Lebensgefährliche Kritik

Ein Bekenntnis orthodoxer Christen in Russland gegen den Krieg in der Ukraine
Patriarch Kirill unterstützt vorbehaltlos die Kriegspolitik von Wladimir Putin.
Foto: picture alliance/ASSOCIATED PRESS
Patriarch Kirill unterstützt vorbehaltlos die Kriegspolitik von Wladimir Putin.

Eine Gruppe von etwa 30 Personen – überwiegend Priester, aber auch einige Laien – hat in Russland Anfang Januar anonym ein „Glaubensbekenntnis“ veröffentlicht. Darin kritisieren sie mit scharfen Worten Patriarch Kirill und die Führung des Moskauer Patriarchats, die versuchen, den russischen Angriffs­krieg gegen die Ukraine theologisch zu rechtfertigen. Diesen mutigen Akt des Widerstands analysiert Johannes Oeldemann, Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn.

Es sind die kritischen Momente im Leben der Kirche, in denen „Bekenntnisse“ verfasst werden. Das gilt für das Glaubensbekenntnis, das vom ersten Konzil von Nizäa (325) verabschiedet wurde, als die arianische Lehre die Einheit der Kirche bedrohte. Das gilt für die Bekenntnisschriften der Reformatoren im 16. Jahrhundert, in denen sie sich gegen Missstände in der damaligen Kirche wandten. Und das gilt auch für zeitgenössische Bekenntnisse wie das „Bekenntnis von Belhar“, in dem die Reformierte Kirche in Südafrika in den 1980er-Jahren die Apartheid verurteilte. Zu Beginn dieses Jahres, in dem die christlichen Kirchen das 1 700-jährige Jubiläum des ersten Ökumenischen Konzils feiern, erschien ein bemerkenswerter Bekenntnistext orthodoxer Christen in Russland. Am 7. Januar 2025, dem orthodoxen Weihnachtsfest, veröffentlichten sie auf einem Telegram-Kanal einen Aufruf gegen den Krieg, den sie selbst als „Glaubensbekenntnis“ bezeichnen.

Darin kritisieren die Verfasser mit scharfen Worten Patriarch Kirill und die Führung des Moskauer Patriarchats, die den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützen und theologisch zu rechtfertigen versuchen. Wie vorbehaltlos der Patriarch den russischen Präsidenten unterstützt, zeigte sich zuletzt, als er bei einem der Ostergottesdienste in Moskau davon sprach, dass man es nur mit „göttlicher Vorsehung“ erklären könne, dass Präsident Putin an der Spitze des russischen Staates stehe.

Der etwa acht Seiten lange Bekenntnistext prangert die Staatsnähe der russischen Orthodoxie an und unterstreicht mit Zitaten aus der Bibel und mit Bezug auf Texte aus der theologischen Tradition der Orthodoxen Kirche, dass der Kurs der Moskauer Kirchenführung sowohl der biblischen Botschaft als auch den Grundprinzipien der christlichen Lehre widerspreche. Stattdessen ruft der Text dazu auf, Christus und dem Evangelium treu zu bleiben, so die Überschrift.

Der Text, der auch in deutscher Übersetzung vorliegt (vergleiche: www.noek.info/hintergrund/3646-christus-und-dem-evangelium-treu-bleiben; alle Zitate im Folgenden stammen aus dieser Übersetzung des Autors), ist in acht Artikel von unterschiedlicher Länge gegliedert. Der erste wendet sich gegen den Missbrauch des Namens Gottes, der nicht für politische Zwecke in­strumentalisiert werden dürfe. Der zweite kritisiert die Vermischung von staatlichen und kirchlichen Interessen, die dazu führe, dass die Orthodoxe Kirche in Russland „zu einer ideologischen Abteilung des Staatsapparates“ wird.

