Die Stunde Europas

Und die evangelische Kirche? Schaut angestrengt weg.
Aufrüstung - Abrüstung? Was tun?
Aufrüstung - Abrüstung? Was tun?

Der ehemalige evangelische Militärdekan Hartwig von Schubert warnt in seinem Beitrag vor einem sorglosen Pazifismus, der die Notwendigkeit umfangreicher militärischer Stärkung und Reorganisation Europas nicht sieht. Er kritisiert die – im Gegensatz zur katholischen Deutschen Bischofskonferenz – bisher stockende und uneindeutige Positionierung der EKD zur Friedensfrage angesichts der Bedrohung durch Russland.

Am 24. Februar 2022 eröffnete Russland mit dem Einmarsch in die Ukraine seinen Westfeldzug. Der „Blitzkrieg“ endete im Fiasko. Der Kreml hat deshalb aber nicht aufgeben, er zieht seine Lehren daraus und wird voraussichtlich noch in diesem Jahr mit weiteren Operationen in Richtung Westen vorstoßen. Er ist dazu gezwungen, da sich das Fenster der Gelegenheit andernfalls wieder schließt.

Die Chancen stehen derzeit sogar gut. Am 28. Februar 2025 wurde der ukrainische Präsident im Oval Office in einer beispiellosen Inszenierung öffentlich gedemütigt. Fünf Wochen später, am 2. April 2025, erklärte der US-Präsident dem Rest der Welt den offenen Handelskrieg, inzwischen um 90 Tage verzögert, aber in der Grundintention unmissverständlich klar. Nur wer sich seiner Schutzgelderpressung beuge und pünktlich zahle, dürfe künftig auf den Beistand der Supermacht hoffen. Der Westen ist vorerst Geschichte.

Nicht Russland ist der Feind, sondern der Krieg. Wenn der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius von der Bundeswehr fordert, kriegstüchtig zu werden, so meint er damit selbstverständlich nicht tüchtig zum Krieg, sondern tüchtig gegen den Krieg. Kann man denn Krieg mit Krieg bekämpfen? Nein, so wenig wie Krankheit mit Krankheit. Die Krankheit muss bekämpft werden und nicht der Arzt, der die bittere Diagnose stellt, und schon gar nicht die Therapie, auch wenn sie schmerzhaft ist. Gewiss ist gerade beim Einsatz militärischer Mittel immer die Verhältnismäßigkeit zu wahren. Aber das kümmert Bellizisten wenig, sie führen Krieg um des Krieges willen, weil sie sich von ihm ernähren. Wahre Pazifisten verteidigen den Frieden.

Loyalität zum militärisch-technologischen Komplex

Es geht für die Länder Europas nicht nur darum, den Vasallenstatus von Zwergstaaten abzulegen. Europäer vom Atlantik bis an den Ural sollen sich vielmehr mit dem Krieg nicht abfinden und ihm kein Millimeter weit Raum gewähren. Diese Entscheidung haben die Westmitteleuropäer zusammen mit weiteren einst „westlichen“ Staaten seit 1945, also für nunmehr 80 Jahre de facto an die jeweiligen Regime oder Administrationen in Moskau oder Washington abgetreten. Diese Epoche dürfte seit jenem Eklat im Weißen Haus endgültig vorbei sein. Wenn wir Europäer dem Krieg auf unserem Kontinent nicht entschlossen entgegentreten, wird es niemand tun. Deshalb empfiehlt sich für uns eine kritische und verlässliche Loyalität zu unseren Bürgerarmeen und sogar zu dem vielgescholtenen militärisch-technologischen Komplex, sprich zur europäischen Rüstungsindustrie. Der noch amtierende Bundestag hat kurz vor Toresschluss noch Entscheidungen in diesem Sinne getroffen. Die EU hat ein neues Weißbuch vorgelegt. Europäische Armeen müssen ihre Abschreckungsfähigkeiten durch eine Kombination aus konventioneller Aufrüstung, nuklear flexibel ausgestalteter Sicherheitsgarantie und strategischer Unterstützung der Ukraine zügig in die eigenen Hände nehmen. 

