Versöhnte Verschiedenheit

Über die großen Streitthemen auf dem Kirchentag in Hannover: die Diskussion, wie politisch die Kirche sein soll, sexualisierte Gewalt und der Frieden in Europa. Ein Überblick
Kirchentag
Foto: Hans- Jürgen Krackher

Doch keine NGO

Auf dem Kirchentag verteidigte die neue Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) ihre Kritik an der Kirche.

Ist die Kirche zu einer beliebigen Nichtregierungsorganisation verkommen, die nur noch über Politik, aber nicht mehr über Gott redet? So ließ sich der Vorwurf zuletzt von Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) zusammenfassen. Aber er blieb auf dem Kirchentag nicht unbeantwortet.

Ausgerechnet zu Ostern hatte Klöckner eine kleine Bombe platzen lassen. Die christdemokratische Politikerin, die in der Öffentlichkeit ihren katholischen Glauben nie verleugnet, sagte der Bild am Sonntag: „Wenn Kirche manchmal zu beliebig wird oder zu tagesaktuellen Themen Stellungnahmen abgibt wie eine NGO und nicht mehr die grundsätzlichen Fragen von Leben und Tod im Blick hat, dann wird sie leider auch austauschbar. Ich meine: Klar kann sich Kirche auch zu Tempo 130 äußern, aber dafür zahle ich jetzt nicht unbedingt Kirchensteuer.“

Die scheinbar dahingeplauderten Sätze hatten durchaus Wirkung. Denn so etwas tut gerade am höchsten Feiertag der Christenheit ziemlich weh, zumal dann, wenn das große Glaubensfest des Kirchentags bevorsteht und diese Kritik aus dem Mund einer Politikerin stammt, die laut Protokoll die zweite Frau im Staat ist. Außerdem adelte Klöckner mit ihren Aussagen eine Kritik, die gerade konservative Politikerinnen, Publizisten, Theologen und Gläubige in den vergangenen Monaten häufiger durch die Blume oder ganz deutlich geäußert hatten. Demnach sei die hiesige evangelische Kirche zu einem beliebigen zivilgesellschaftlichen Verband verkommen, habe ihren Glauben und ihre konservativen Anhänger verloren, konzentriere sich zu sehr auf Politik und müsse stattdessen wieder mehr von Gott und den letzten Dingen sprechen (siehe auch www.zeitzeichen.net/node/11781).

Dass Klöckner diese Kritik zudem, bewusst oder unbewusst, mit einer versteckten Drohung versah, das System der Kirchensteuer-Finanzierung durch den Staat anzutasten, machte die Sache nicht besser. Dies umso mehr, als gerade die AfD gern in ihren Machtergreifungsphantasien ein Ende des Einzugs der Kirchensteuer durch die staatliche Finanzverwaltung durchspielt. Denn der „Alternative für Deutschland“ ist die Kirche ein Dorn im Auge, spätestens seitdem die beiden Volkskirchen vor etwa einem Jahr von der Wahl der nun erwiesen rechtsextremen Partei abrieten. Aber man gibt ja unter Christenmenschen keine Seele so schnell verloren. Deshalb wurde Klöckner auf dem „Roten Sofa“ des Kirchentags auf dem Messegelände in Hannover ein extra Termin eingeräumt, um sich zu erklären. Anja Siegesmund, Präsidentin des Kirchentages in Hannover, und Anna-Nicole Heinrich, Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, sollten mit ihr diskutieren – und ihr vielleicht auch Kontra geben, zumal Heinrich tatsächlich in den vergangenen Jahren häufiger einen engen Kontakt mit NGOs gesucht hat und politische Aussagen alles andere als selten traf.

