Ohne Angst und im Frieden

Beobachtungen aus drei Wochen und drei Welten

Donnerstag, 8. Mai 2025, 18:15 britischer Zeit. Ich sitze im Flugzeug, bin auf der Rückreise von einem Besuch in Oxford. Glücklicherweise kann man inzwischen in Flugzeugen eine Internet-Verbindung kaufen. Denn kurz vor dem Abflug in London-Heathrow erschien auf dem Handy-Schirm die Meldung: „Weißer Rauch steigt auf“. Es ist also soweit. Habemus papam. Aber es dauert noch eine ganze Weile, bis der Kardinaldiakon auf den mittleren Balkon der Loggia in der Fassade der stadtrömischen Peterskirche tritt und in das Mikrofon hinein der ganzen Welt die Wahl von Kardinal Prevost, der sich Leo XIV. nennt, ankündigt. Ein Augustiner. Genauer: ein Augustiner aus dem Orden, dem einst auch Martin Luther angehörte. Der Leiter der Personalabteilung des Vatikans für die weltweiten Bischöfe, offiziell: „Präfekt des Dikasteriums der Bischöfe“. Vor diesem Auftritt marschierte die Schweizergarde auf, eine Militärkapelle, aber auch Carabinieri in Paradeuniform. Auf den übrigen Balkonen hat das Kardinalkollegium Aufstellung genommen: Der Papst wird gleich auf den mittleren Balkon gleichsam unter seine Kardinäle treten. 

Und dann tritt er auf den Balkon und nimmt den Jubel der Menge entgegen. Minutenlang. Seine längere Rede, die dann folgt, liest er von einem Manuskript ab. Einige Stichworte wiederholen sich, die sind ihm offenbar wichtig: „Ohne Angst“, diesen Wunsch, diese Hoffnung, diese Verheißung verwendet er mehrfach. Und auch das Stichwort „Friede“ spielt eine zentrale Rolle, der gewaltfreie Friede Jesu Christi ist gemeint, aber doch auch die Hoffnung auf Frieden in dieser Welt. Seine Biographie spielt ebenfalls eine Rolle: Mehrfach betont er, dass das christliche Leben ein Weg ist, den wir gehen, „um als Missionare tätig sein“ – Leo war zeitweilig Missionar in Peru. Und natürlich geht er auch auf seinen Ordensheiligen ein, auf Augustinus und zitiert einen zentralen Satz, der das Selbstverständnis dieses spätantiken nordafrikanischen Theologen gut umschreibt: „Mit euch bin ich Christ, für euch bin ich Bischof“. 

Mit einem eindrücklichen Bild für die Menge auf dem Petersplatz vergleicht er die Kirche Jesu Christi mit diesem architektonischen Höhepunkt des Barock: So wie die Kolonanden Berninis sich einladend öffnen, soll die Kirche alle mit offenen Armen empfangen. Offenbar liegt diesem neuen Papst an einer synodalen und caritativen Kirche. Seine Rede schließt mit dem Gebet Ave Maria. Ganz zum Schluss spricht der neue Papst erstmals, wie es sich gehört, den apostolischen Segen urbi et orbi, für die Stadt Rom und den ganzen Erdkreis. Zum ersten Mal in meinem Leben und ausgerechnet im Flugzeug höre ich ihn ganz und nicht nur wie alle Jahre zu Ostern und Weihnachten nur die Schlussformel, die das Fernsehen gewöhnlich überträgt. Bereits in der Ankündigung wird gesagt, dass alle, die diesen Segen guten Willens auf dem Platz mit den Kolonanden, im Radio und im Internet anhören, einen vollständigen Ablass erhalten. Diese Funktion des apostolischen, eigentlich dem Papst vorbehaltenen Segens war mir – wie ich zu meiner Schande gestehen muss – bisher gar nicht deutlich. So hätte ich nach dem Durchschreiten der Heiligen Pforte zur Peterskirche vor rund vier Wochen schon den zweiten Plenarablass in diesem Jahr bekommen – wenn ich denn daran glauben würde und guten Willens wäre. Man kann offenbar aus dem Orden Martin Luthers stammen und trotzdem dessen schroffe Kritik an Praxis und Theologie des Ablasses nicht so verinnerlicht haben, wie ich das seit Studienzeiten getan habe.