Um nur den ersten Punkt herauszugreifen: NATO-Verbündete haben bereits die Zahl ihrer Kampfgruppen an der Ostflanke verdoppelt und üben die Eskalation zu Brigadestärke. Investitionen in High-Tech-Systeme wie Drohnen, Raketenabwehr und langfristig Fünfte-Generation-Kampfflugzeuge werden entscheidend sein, um Angriffe abzuwehren. Die Gefahr des Krieges droht aber jetzt. Die EU plant die Lieferung von zwei Millionen Artilleriegranaten noch bis Ende 2025 an die Ukraine. Europa benötigt schnellstmöglich mindestens 300.000 zusätzliche Soldaten, um die fragmentierten nationalen Streitkräfte zu kompensieren. Ohne diese Aufstockung könnte eine russische Offensive in den baltischen Staaten nicht abgewehrt werden. Gemeinsame militärische Übungen und die Integration von Kommandostrukturen sind entscheidend. Die für September geplanten russisch-weißrussischen Zapad-2025-Manöver unterstreichen die Dringlichkeit. Ein glaubwürdiges Abschreckungspotenzial erfordert 1.400 Panzer, 2.000 Schützenpanzer und 700 Artilleriegeschütze. Diese Kapazitäten übersteigen derzeit die kombinierten Bestände Frankreichs, Deutschlands, Italiens und Großbritanniens. 

Der ReArm Europe Plan/Readiness 2030 soll die europäische Rüstungsindustrie durch Subventionen und Kredite stärken. Der European Defence Fund (EDF) finanziert mit 1,065 Milliarden Euro-kooperative Forschungsprojekte. Die EU lockert die Haushaltsregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts, um Mitgliedstaaten zu ermöglichen, bis zu 1,5 % ihres BIP für Verteidigung auszugeben. Die EU-Kommission drängt aufkonkrete Beschlüsse bis Mitte 2025. 

Waffenstillstand absichern

Gewiss muss verhindert werden, dass die Rüstungsindustrie die dramatische Lage ausnutzt. Aber: Europäische Truppen sollen einen Waffenstillstand in der Ukraine absichern, eine Koalition der Willigen hat entsprechende Planungen weit vorangetrieben. Schaffen sie das dort nicht in den nächsten Monaten, werden sie einen Waffenstillstand – ohne US-Truppen – möglicherweise sehr viel schneller als gedacht an den baltischen und polnischen Westgrenzen absichern müssen.

Wer allerdings wie der Friedensbeauftragte der EKD in seiner offiziellen Stellungnahme vom 11. März 2025 den hier in gebotener Knappheit ausgebreiteten zeithistorischen Kontext auch jetzt noch völlig unerwähnt lässt, zeigt, dass er es mit dem Frieden und seiner umfassenden Verteidigung nicht wirklich ernst meint. Ganz anders dagegen die katholische Kirche. Die Deutsche Bischofskonferenz hat anlässlich des Krieges im Februar 2024 unter dem Titel „Friede diesem Haus“ ein ausführliches Hirtenwort vorgestellt und thematisiert darin die weitreichenden Folgen des Krieges, insbesondere für die europäische Friedensordnung, das Völkerrecht und die Prinzipien einer menschenrechtsbasierten Demokratie. Sie ruft dazu auf, sich für einen gerechten Frieden einzusetzen und die Todesmächte klar zu benennen, die diesen Frieden bedrohen. 

Die EKD dagegen hat es bis heute nicht geschafft, sich offiziell und vergleichbar ausführlich zum russischen Angriffskrieg zu äußern. Ihre Vertreter setzen in ihren verstreuten Äußerungen auf eine Kombination aus klarer Verurteilung des Krieges, Unterstützung der Ukraine und ihrer Geflüchteten sowie Gebeten und Forderungen nach diplomatischen Bemühungen für eine friedliche Lösung des Konflikts. Anders als noch in der Friedensdenkschrift von 2007 aber gibt es kein Wort zur Bundeswehr, zur europäischen Gesamtverteidigung, zur Ethik rechtsherhaltender Gewalt. Das ist im dritten Jahr eines großen Landkrieges zwei Tagesreisen östlich von Berlin ein politisch-ethischer Totalausfall. 

Wortreich verurteilt

Der gerade begonnene Deutsche Evangelische Kirchentag in Hannover wird sich zwar intensiv mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auseinandersetzen. Die Kirchentagspräsidentin Anja Siegesmund hat bereits betont, der Kirchentag werde weiterhin an der Seite der Ukraine stehen. Es ist auch zu erwarten, dass der Kirchentag die Unterstützung für die ukrainische Bevölkerung und Geflüchtete thematisieren und humanitäre Hilfe fördern wird. Es wird sogar Diskussionen über gerechte Friedenslösungen geben, bei denen die Existenz und Identität der Ukraine nicht infrage gestellt werden dürfen. Der russische Angriffskrieg wird wortreich verurteilt werden, Friedensgebete und -demonstrationen werden ein Zeichen gegen Krieg und Gewalt setzen. Von der Notwendigkeit jedoch, in dramatisch kurzer Zeit die menschenrechtsethische und völkerrechtlich gebotene Schutzverpflichtung europäischer Staaten gegen die Gefahr eines großen Krieges glaubwürdig zu erfüllen, im Programm kein Wort. 