Das mit vielen Kameras beobachtete Zusammentreffen der sprachmächtigen drei Frauen auf der Bühne hatte deshalb etwas von einem Showdown. Aber wie so häufig, wenn eine klare Siegerin erwartet wird, endete die große Aussprache eher in einem Patt. Klöckner nahm bestenfalls in Spurenelementen etwas von ihrer Kritik zurück, betonte aber mehrmals, wie sehr die Kirche ihre Sozialisation geprägt habe und wie nahe sie ihr noch heute stehe. Siegesmund und Heinrich unterstrichen, dass die Kirche sehr wohl vor allem vom Glauben rede, dass das gelegentliche politische Reden unbedingt zum Christentum gehöre und dass natürlich alle demokratischen Milieus in der Kirche willkommen seien. Aber es ging schon um etwas, das war klar. Die Sache war Klöckner so wichtig, dass sie mehrmals ihre Interviewposition an einem Stehtisch verließ, um sich am Bühnenrand direkter an das Publikum wenden zu können. Das hatte dann weniger etwas von einer Podiumsdiskussion denn von einer Wahlkampfrede.

Löste sich am Ende also alles in Wohlgefallen auf? Das ist zu bezweifeln. Klöckners polemische Äußerungen haben den Kräften in der Gesellschaft in die Hände gespielt, denen eine politisch sich äußernde Kirche ein Ärgernis ist. Das gilt vor allem dann, wenn sie dabei die Demokratie verteidigt, die Grundrechte für alle Menschen verlangt, Empathie für bedrängte Minderheiten wie Geflüchtete einfordert und rechtsextremistische Tendenzen in der Republik deutlich kritisiert. All diese Positionen der Kirchen widerstreben der AfD deutlich. So beruht die gegenseitige Abneigung auf Gegenseitigkeit.

Es war deshalb kein Zufall, dass die Einstufung der ganzen AfD als „gesichert rechtsextrem“ durch das Bundesamt für Verfassungsschutz am dritten Tag des Kirchentags von vielen Gläubigen in Hannover sehr positiv aufgenommen, wenn nicht gar gefeiert wurde. Und Bundestagspräsidentin Klöckner mag sich nach den Erfahrungen an der Leine in einer stillen Stunde vielleicht gefragt haben, wo ihre wahren Freundinnen und Freunde zu finden sind.

Philipp Gessler

 

Die Ohnmacht der Worte

Wie von und über sexualisierte Gewalt sprechen? Der Kirchentag in Hannover widmet dem Thema ein Podium.

Seinem Täter vergeben? Das ist seine Sache nicht. „Ich habe meinem Täter nicht vergeben und werde es auch nicht, das ist Gottes Sache. Der soll entscheiden, ob er vergibt oder nicht“, sagt Matthias Schwarz in Hannover beim Kirchentag mit Nachdruck. Dieses Weggeben einer Entscheidung über Vergebung habe ihm geholfen und ihn befreit. Eindrücklich schildert er, der bis zu seinem Ruhestand 2023 Pfarrer in der hessen-nassauischen Kirche war, auf dem Podium „Die Macht der Worte“, wie er fast vierzig Jahre gebraucht hat, um Worte zu finden für das, was ihm angetan worden war.

In den Jahren 1973 bis 1976 hat Schwarz von dem damaligen Gemeindepfarrer sexualisierte Gewalt erfahren. „Ich hatte es tief in meinem Herzen vergraben, weil ich nicht damit umgehen konnte. Denn etwas in Worte fassen heißt, es auch begreifbar und verstehbar zu machen.“ Und Schwarz erzählt auch davon, dass er nicht nur viele Jahre, Jahrzehnte sich selber und anderen gegenüber geschwiegen habe, sondern auch Gott gegenüber. Mit dem Aufarbeiten seiner Geschichte sei er auch mit Gott noch einmal neu ins Reden gekommen. Schwarz arbeitet mittlerweile als Mitglied der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum der EKD. Den Weg in die Öffentlichkeit zu gehen, bezeichnet er als zwiespältig. Zwar würden andere Betroffene ermutigt, ihre Geschichten zu erzählen, zugleich setze man sich der Kritik der Kollegen aus.