Verbrauchsmaterial Mensch

Der dritte Artikel verweist auf die Menschenwürde und prangert an, dass die Menschen vom Staat im Krieg als „Verbrauchsmaterial“ missbraucht und ohne Rücksicht auf Verluste in die Schlacht geschickt werden. Der vierte Artikel betont die Gleichheit aller Völker vor Gott und wendet sich gegen „jede Form von nationalem Messianismus und nationaler Selbstverherrlichung“. Die von Patriarch Kirill und Präsident Putin als Begründung für die Invasion angeführte Lehre von der „russischen Welt“ sei eine Ideologie, die den Glauben an Christus durch den Glauben an eine nationale Religion ersetze und Gott auf eine nationale Gottheit reduziere. Dadurch werde die Lehre vom universalen Charakter der Kirche zerstört und einem politischen Konzept der falsche Anschein einer kirchlichen Doktrin gegeben.

Mit Verweis darauf, dass Christen „nach den Geboten Christi“ leben sollen, kritisiert der fünfte Artikel den erbitterten „Kampf für traditionelle Werte“, die Patriarch Kirill vor allem im Westen gefährdet oder gar grundsätzlich infrage gestellt sieht. Nach Auffassung der Autoren dieses Bekenntnisses steckt dahinter nichts anderes als der „Versuch, den Schwund wahrhaft christlicher moralischer Werte wie Liebe, Freiheit, Mitgefühl und Barmherzigkeit im inneren Leben der Kirche selbst zu verschleiern“. Der umfangreiche sechste Artikel geht auf die christliche Nächstenliebe ein und verweist darauf, „welch bedeutende Stellung die Lehre von der Feindesliebe in der christlichen Ethik“ hat. Daher sei jede Predigt, die Gewalt verherrliche, mit der Lehre Christi unvereinbar. Mit Verweis auf die Kirchenväter und das Kirchenrecht der Orthodoxen Kirche unterstreicht der Text die „Sündhaftigkeit des Mordes“, weshalb auch Soldaten, die jemanden im Krieg umbringen, nach den Regeln des hl. Basilius für drei Jahre von der Kommunion ausgeschlossen werden sollen. Der Artikel schließt mit einer klaren Verurteilung der Rede vom „heiligen Krieg“, wie sie sich unter anderem in einem Ende März 2024 verabschiedeten Dokument des russischen „Volkskonzils“ unter Vorsitz von Patriarch Kirill findet. „Einen Krieg als heilig zu erklären, ist mit der Lehre Christi unvereinbar, selbst wenn es sich um einen Verteidigungskrieg handelt – erst recht, wenn es sich um einen Angriffskrieg handelt.“

Die beiden letzten Artikel gehen auf das Verständnis von Kirche ein. Der siebte kritisiert die „Vertikale der Macht“ in der Russischen Orthodoxen Kirche. Patriarch Kirill habe sich zunehmend zu einem „kirchlichen Autokraten“ entwickelt, „dessen Meinungen, Äußerungen und Entscheidungen weder einer Diskussion noch der Kritik unterliegen“. Es wird darauf hingewiesen, dass die vom Kirchenstatut des Moskauer Patriarchats vorgeschriebenen Bischofssynoden schon seit Jahren nicht mehr einberufen wurden. Wenn „das Prinzip der Synodalität weder substanziell noch wenigstens formell beachtet wird“, führe das zu einer Entstellung des kirchlichen Lebens. Eine solche zeige sich auch, wenn jeglicher Widerspruch von Klerikern gegen Worte oder Handlungen des Vorstehers mit einem Meineid gleichgesetzt werde und eine Suspendierung von den kirchlichen Ämtern nach sich ziehe.

Der abschließende achte Artikel hebt hervor, dass die wahre Sendung der Kirche im Dienst an der Versöhnung bestehe. Sie sei „dazu berufen, der Versöhnung zwischen verfeindeten Nationen, gesellschaftlichen Gruppen und Parteien zu dienen“. An dieser Stelle nimmt der Text auch Bezug auf die „Grundlagen der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche“, einem Text, der maßgeblich von Patriarch Kirill selbst mit verfasst wurde, und konfrontiert damit die russische Kirchenführung mit ihrer eigenen Positionsbestimmung. Der Abschnitt schließt mit einer scharfen Kritik daran, dass Priester, die in einem von Patriarch Kirill in die orthodoxe Liturgie eingeführten Gebet für den Sieg Russlands das Wort „Sieg“ durch das Wort „Frieden“ ersetzt haben, vom Dienst suspendiert werden. Das Gebet „als Instrument zur Überprüfung der Loyalität gegenüber irdischen Machthabenden zu missbrauchen“, sei nichts anderes „als die Verfolgung von Christen wegen ihrer Treue zum Wort Christi“.

