Am Anfang war alles grenzenlos gut. Dann kam die erste Scheidung von Mann und Frau und damit die erste Grenzziehung für den Menschen. Die hat – nach einer alten jüdischen Legende – Gott noch selbst gemacht: Er trennte Lilith und Adam. Dann kam – so sagt die Bibel – mit der zweiten Frau der Apfel ins Spiel und die menschliche Grenzüberschreitung schlechthin. Die Folge: Schluss mit dem Paradies. Das hatten sich Adam und Eva so nicht gedacht. Grenzen irritieren. Sie trennen und verbinden, schützen und sperren, ordnen und provozieren. In einer Gegenwart, die Entgrenzung als Fortschritt preist, lohnt der Blick auf das Paradox der Grenze.
Psychologisch ist der Mensch ein Grenzgänger. Wir wachsen, wenn wir uns über uns hinauswagen und Grenzen überschreiten. Out of the comfort zone, heißt es oft. Doch Reifung verlangt das Gegenteil: Mäßigung, Selbstbegrenzung, die Einhaltung und das Bewegen innerhalb von Grenzen. Michael Utsch spricht von „fröhlicher Selbstbegrenzung“ – nicht aus Angst, sondern aus Freiheit. Wer weiß, dass er sich nicht selbst erlösen muss, kann Maß halten, ohne daran zu zerbrechen. Er darf damit begrenzt und endlich sein: ein Geschöpf.
In der digitalen Sphäre zeigen sich die Ambivalenzen der Grenze. Die Hoffnung auf ein unendliches und freies Netz ist verflogen. Stattdessen: Überreizung, Fragmentierung, algorithmische Verengung. Gleichzeitig schafft uns die Künstliche Intelligenz ungeahnte Räume, die viele bereits nutzen. Braucht es hier tatsächlich neue Formen der externen Grenzsetzung, oder machen wir das alle individuell? – Als Ethik der Aufmerksamkeit, als geistige Hygiene? Die Frage ist: Wer bestimmt diese Hygiene, wer dominiert die Debatte? Theologisch ist die Grenze nicht nur Begrenzung, sondern Bedingung der Begegnung. In der Bibel sind Grenzen keine Mauern, sondern Markierungen für Beziehung: im Garten Eden, in den Zehn Geboten, in der Verkündigung Jesu. Die Grenze verweist nicht auf Ausschluss, sondern auf Verantwortung. Gott begegnet uns nicht jenseits aller Grenzen, sondern entlang der Linie – verborgen und gegenwärtig.
Wo diese Grenze vergessen wird, droht Glaube zur Ideologie zu kippen. Historisch kennen wir das aus unserer Geschichte. Gegenwärtig zeigen dies die Entwicklungen in der russisch-orthodoxen Kirche unter Patriarch Kirill. Christen am Rand ihrer Institution erinnern an das Zentrum ihres Glaubens: Christus allein. Eine solche Grenze trennt nicht – sie klärt. Sie heilt. Die Bekennende Kirche grüßt.
Und in der politischen Dimension war die Grenze noch nie ein neutraler Raum. Wird die Ukraine zur modernen Kolonie für die Gewinnung von zukunftsrelevanten Rohstoffen und ein Beispiel für die Macht und Ohnmacht der Grenzziehung? Europas und Amerikas Außengrenzen zeigen, was geschieht, wenn Kontrolle über Menschenwürde triumphiert. Eine humane Grenzpolitik setzt Vertrauen voraus – in Verantwortung. Es braucht keine offenen Grenzen, aber offene Augen und Herzen für jeden einzelnen Menschen.
Grenzen sind nicht das Ende. Sie sind der Anfang. Sie öffnen Räume für Freiheit, für Gnade, für ein verantwortetes Leben vor Gott und den Menschen. Wer sie achtet, erkennt: Nur wo Grenze ist, kann Beziehung entstehen. Und wo Beziehung ist, beginnt Menschlichkeit.
Friedhelm Wachs
Friedhelm Wachs ist Unternehmer, Vorsitzender des Arbeitskreises Evangelischer Unternehmer (AEU) und Herausgeber von zeitzeichen.