Die beiden Brüder hatten sich extra auf dem kleinen Friedhof verabredet für diesen Tag. Einer kam von weit her, aber an diesem wichtigen Tag wollten sie sich unbedingt treffen und zusammen hierher kommen. Ich gehe auf die beiden zu. Sie lächeln. Eine Zeit lang stehen wir in der Sonne auf dem Vorplatz der Friedhofskapelle. „Wann ist ihre Mutter gestorben?“ frage ich irgendwann. Einer atmet tief ein und sagt: „Im September war`s. Mit 91 Jahren…“ Heute sind sie auf diesen Friedhof gekommen, um sich gemeinsam an ihre Mutter zu erinnern.
„Muttertag zwischen Himmel und Erde“, so hatte es der Ältere in der Zeitung gelesen. Kommen und gehen kann jeder, wie er mag in der Zeit zwischen 15 und 17.30 Uhr. Ich führe die beiden über das Gelände, zuerst hinein in die Kapelle. Dort zeige ich Ihnen die drei Tafeln, auf denen schon das ein oder andere Wort zu lesen ist. Eine Tafel für den Namen der Mutter, eine für das, was sie gern mochte, und eine für das, was nicht vergessen werden soll. Jetzt wollen sie noch nicht schreiben, dafür wollen sie sich Zeit nehmen. Erstmal sehen, was man hier noch tun kann.
"Sound of Silence"
Wir gehen wieder raus, dann zeige ich Ihnen die Saxophonistin. An ihrem Notenständer hängt eine Songliste, auf der die Menschen sich Titel auswählen können, die dann von der Musikerin live gespielt werden. Gerade spielt sie „Sound of Silence“. Einen Moment lang lauschen wir ihr und betrachten ihr goldenes Saxophon, das die Sonnenstrahlen reflektiert. „Schau mal hier, Kein schöner Land in dieser Zeit, das hat unsere Mutti sehr gemocht….“
Wir gehen weiter rüber zum Tisch. Dort sind Kerzengläser vorbereitet, die mit dem Namen der Mutter verzieht werden können, damit die Erinnerung zu Hause am Küchentisch weiterleuchtet. Am nächsten Tisch sitzt Thorsten. Er engagiert sich hier heute ehrenamtlich und schmiert den Menschen Brote. Bei diesen Broten geht es nicht bloß um den Hunger. Es geht auch um das, was Deine Seele braucht. Als wir an den Tisch kommen, lässt sich gerade eine Frau ein Brot machen. „Brauchen sie eine Prise Hoffnung? Dann hätte ich hier grüne Kresse… für Herausforderungen, die zu meistern sind, Chilikäse… Butter für das Altbewährte…“ Die Frau entscheidet sich für Chilikäse mit belebenden Gurken. „Soll ich es ihnen klappen?“ Sie antwortet: „Also meine Mutter hat es mir immer kleingeschnitten….“ Sorgsam beginnt er das Brot in mundgerechte Stücke zu schneiden.
Reden und Schweigen
„Bleiben Sie so lange hier, wie es Ihnen gut tut. Und wenn sie mögen, suchen sie sich doch am Ende noch ein paar Blumen aus für zu Hause“ sage ich zu den beiden Brüdern. Nachdem sie noch einen Moment in der Sonne standen, gehen sie in die Kapelle, schreiben sorgsam Worte auf die Tafeln in bunten Farben. Danach setzen sie sich hinten in der Kapelle auf eine Bank und beginnen flüsternd zu reden. Über eine Stunde später werden sie immer noch dort sein und reden und schweigen… und reden und schweigen.
Immer wieder kommen an diesem Tag Menschen auf dem kleinen Friedhof in Lohfelden bei Kassel an. Sie ist 75 und hat ihre Mutter schon als Kind verloren. Das tut heute noch weh. Die Mutter ihrer Ehefrau ist erst vor drei Jahren gestorben. Bis zum Ende hat das Paar sie zu Hause gepflegt und so vieles konnte noch gut werden in dieser letzten Zeit. Eine andere Frau, deren Mutter auf diesem Freidhof begraben liegt, steht mit ihrem Ehemann vor der Saxophonistin. „Schau mal, hier ist ja zufällig genau das Lieblingslied von Mama“. „Soll ich mit ihnen ans Grab kommen und es dort für sie spielen?“
Gemeinde auf Zeit
Es war eine ganz besondere Atmosphäre an diesem Muttertag auf dem kleinen Friedhof. Etwa 20 Menschen kamen und mein Eindruck war, dass sie etwas finden konnten von dem, was sie dort suchten. Die Begegnungen mit diesen Menschen haben die Ehrenamtlichen, meine Kollegin Alina Ehrhardt-Niebeling und mich sehr angerührt. Was da geschehen ist, führt mir vor Augen, dass Trauern nicht nur ein geistiger Prozess ist, sondern dass es dabei auch um eine Praxis geht im ganz konkreten Sinne. Etwas mit den Händen tun und dem Ausdruck verleihen, wofür vielleicht kaum Worte da sind. Es war bewegend, wie die Menschen zwischen Chilikäse und Gläser-Bemalen ihre großen und kleinen Geschichte erzählt haben.
Eine ganz besondere Form von Gemeinde auf Zeit ist entstanden, die da unter der Friedhofssonne einige Stunden miteinander unterwegs war. Eine Gemeinde, in der jede und jeder Nähe und Distanz für sich so wählen konnte, wie es gut tat. Eine meiner Lieblingsszenen dieses Tages war, als ich vier Menschen, die sich zuvor nicht kannten, miteinander auf einer Bank sitzen sah und hörte wie sie miteinander sprachen. Über ihre Mütter erzählten sie, über Trauer und über das Leben.
Drei Tafeln
Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir wünschen, dass am 10. Mai 2026 an ganz vielen Orten „Muttertag zwischen Himmel und Erde“ gefeiert wird. Ich wünsche mir, dass auf kleinen und großen Friedhöfen Kirchenmenschen stehen, die liebevoll den Raum bereiten für alle, denen diese Räume gut tun.
Als wir an diesem Tag alles aufgeräumt hatten, sind es die drei großen Tafeln, die ich zuletzt in mein Auto lade. Einen Augenblick stehe ich noch davor und lese von all dem, was nicht vergessen werden soll: Ihre bedingungslose Liebe, ihre Weisheit in der Demenz, ihr unwiderstehlicher Humor… Sie hat wie ein Löwe für mich gekämpft, für Gerechtigkeit… Gespräche mit ihr… den Tag, an dem wir aus Versehen vergessen haben zu bezahlen… ihre Umarmungen… ihre Kraft, ihre Wärme, ihren Krauttopf…Milde und Versöhnlichkeit im Zeichen des Todes…
Katharina Scholl
Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.