Was macht es Menschen so schwer, über Missbrauch und sexualisierte Gewalt zu sprechen, obwohl das Sprechen spätestens seit Sigmund Freud als ein heilsames Verfahren gilt? Die Psychotherapeutin Friedegunde Bölt aus Kassel bietet dafür auf dem Podium Gründe an: Zum einen hätten die Täter den Betroffenen zum Schweigen genötigt. „Schweigen ist eine Täterstrategie“, sagt die Therapeutin. Es sei eine doppelte Stigmatisierung: Betroffene sind Überlebende, Opfer einer Straftat und zugleich werden sie durch die perfide Masche der Täter in ihrem Opfersein gehalten und können dem nur schwerlich entkommen. Hinzu kämen Gefühle von Scham und Schuld, die das Sprechen unmöglich machen. Deshalb bedeute das Wortefinden über das Erlebte auch, die Macht der Täter zu brechen, ja die Scham an die Täter zurückzugeben. Zugleich helfe das Benennen der Straftaten, die Realität der Taten anzuerkennen. Dies aber fällt schwer, für manche Menschen ist es unmöglich. Bölt plädiert hier auch für einen differenzierten Umgang mit den Zuschreibungen „Betroffene, Opfer und Überlebende“. So spricht sie von Opfern immer nur im Zusammenhang von Tätern. Und von Betroffenen, wenn ihnen etwas widerfahren ist, das in ihrer Biografie verhaftet bleibt.

Svenja Bluhm hat bei der ForuM-Studie mitgearbeitet und verweist darauf, wie auf sie reagiert wurde: „Narrative mit Personen aus der Institution klangen wie ein Chor, wort- und formulierungsgleich, von Verleugnung über vermeintliches Nichtwissen, relativierend und verharmlosend“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Potsdam. Ähnlich hat es Matthias Schwarz beobachtet: „Ich hätte mir nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie gewünscht, dass ein Aufschrei durch die Gemeinden und Einrichtungen gegangen wäre. Einer der deutlich macht: Wir stehen auf Eurer Seite.“ Aber es geht nicht nur um das Ringen um Worte, um das Sprechen. Es geht auch um eine neue Gesprächskultur. Einer, der auf diesem Podium die Institution vertritt, ist Rainer Kluck, ehemaliger Leiter der Stabsstelle Prävention der Nordkirche. Er weist darauf hin, dass zumindest auf der Fachebene ein enormer Lernprozess und Bewusstseinswandel stattgefunden habe. Insgesamt bleibe es jedoch immer noch eine Herausforderung, die Sprache zu finden, „weg von diesem Verleugnen und Vertuschen“. Und helfen die theologischen Begriffe Vergebung und Schuld, sich dem Thema zu nähern oder gar Heilung herzustellen? Die Psychotherapeutin Bölt bezeichnet es als erneuten Übergriff, wenn die Täterorganisation, die evangelische Kirche, die Opfer um Vergebung bittet. Denn damit wird die Verantwortung auf die Betroffenen geschoben, anstatt dass sie von den Tätern oder der Institution übernommen wird.

Die Mainzer Systematische Theologin Ulrike Peisker hat über die Möglichkeit von Vergebung in protestantischer Perspektive promoviert. „In aller Kürze bedeutet Vergebung, sich dem eigenen Verletzer gegenüber, obwohl er einen verletzt hat, liebend vorzubringen“, erläutert sie. Deshalb sei klar, warum der Begriff Vergebung bei sexualisierter Gewalt „verkehrt“ und unbrauchbar sei. Aber Peisker macht deutlich, dass die Theologie durchaus die Unterscheidung kenne zwischen göttlicher und menschlicher Vergebung. Man könnte nicht aus der Hoffnung einer göttlichen Vergebung ableiten, dass Menschen einander auf jeden Fall vergeben müssten, so Peisker. „Genau dieses Müssen gibt es nicht.“ Stattdessen gelte es, sich um die klare Benennung und strafrechtliche Ahndung von Unrecht zu bemühen. Es gelte, hier die Fallstricke der Rechtfertigungstheologie zu kennen. Um die Verbrechen nicht zu vertuschen, sondern klar zu benennen.