Entängstigender Kirchentag

Donnerstag, 1. Mai 2025, 22:00 deutsche Zeit. Ich laufe in Hannover zurück zum Hotel am Bahnhof, ich komme von einem der Kirchentagsempfänge der politischen Parteien in einem Hotel am Maschsee, einem künstlichen, im Rahmen von nationalsozialistischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts errichteten Binnensee in der niedersächsischen Landeshauptstadt. Durch den Park weht Musik und Gesang, nichts Ungewöhnliches für einen Deutschen Evangelischen Kirchentag. Ich laufe der Musik und dem Singen entgegen. Und erreiche das prächtige und voluminöse Neue Rathaus, ein dunkler Schatten im klaren, hellen Nachthimmel. Vor dem Rathaus stehen unzählige Menschenmassen, mit Kerzen in der Hand. Pappscheiben an den Kerzen verhindern, dass Wachs auf die Hände tropft. Das kenne ich von katholischen Osternachtgottesdiensten, hier hat jemand mitgedacht. 

Viele, viele tausend Menschen singen „Der Mond ist aufgegangen“. Ich habe Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Obwohl ich eigentlich fast die ganze Andacht wegen der guten Gespräche auf dem Empfang verpasst habe: „Nachtsegen. Tagesausklang. Kerzenmeer“. So steht das im Programm. Ich war mehr durch Zufall hineingeraten, wie gesagt auf dem Rückweg ins Hotel. Als das wunderbare Lied von Matthias Claudius mit seinen wunderbaren Formulierungen wie der vom „kranken Nachbarn auch“ verklungen ist, will eigentlich niemand die Kerze ausblasen und fortgehen. Irgendjemand stimmt einen der Taizé-Gesänge an. Wieder singen viele mit. 

So wie den Schluss des Nachtsegens habe ich eigentlich den ganzen Kirchentag erlebt. Eine große Ermutigung gegen die Angst. Und Angst kann einem ja gegenwärtig sehr Vieles machen. Viele Menschen haben viel Angst. „Ohne Angst“ war auch da in Hannover vor dem Neuen Rathaus beim Nachtsegen ein wichtiges Stichwort, eine Art heimliches Zusatzmotto zu „Mutig, stark, beherzt“, dem offiziellen Kirchentagsmotto nach 1. Korinther 16,13-14. Ohne Angst: Das war in Hannover auf dem Platz vor dem Rathaus genauso wichtig wie beim Papst auf dem Petersplatz in Rom. Wieder hörten tausende von Menschen dieser Aufforderung zu, die Angst hinter sich zu lassen. Und solche Aufrufe hörte man nicht nur beim Nachtsegen. Es war in Hannover ein wunderschöner, entängstigender Kirchentag, bis hin zum Schlussgottesdienst und der Predigt der aus Deutschland stammenden amerikanischen Professorin Hanna Reichel in diesem Gottesdienst. Frau Reichel lehrt in Princeton und bekommt vermutlich wie alle amerikanischen Professorinnen und Professoren gegenwärtig viel mit, was Angst machen kann. Aber sie klagte nicht, sondern machte Mut gegen die Angst.

Zuversichtlicher Patriarch

Donnerstag, 24. April 2025, 9:00 türkische Zeit. Seine Allheiligkeit, der griechische Patriarch von Konstantinopel, betritt den elegant renovierten Raum einer ehemaligen griechischen Schule in Istanbul. Der ältere Herr namens Bartholomäus schaut grundgütig in die Runde der zu einem Kongress anlässlich des Jubiläums des ersten Ökumenischen Konzils von Nicaea und seines Glaubensbekenntnisses versammelten Professorinnen und Professoren aus aller Herren Länder, die gespannt auf sein Grußwort zur Eröffnung der Tagung warten. Ein Diakon reicht ihm die Mappe mit dem Manuskript. Der Patriarch strahlt konzentrierte Ruhe aus und man spürt nicht, dass er in einer Stadt lebt, in der für Christenmenschen, allzumal griechischer Abstammung, nicht sehr einfach zu leben ist. 

