Erwachsen werden

Wenn Jugendliche radikal werden, liegt es nicht nur am Internet
Foto: privat

Stephen Graham, der als Autor, Produzent und Schauspieler an der britischen Serie „Adolescence“ mitwirkt, ist ein engagierter Filmemacher. Mit der Serie habe man fragen wollen, „was heute mit unseren jungen Männern geschieht und welchem Druck von Gleichaltrigen, durch das Internet und Social-Media-Plattformen“ sie ausgesetzt sind. Die Serie erzählt die Geschichte einer Familie, deren Leben völlig entgleist, als der 13-jährige Sohn Jamie (Owen Cooper) wegen Mordverdachts festgenommen wird. 

Den harrschen Zugriff der Polizei erleben die Zuschauer:innen gleich zu Beginn der Serie mit – und wie auch das weitere Geschehen aus unmittelbarer Nähe. Denn die Episoden der vierteiligen Miniserie wurden jeweils in einer ununterbrochenen Kameraaufnahme (continuous shot) gedreht. Die Kamera bewegt sich direkt im Geschehen und um die handelnden Personen herum. Dabei handelt es sich nicht nur um ein bemerkenswertes Stück Filmkunst, die Technik steht im Dienst der Erzählung. Sie sorgt für die charakteristische Unmittelbarkeit, die „Adolescence“ auszeichnet.

Beeindruckter Premier

Veröffentlicht wurde „Adolescence“ Mitte März auf dem Streaming-Dienst Netflix und wurde schnell zu einem internationalen (Überraschungs-)Erfolg. Keine Sorge, auch wenn seitdem immerhin schon zwei Monate vergangen sind, werde ich hier den weiteren Verlauf der Handlung nicht spoilern. Mir geht es vielmehr um die Reaktionen auf die Serie in Politik und Gesellschaft. 

Denn die Thematisierung von jugendlicher Radikalisierung im Netz in der Miniserie hat insbesondere in Großbritannien Reaktionen aus der Politik hervorgerufen. Premierminister Keir Starmer bekannte auf Social Media, dass er von „Adolescence“ tief beeindruckt sei. Im britischen Unterhaus wurde über Social-Media-Regulierung (für junge Menschen) debattiert. Nur wenige Monate zuvor hatte Australien die (erlaubte) Social-Media-Nutzung für Jugendliche gesetzlich eingeschränkt. „Adolescence“ fand sich also inmitten der laufenden Debatten über Jugendschutz im Netz, Plattformregulierung, Gewaltschutz und Radikalisierung wieder. 

Komplexe Lage

In dieser Woche hat die Bundesanwaltschaft Mitglieder einer rechtsextremen Gruppe festgenommen, die unter dem Namen „Letzte Verteidigungswelle“ firmierte. Schockierend für viele Beobachter:innen ist das junge Alter der Verdächtigen. Sie sind alle zwischen 14 und 18 Jahren alt. Wie immer, wenn junge Menschen im Spiel sind, richten sich die Blicke auch auf das Internet als Radikalisierungs- und Rekrutierungsmaschine. 

Die Gefährdungen für junge Menschen durch Phänomene unserer digitalisierten Gesellschaft gehören auf die Tagesordnung: Neben der Möglichkeit, in Vereinsamung und/oder politische Radikalisierung und Gewaltphantasien abzugleiten, gehören dazu auch gesundheitliche Risiken. Nach gut zwanzig Jahren Hyperdigitalisierung sehen wir manche Gefahren heute deutlicher, zugleich haben sich die meisten der hyperventilierenden „Warnungen und Mahnungen“ von Digitalisierungsskeptiker:innen nicht bewahrheitet. Die Lage ist komplex.

Es kann sicher nicht angehen, das Netz frei zu sprechen und junge Menschen von Verantwortlichkeit zu exkulpieren, in die sie ja gerade hineinwachsen sollen. Doch ist ein Widerspruch in solche emphatischen Digitaldebatten dringend notwendig. Schon, weil aus den Parlamentsreden und Betroffenheitsbekundungen so wenig Fassbares wird!

