Mit 15 Jahren fuhr ich zum ersten Mal zum Kirchentag. Der fand 1981 in Hamburg statt, und das offizielle Motto war: „Fürchte dich nicht“. Aber ich fürchtete mich sehr, zumindest in einer Veranstaltung mit dem damaligen Verteidigungsminister Hans Apel, in die ich geraten war, denn plötzlich flogen Tomaten und Eier auf die Bühne. Leibwächter sprangen herzu und schützten den Minister mit Schilden – ansonsten aber ging die Veranstaltung weiter, während ich am ganzen Leib zitterte, denn ich war so etwas nicht gewöhnt. Ja, es waren heiße Zeiten damals im Kalten Krieg, als um die NATO-Nachrüstung gestritten wurde. „Lasset die Geister aufeinanderprallen“ hieß gut lutherisch das heimliche Motto.
In der Rückschau auf den diesjährigen Kirchentag in Hannover – Motto: „Mutig, stark, beherzt“ – wurde in einigen Resümees darüber geklagt, dass es zu wenig „wirklichen“ Streit gab und dass die heißen Fragen unserer Gegenwart nur sehr abgedimmt diskutiert wurden. Ein Beispiel: Die Friedenssynode der Pazifist:innen um Margot Käßmann fand zwar in Hannover statt, aber vor den Toren des Kirchentages. Überhaupt gab es nach dem Urteil vieler doch zu wenig heftige wirkliche Kontroversen. Dazu taugte auch das Duell zu dritt auf dem Roten Sofa der Kirchenpresse nicht, zu dem sich die neue Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) mit Kirchentagspräsidentin Anja Siegesmund und EKD-Synodenpräses Anna-Nicole Heinrich eingefunden hatte. Die ewige Frage, wie politisch die Kirche sein soll, die die CDU-Politikerin kurz vor dem Kirchentag in einem Zeitungsinterview aufgeworfen hatte, fand hier nicht wirklich eine abschließende Antwort – wahrscheinlich gibt es die auch gar nicht.
Vielleicht aber ist die krampfhafte Suche nach Kontroverse auch gar nicht das, was ein Kirchentag heute vordringlich leisten muss. Die Tage in Hannover waren ein Fest des Glaubens in vielfältigen Formen. Und vielleicht waren die meisten der Teilnehmenden in diesem Jahr in Hannover gar nicht so erpicht auf knallharte Kontroversen, sondern suchten Stärkung, Tröstung und Gemeinschaft gemeinsam mit anderen Christenmenschen? Auch das ist in Zeiten fortschreitender Säkularisierung und unproduktiver Polarisierung sehr verständlich und ein legitimer Zweck – vielleicht sogar der heimliche Hauptzweck? – eines Kirchentages.
Auf jeden Fall ist es ermutigend, dass es diesmal in Hannover wieder deutlich mehr Teilnehmende gab als in Nürnberg 2023. Sollte hier ein „Wachsen gegen den Trend“ begonnen haben? Das wäre in Zeiten, in denen alle Zahlen rund um Kirche und Glauben in unseren Breiten anscheinend unwiderruflich im Sinkflug begriffen sind, wirklich eine gute Nachricht. Dennoch ist es nötig, dass die Verantwortlichen im Hinblick auf den kommenden Kirchentag 2027 auch wieder etwas robustere Kontroversen ermöglichen und dabei mehr Profil und Polarisierungsmut entwickeln. Dann könnte das Glaubensfest Kirchentag auch wieder mehr zur Zeitansage Kirchentag werden.
Der 40. Deutsche Evangelische Kirchentag findet vom 5. bis 9. Mai 2027 in Düsseldorf statt. www.kirchentag.de
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.