Orthodoxer Zugang

Das Bekenntnis der russischen Christen schließt mit den Worten „Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit“ (Jesaja 40,8). Es ist sicher kein Zufall, dass dies dieselben Worte sind, mit denen auch die „Barmer Theologische Erklärung“ schließt, mit der sich die Bekennende Kirche in Deutschland 1934 gegen die nationalsozialistische Ideologie positionierte. Daher stellt sich die Frage, ob dieser Bekenntnistext aus Russland vergleichbar mit der Barmer Theologischen Erklärung ist. Sicher ist der Text das im Blick auf Intention und Inhalt. In seiner Struktur und Sprache unterscheidet sich der russische Bekenntnistext jedoch deutlich von der Barmer Theologischen Erklärung. Er entspricht damit aber meines Erachtens einem genuin orthodoxen Zugang zur Frage von Legitimität und Grenzen einer kirchlichen Positionierung in politischen Fragen. Auf diese Fragen geht auch eine bereits im März 2022 von orthodoxen Theologen veröffentlichte „Erklärung zur Lehre von der russischen Welt“ (vergleiche: www.publicorthodoxy.org/wp-content/uploads/2022/03/2022 03 22-Declaration-German.pdf) ein. Diese orientiert sich in Struktur und Sprache noch viel deutlicher an der Barmer Theologischen Erklärung. Was sie jedoch von der Bekennenden Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus unterscheidet, ist die Tatsache, dass diese Erklärung von Theologinnen und Theologen verfasst wurde, die außerhalb Russlands leben und damit nicht in der Gefahr stehen, von russischen Sicherheitsdiensten verhaftet und in sibirische Lager verbannt zu werden.

Familien gefährdet

Die Autoren der am Weihnachtstag 2025 veröffentlichten Erklärung dagegen leben, wie sie einleitend betonen, in Russland und bleiben im Land, obwohl sie den Krieg ablehnen. Der von ihnen verfasste Text erfordert echten Mut zum Bekenntnis und entspricht insofern eher dem, was „Barmen“ für die evangelischen Christen in Deutschland war. Anders als in Barmen ist nicht bekannt, wer die Autoren dieses Textes sind. Aus gut informierten Kreisen ist bekannt, dass eine Gruppe von etwa 30 Personen – überwiegend Priester, aber auch einige Laien – hinter dem Text steht. Sie bleiben anonym, weil das Bekanntwerden ihrer Namen für sie und ihre Familien lebensgefährlich wäre. Vielleicht stehen, anders als in Barmen, keine „großen“ Namen dahinter. Dieser Text lebt nicht von der Autorität seiner Autorinnen und Autoren, sondern einzig und allein aus der Kraft seiner Worte. Wie die Verfasser in der kurzen Einleitung schreiben, macht jede und jeder, der diese Thesen mit anderen teilt, sich ihren Inhalt zu eigen. Die Verbreitung der Thesen wird als Bekenntnisakt bezeichnet. Insofern trägt der Text – wie Barmen – Bekenntnischarakter. Ob er für die Orthodoxe Kirche in Russland eine vergleichbare Bedeutung wie die Barmer Theologische Erklärung für die evangelischen Christen in Deutschland erlangen wird, ist derzeit noch nicht absehbar. Erst aus größerer zeitlicher Distanz wird sich das mit Blick auf die Wirkungsgeschichte dieses Bekenntnisses ermessen lassen. 

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Johann-Adam-Möhler-Institut

Johannes Oeldemann

Dr. Johannes Oeldemann ist Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik in Paderborn.

Weitere Beiträge zu „Kirche“