Kein Zufall

Was die jungen Neonazis angeht, hat der Soziologe Matthias Quent im Deutschlandfunk-Interview zu Recht darauf hingewiesen, dass das Netz durchaus als Beschleuniger von Radikalisierung wirken kann, die jugendliche Radikalisierung aber auch ein „Abbild der Gesellschaft“ ist, in der rechtsextreme Einstellungen zunehmend normalisiert werden. Für die politische und lebensweltliche Prägung sind keineswegs allein die Peer-Gruppe oder Netz-Communities prägend, sondern vor allem das soziale und familiäre Umfeld. Also wir Erwachsenen. 

Es ist kein Zufall, dass die Jugendlichen der sog. „Letzte Verteidigungswelle“ aus – vornehmlich wieder einmal ostdeutschen – Regionen kommen, in denen rassistische, anti-feministische und weitere rechtsextreme Ressentiments in starkem Ausmaß familiär weitervererbt werden und im Alltag – also lokal, familial und kommunal (von engl. communal, etwa: gemeinschaftlich) – bereits häufig als „normal“ gelten. 

Und wer „Adolescence“ aufmerksam schaut, wird nicht nur die, noch über die auch ansonsten formidablen Schauspielleistungen, herausragenden Spielkünste von Stephen Graham als Vater und Owen Cooper als Jamie bewundern, sondern auch bemerken, dass die Vater-Sohn-Beziehung, das familiäre (Nicht-)Miteinander in der Serie – viel mehr als das Netz – die Hauptrolle spielen. Dafür, „was heute mit unseren jungen Männern geschieht“, tragen wir als Erwachsene, als Väter und Großväter insbesondere, eine Verantwortung. Netz- und Jugendkulturdiskurse werden zu reinen Stellvertreterdebatten, wenn wir Erwachsenen uns aus der Gleichung herausrechnen. 

In Kontakt bleiben

Was uns „Adolescence“ also eigentlich als Botschaft mit auf den Weg gibt, ist nicht, dass wir Jugendlichen das Netz abklemmen müssten, sondern die sehr viel schwerere Aufgabe, wirklich im Kontakt mit den uns anvertrauten jungen Menschen zu leben, an ihren Nöten und Gefährdungen Anteil zu nehmen und sie beizeiten in Schutz zu nehmen. 

Zwischen „Manosphere“ und „Baseballschlägerjahren“ wird derzeit viel über junge Männer als Gefährdete und Gefährder gesprochen. In den Industrieländern lässt sich in der Tat ein Rechtsruck unter jungen Männern beobachten. Die Krisen unserer Zeit, auch und besonders die psychischen Folgen der Corona-Pandemie, gehen an uns allen, vor allem aber an vulnerablen Menschen, zu denen Heranwachsende eben auch gehören, nicht spurlos vorüber. Wir sollten uns nur davor hüten, auf junge Männer als Ausnahmeerscheinungen, als Objekte unserer Angstlust zu blicken. Was ist eigentlich mit den Mädchen und jungen Frauen, die sich – nicht nur politisch – in die entgegengesetzte Richtung entwickeln? Und vor allem: Was ist mit uns Erwachsenen? 

Wir Erwachsenen tragen als Eltern und Großeltern, als Familienmitglieder, ehren- und hauptamtliche Begleiter:innen und auch politisch die Verantwortung. Social-Media-Verbote lassen sich heute ebenso so leicht fordern wie vor wenigen Jahren noch Verbote von „Ballerspielen“. Beim Dreischritt von (1) persönlichem (Nutzungs-)Verhalten mit Vorbildwirkung in den Familien, (2) gemeinschaftlichem Leben in unseren Communities und (3) politischem Handeln kommen wir Erwachsenen doch ständig ins Straucheln. Ja, in „Adolescence“ geht es um Gefährdungen beim Erwachsenwerden. Aber keineswegs nur um das der Jugendlichen.

Szene aus "Adolescence": Vater (Stephen Graham) und Sohn (Owen Cooper) in der Arrestzelle (Foto: Netflix)

Szene aus der Serie "Adolescence": Vater (Stephen Graham) und Sohn (Owen Cooper) in der Arrestzelle (Foto: Netflix)

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