Wenige Beispiele: Die Theologische Hochschule des Patriarchats wurde vom türkischen Staat geschlossen, ob und wie sie wiedereröffnet wird, steht in den Sternen. Bis vor kurzem durften orthodoxe Geistliche (wie auch muslimische Imame) nicht in ihrer geistlichen Gewandung auf die Straße gehen, das war seit Kemal Atatürks Zeiten verboten. Inzwischen weicht aber unter dem jetzigen Präsidenten der strenge Laizismus der Verfassung Atatürks einer eher aggressiven Re-Islamisierung des öffentlichen Lebens. Muslimische Geistliche tragen schon wieder geistliche Gewandung, griechisch-orthodoxe verzichten aus prinzipiellen Gründen nach wie vor darauf, außer dem Patriarchen. In der englischen Übersetzung des präsidialen Dekrets, das die Rückverwandlung der Hagia Sophia von einem Museum in eine Moschee angeordnet hat, fällt das Wort „Rückeroberung“. 

Ob der Patriarch wohl jemals diesen Ort besucht hat? Bartholomäus strahlt nicht nur bei seinem Grußwort zu Beginn des Kongresses Zuversicht aus. Im anschließenden Privatgespräch am Mittagstisch sagt er auch ganz direkt, dass er keine Angst hat. Weder vor einer Verschärfung der politischen Lage noch vor der Klimakatastrophe, die ihn sehr beschäftigt. Er glaubt als Patriarch des Ostens wie der Patriarch des Westens, der Papst, dass das Christentum die Kraft schenkt, die Angst hinter sich zu lassen und seinen Weg mutig, stark und beherzt zu gehen. Und auch diesen Ort, das griechisch-orthodoxe Patriarchat in Istanbul, habe ich, wie dann in der Woche darauf den Kirchentag, gestärkt und ermutigt verlassen. Wenn schon diese kleine griechisch-orthodoxe Minderheitsgemeinde in Istanbul so beherzt ihren Weg geht, so offen für andere Christenmenschen aus vielen anderen Ländern, wie sollte ich mich dann in einem Land ängstigen, in dem doch so Vieles einfacher und besser funktioniert? 

Die Angst verlernen

Darf man drei so verschiedene Ereignisse in einer Kolumne zusammenbringen? Zwei Bischöfe und eine dezidierte Laienbewegung? Ein eigentlich römisch-katholisches, ein evangelisches und ein griechisch-orthodoxes Ereignis? Trennen uns nicht doch manche Dinge von der einen wie der anderen Schwesterkonfession? Frauenordination und Plenarablass? Da war doch etwas … 

Und trotzdem: Mir ist in den letzten Wochen wieder einmal aufgefallen, wie viel uns verbindet. Und wie wichtig das, was uns verbindet, in gegenwärtigen Zeiten ist. Nochmals: Viele Menschen haben Angst vor Vielem. Viele Menschen haben Grund, viel Angst zu haben. Kirche Jesu Christi ist der Raum, wo man gemeinsam mit anderen die Angst loswerden kann. Frischen Mut bekommt, Stärke wiederfindet und lernt, beherzt sich auf den Weg in die Zukunft zu machen. Die Formen, in denen diese Kraft ausgeteilt wird, sind sehr verschieden: Bei den einen predigt einer die Kraft gegen die Angst vom Balkon vor Tausenden, bei den anderen gibt ein anderer sie still lächelnd zwölf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern weiter, die um Tische in Hufeisenform bei einem Kongress sitzen, und wieder andere geben sie beim Singen eines schon ziemlich alten und doch immer ganz neuen wie aktuellen Liedes weiter.

In der Kirche kann man in allen Konfessionen und in sehr verschiedenen Formen die Angst verlernen in einer Welt, die einem eigentlich gehörig Angst machen kann. Das habe ich in den letzten Wochen am eigenen Leibe erfahren können. Für diese Vielfalt der Entängstigungen in der Kirche Jesu Christi bin ich von Herzen dankbar. Ein wunderschönes Frühjahr, in dem das dreimal so intensiv erleben durfte!

 

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