mut, sich dem Mainstream entgegenzustellen. Deshalb sind gute Argumente und eine entschlossene Disziplin wichtig, diese Tugend einzuüben. Ein wichtiges Argument für diese Haltung sind die Grenzerfahrungen von Leid, Schuld und Tod, denen sich niemand entziehen kann. Keine Wissenschaft oder Technik können helfen, das Tragische, Absurde und Sinnlose dieser Welt zu überwinden. An diesen existenziellen Grenzen meines Lebens kommen Tugenden wie Glauben, Lieben und Hoffen ins Spiel. Wenn ich gelernt habe, mich freiwillig selbst zu begrenzen, können von außen gesetzte Grenzen leichter akzeptiert und bejaht werden. 

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