Kathrin Jütte

 

Waffen töten Menschen

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine schwang dauernd auf dem Kirchentag mit. Aber wie damit umzugehen ist, das blieb in Hannover mehr als umstritten. Auch die Pazifistin und Kirchentagsikone Margot Käßmann konnte nicht alle überzeugen.

War das Friedensthema zentral auf dem 39. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hannover? Schon über diese Frage kann man streiten. Denn in gewisser Weise gab es dazu an der Leine zeitgleich zwei Christentreffen, die ziemlich unterschiedlich die Friedensfrage behandelten – und kaum miteinander kommunizierten. Da gab es, kurz vor dem 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, in der niedersächsischen Landeshauptstadt einen „Friedensruf“ von Christenmenschen. Verabschiedet wurde der Appell von einer unabhängigen „Friedenssynode“, die in Räumen der Gewerkschaft ver.di in der City stattfand, parallel zum großen Kirchentag. Die Initiatoren plädierten in ihrer Erklärung etwa für einen entschlossenen diplomatischen Einsatz für gewaltfreie Konfliktlösungen. Außerdem sollten Militärbündnisse wie die NATO aufgelöst werden.

Vor allem die letzte Forderung war alles andere als Konsens auf dem parallel laufenden, viel größeren Kirchentag – gerade angesichts des nun schon seit drei Jahren anhaltenden massiven russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Das westliche Nachbarland Russlands wünscht sich neben dem Ende der russischen Aggression kaum etwas sehnlicher als den Schutz durch einen Beitritt zum westlichen Militärbündnis. Und das will Russlands Diktator Wladimir Putin unbedingt verhindern. Der Wunsch nach einem Schutz vor Putins Aggression hat zudem Schweden und Finnland in Rekordtempo zu einem Abschied von ihrer jahrzehntelangen Neutralität und zu einem NATO-Beitritt geführt.

All das irritierte Margot Käßmann, die Schirmfrau der „Friedenssynode“, offensichtlich wenig. Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und frühere hannoversche Landesbischöfin war auf beiden parallelen Christentreffen aktiv. Die ein­stige Kirchentagsikone bekräftigte ihre seit Jahrzehnten betonte pazifistische Haltung beim Kirchentag: „Gerade in einer Welt, die ständig nach Waffen und Rüstung schreit, müssen Christinnen und Christen immer wieder schauen, wer denn die Opfer dieser Waffen sind.“ Es war ein Satz, der unterstellte, dass manche Christenmenschen mit weniger pazifistischer Gesinnung eine solche Perspektive nicht hätten.

„Am Ende werden Waffen produziert, um damit Menschen zu töten“, so Käßmann, was natürlich zutrifft, aber den für die NATO so wichtigen Aspekt der Abschreckung durch Waffen sanft unter den Tisch fallen ließ. Christinnen und Christen hätten zum Thema Frieden doch etwas zu sagen, erklärte die Theologin, etwa „dass auch eine Welt ohne Waffen möglich ist und Menschen ganz anders zusammenleben können.“ Das ist ebenso richtig wie leicht zu sagen, wenn man rund 1 500 Kilometer entfernt vom Kriegsgebiet leben darf und nicht so gut wie jede Nacht erleben muss, wie russische Raketen auf ukrainische Städte fallen, wobei regelmäßig Zivilisten sterben.

Wie stark war also wirklich das Friedensthema auf dem Kirchentag in Hannover? Die kriegerische Welt und vor allem der Krieg Russlands gegen die Ukraine mitten in Europa schwang sehr oft mit, das war deutlich. Die Antworten jedoch, die zum Friedensproblem auf der kleinen „Friedenssynode“ und dem großen Kirchentag gegeben wurden, waren meist sehr unterschiedlich. Lange vorbei sind die Zeiten, in denen ein Kirchentag in der drängenden Frage nach Krieg und Frieden eine klare, überzeugende Antwort geben konnte. Auch Margot Käßmann war dazu nicht mehr in der Lage. 

Philipp Gessler

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.

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