Bei einem mit Experten für Sicherheitspolitik besetztes Podium soll es nicht um Europa, geschweige denn um den Krieg im Osten gehen, sondern um eine angebliche „Deutsche Zerrissenheit“ (Halle 2 Messegelände am Freitag von 11:00 -12:30 Uhr). Gespannt sein darf man auf das Hauptpodium am Samstag von 15:00-17:00 Uhr, auf dem unter anderen Janusz Reiter, ehemaliger polnischer Botschafter in Deutschland und den USA, und der Abteilungsleiter Rüstung im Bundesministerium der Verteidigung Vizeadmiral Carsten Stawitzki sprechen werden. Ob deren Botschaften die Debatte in der EKD beeinflussen werden, ist kaum zu erwarten. Die geplante Ökumenische Friedenssynode am heutigen 1. Mai 2025 soll sich bislang eher mit der Ablehnung von Militarisierung beschäftigen. Themen wie „Sicherheit neu denken“ und „Europa ohne Mittelstreckenraketen“ stehen im Mittelpunkt, von ReArm Europe dagegen kein Wort. Angestrengter kann man nicht wegschauen.

Europa hat seit 1945 darauf verzichtet, sein Schicksal politisch, und das heißt, notfalls auch militärisch, selbst zu bestimmen. Nun ist die Stunde Europas. Die Menschen unseres kleinen Kontinents und selbstverständlich auch die in unseren Nachbarregionen in Afrika und dem Nahen Osten  sind es wert, beschützt und nicht von eurasischen oder nordamerikanischen Imperien kolonisiert zu werden. Ich sage „Europäer aller Länder vereinigt euch, und zwar in selbstverständlich kritischer Solidarität auch hinter euren Soldaten und Soldatinnen, euren Politikern, Diplomaten und GO’s und NGO‘s und auch hinter euren Ingenieurinnen und Ingenieuren“. Auch in Deutschland haben Parteien Zulauf, die Europa wieder in Einflusszonen aufteilen und seinen Feinden ausliefern wollen. Patrioten sind das nicht. Patrioten aller Länder erkennen die Gefahr des Krieges und stellen sich ihm entschlossen entgegen!

 

Zum Themenfeld „Krieg und Frieden“ hat der Autor in den letzten Jahren umfangreich publiziert:

  •  (2021): Nieder mit dem Krieg. Eine Ethik politischer Gewalt, Leipzig: EVA (Habilitationsschrift).
  •  (2024): Den Frieden verteidigen (Teil einer Trilogie zusammen mit: Beuker, Pascal (2024) Pazifismus – ein Irrweg? und Hippler, Jochen (2024) Logik und Schrecken des Krieges), Stuttgart: Kohlhammer
  •  (2024) »Intelligente« Waffensysteme als ethisches ProblemWie das Recht bewaffneter Konflikte in die Algorithmen kommt, in: ZEE 68/2024/2, 119-136.
  •  (2025): „Blut, Schweiß und Tränen“ ... allein schon, weil die bürgerliche Revolution niemals aufhören wird, in: Alexander Dietz, Hermann Diebel-Fischer (2025, Hrsg.) Umstrittene allgemeine Dienstpflicht (LLG 46), Berlin: Lit Verlag, 117-137.

 (2025): Europa – allein zu Haus? Die europäische Rüstungspolitik im Licht ethischer Urteilsbildung, in: Maximilian Schell/ Reiner Anselm/ Friederike Krippner (2025, Hrsg.), Gerechter Frieden auf dem Prüfstand. Ein Lesebuch zu gegenwärtigen Suchprozessen evangelischer Friedensethik, Leipzig: EVA (in Vorbereitung).

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Foto: privat

Hartwig von Schubert

Dr. Hartwig von Schubert ist evangelischer Theologe und emeritierter Pastor der Evangelischen Kirche in Norddeutschland. Er lehrt als Privatdozent an der Universität Hamburg am Fachbereich Evangelische Theologie der Fakultät für Geisteswissenschaften und ist Senior Research Fellow am German Institute for Defence and Strategic Studies. Von 2004 bis 2019 war er als Militärdekan tätig an der Führungsakademie der Bundeswehr.

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